19 | Bamars Traum | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

19 | Bamars Traum

Yelda
November 16, 2010

Tatsächlich fanden wir den Proviant bald wieder, die Zweige einer ausladenden Weide hatten ihn vor dem Weitertreiben bewahrt. Antejars Boot fanden wir am folgenden Tag, angespült auf einer Sandbank, die mitten im Fluss lag. Antejar schwamm hinüber und brachte es an unser Ufer. Wir setzten die Reise nach Tharb im Boot fort und erreichten die Stadt nach zwei Tagen Fahrt.

Bamar und Baneh waren jung, wie ich erfuhr. Zusammen erreichten sie nicht Antejars Alter. Seit ihrer Kindheit hatte sich Baneh um Bamar gekümmert, seit jeher war Bamar ein Träumer gewesen, unfähig, auf sich selbst zu achten. Baneh liebte seinen Bruder sehr, auch wenn er ihn nie wirklich verstand. Vor allem aber seine Träume machten ihm Angst. Sie machten uns allen Angst.
Seitdem das Boot gekentert war, fuhr Antejar nicht mehr nachts, so dass wir an Land schlafen konnten. Meistens blieb Baneh wach, so dass er es auch war, der Bamars Traum als erster wahrnahm.
„Bamar“, flüsterte er, „Bamar, wach auf, Du hast einen schlimmen Traum. Bamar.“
Doch Bamar wachte nicht auf, also schüttelte ihn Baneh ohne Erfolg, bis Bamar anfing lauter zu sprechen und unverständliches zu rufen.
„Bamar, sei ruhig. Du weckst noch die anderen.“
„Zu spät Junge“, brummte Antejar, und auch ich war bereits wach geworden.
„Was ist los?“
„Bamar träumt. Er will aber nicht aufwachen. Es ist kein guter Traum.“
„Dann lass ihn Träumen, Junge. So schlimm scheint er ihm nicht zu bekommen, wenn er nicht aufwachen will.“
„Ich glaube, er kann nicht.“
Ich ging hinüber zu den beiden. Bamar sah wirklich nicht aus, als wäre sein Traum angenehm. Die Muskeln in seinem Gesicht waren angespannt und die Hände zu Fäusten verkrampft. Ich nahm eine seiner Hände und spürte das Zittern seiner Muskeln. Als ich seine Faust aufbog, sah ich, wie sich seine Fingernägel in die Handfläche gegraben hatten, sie hatten dunkelrote Halbkreise hinterlassen. Ich legte ihm Bamar meine freie Hand auf die Stirn, um ihn zu besänftigen, doch dann blitzte ein Bild in meinem Bewusstsein auf. Ich schrak zurück und brach die Verbindung zwischen Bamars Haut und meiner Hand. Die Vision war verschwunden, doch Bamar wälzte sich immer noch wimmernd auf dem Boden.
Baneh, der meine Reaktion bemerkt hatte, sagte: „Was ist los? Ist etwas nicht in Ordnung?“
„Ich weiß nicht. Ich habe etwas gesehen. Ich weiß nicht was?“
„Hast Du gesehen, was ihm Angst macht? Konntest Du seinen Traum sehen?“
„Ich glaube ja. Ich habe etwas Leuchtendes in großer Dunkelheit gesehen, und diese Dunkelheit näherte sich diesem Leuchten, als würde es gerufen.“
„Wird Bamar verschlungen?“
„Nein, ich glaube nicht, dass er es ist“, sagte ich zögernd.
„Können wir ihn dann nicht einfach träumen lassen?“ Antejar klang nicht mehr schläfrig.
„Ich glaube nicht.“ Ich hatte die Befürchtung, den Ursprung der Dunkelheit zu kennen, und auch, was es bedeuten könnte, hätte sie Bamars Geist erreicht. „Irgendwie müssen wir ihn wecken.“ Ich hatte kaum ausgeprochen, als Antejar schon an meiner Seite stand und Wasser aus einem Beutel in Bamars Gesicht spritzte. Baneh und ich sahen ihn an, und Baneh sagte: „Ich glaube nicht, dass das wirkt.“
„Hätte ja sein können“ grummelte Antejar.
„Ich glaube, ich kann ihm helfen.“
„Wie? Was wirst Du tun?“
„Ich weiß nicht genau, wie ich es tun werde, aber ich werde versuchen, seinen Geist davon zu überzeugen, den Traum loszulassen.“
„Das kannst Du?“
„Vielleicht. Vielleicht bringe ich uns alle damit in größere Gefahr, als wir durch Bamars Traum jetzt schon sind, aber wenn ich es nicht wenigstens versuche, dann könnte Bamar sterben. Und vielleicht wäre er nicht der einzige.“
„Wir sind in Gefahr, weil der Junge träumt? Wieso das denn?“
„Ich kann es nicht erklären. Noch nicht. Ich glaube, mir bleibt nicht viel Zeit.“
Ich wartete nicht darauf, dass Baneh oder Antejar etwas sagten, sondern legte Bamar meine Hand auf die Stirn.

Diesmal wusste ich, was passieren konnte, und zuckte nicht zurück, als mein Bewusstsein von dem leuchtenden Punkt in der wallenden Dunkelheit angezogen wurde. Ich fühlte, ich kam näher, und je näher ich kam, desto besser konnte ich erkennen, was das Leuchten verursachte. Es war ein Kind, Bamar, weit jünger als jetzt, und er hielt einen Gegenstand fest. Tatsächlich war es nicht der Junge, der leuchtete, sondern der Gegenstand, der sein Licht durch den Körper des Kindes hindurchstrahlte.
„Bamar“, sagte ich, und tatsächlich blickte der Junge von dem schimmernden Gegenstand auf, der sein Gesicht fahl leuchten ließ.
„Yelda. Du bist hier.“
„Wir sollten nicht hier sein.“
„Das Dunkel kommt.“
„Ja. Darum müssen wir fort.“
„Nein. Wir müssen bleiben.“
„Aber wird uns das Dunkel nicht verschlingen?“
„Vielleicht.“
„Was passiert, wenn uns das Dunkel in Deinem Traum verschlingt?“
„Es ist kein Traum. Es ist die Wirklichkeit. Schau.“ Und er hielt mir die leuchtende Kugel so, dass ich hineinsehen konnte. Ich sah mich, über einen Körper gebeugt, neben mir Antejar und Baneh.
„Warum sind wir hier?“
„Ich habe Dich gerufen.“
„Du hast mich gerufen? Warum?“
„Damit Du die Wahrheit erkennst. Damit Du erkennst, dass Du Dich nicht verstecken kannst.“
„Was meinst Du?“ Plötzlich schien Mitleid nicht das Gefühl zu sein, das ich Bamar entgegenbringen wollte. Im Gegenteil machte er mir Angst, und ich war mir nicht sicher, ob es eine weise Entscheidung gewesen war, mich den Männern anzuschließen.
„Ich weiß, dass Du Angst vor dem Dunkel hast. Aber Du kannst nicht verhindern, dass es Dir folgt. Wenn Du immer davonläufst, wirst Du nie gewinnen können.“
„Ich weiß nicht, was ich gewinnen oder verlieren werde. Ich weiß nicht, wovon Du sprichst.““
„Natürlich weißt Du es nicht, denn Du willst nicht sehen.“ Er hob den Blick von der Kugel in seiner Hand und wandte mir sein Gesicht zu, das ich bisher nicht hatte erkennen können. Seine Augenhöhlen waren leer, die Löcher, wo einmal seine Augen gesessen hatten, waren blutverkrustet und schwarz. „Glaub mir, nicht sehen zu wollen, kann schlimme Folgen haben.“
„Was ist mit Dir geschehen?“
„Das ist nicht wichtig.“ Er drehte seinen Kopf wieder zurück, als wolle er erneut in die leuchtende Kugel sehen. „Was zählt ist, dass Du lernen musst, Deine Augen zu öffnen.“
„Du bist nicht Bamar.“
„Und doch ist er Herr über sich selbst.“
„Sind wir in seinem Geist?“
„Wir sind in der Welt hinter der Wirklichkeit. Bamars Geist hütet ein Tor dorthin. Wir schaden ihm nicht, wenn wir hier sind.“
„Wie kann es sein, dass er ein Tor ist? Er ist ein Mensch!“
„Sein Geist wandert zwischen so vielen Möglichkeiten, er kann nicht ahnen, dass er die Möglichkeit eines solchen Dunkels in sich trägt.“
„Wie kann ich ihm helfen?“
„Du bist nicht hier, um ihm zu helfen, noch wäre es möglich.“
„Kannst Du es?“
„Nein.“
„Dann sag mir wenigstens, wer Du bist.“
„Ich bin Teil der Welt hinter der Wirklichkeit. Wir haben uns nicht in dieser Zeit getroffen, und doch kenne ich Dich besser als Du Dich selbst.“ Er lachte leise, ein Lachen, das nicht zu dem Kind passen wollte, aus dessen Körper es kam. „Nicht dass das schwer wäre.“
„Du weißt, wer ich bin?“
„Ja.“
„Dann sag es mir.“
„Das kann ich nicht tun. Es ist Teil Deiner Geschichte, Teil Deines Wesens, es selbst zu erfahren. Alles, was ich Dir sagen würde, hinderte Dich daran, Deine Bestimmung zu erfüllen.“
„Was kann ich tun, um mehr über mich zu erfahren?“
„Du bist auf dem richtigen Weg. Du hattest die richtigen Lehrer. Du musst zwei Dinge noch lernen: Deine Kraft zu lenken und den Schatten, der Teil Deiner Kraft ist, nicht zu fürchten.“
„Aber wie sollte ich ihn nicht fürchten, wenn er alles auslöscht, das um mich ist?“
„Wenn Du den Schatten fürchtest, behält er seine Macht über Dich. Der Schatten überzieht die Welt mit Deiner Angst und löscht nur darum alles aus, was ist. Wenn Du dem Dunkel Macht gibst, wird es sie haben und benutzen.“
„Wird mir die Dunkelheit denn nicht schaden?“
„Sie ist kein eigenständiges Wesen, sie ist Teil Deiner Macht. Du trägst sie in Dir. Wenn sie über Dich kommt, wird sie Dir nicht Dein Selbst nehmen, aber sie nimmt Dir, worum Du fürchtest.“
„Warum gibt es sie?“
„Du kennst die Antwort. Bamar erwacht bald, wir haben nicht mehr viel Zeit.“
„Werden wir wieder miteinander sprechen?“
„Vielleicht. Diese Art der Kommunikation ist nicht ungefährlich, denn sie verrät Dich und mich. Momentan erwartet es noch niemand, darum brauchen wir hierfür keine Strafe zu erwarten.“
„Strafe?“
„Es gibt Unsrige, die Dich fürchten und vernichten wollen. Sie bestrafen auch jene, die Dir helfen wollen, wenn sie es herausfinden.“
„Sind darum Deine Augen verletzt?“
„Es spielt keine Rolle. Wichtig ist, dass wir uns in einem Krieg befinden, und alle Parteien das Schlachtfeld verlassen haben. Der Kampf tobt im Geheimen weiter und es scheint, als fiele Dir eine entscheidende Bedeutung zu.“
„Ein Krieg? Was bedeutet das?“
„Die Dunkelheit ist nicht alleine eine Sache der menschlichen Welt. Wir alle gewinnen und verlieren. Die Zeit ist vorbei. Du hast Freunde auf dieser Seite, geliebte Yelda, vergiss das nicht, Du bist nicht allein.“
„Was bedeutet das alles?“ rief ich, doch die Dunkelheit, die uns umgab, flutete über mich hinweg. Gleichzeitig wurde mir bewusst, dass jemand neben mir auf mich einredete, und ich drängte die verwirrenden Gedanken über das Gespräch in den Hintergrund, um mich mehr auf die Stimme zu konzentrieren, von der ich wusste, dass sie mich zurück an die Oberfläche meines Bewusstseins bringen würde und an das Ufer des Flusses. Und dann war ich dort.

Bamar war wach, sein Bruder hatte sich über ihn gebeugt und umarmte ihn. Antejar stand ein Stück abseits, er hatte ein Feuer entzündet, das Wärme und Licht spendete. Sein Schatten flackerte über den Fluss in seinem Rücken, sein Blick aber war auf Bamar und mich gerichtet. Noch immer hielt ich Bamars Hand, doch ich spürte, dass das Tor, das in seinen Gedanken gewesen war, nun geschlossen und nicht mehr erreichbar war.
„Baneh?“ Bamars Stimme klang anders, als ich sie bislang gehört hatte, so als sei er überrascht darüber, wo er war. Als sei er überrascht darüber, überhaupt am Leben oder wach zu sein. „Baneh? Wo sind wir? Was ist passiert? Wo sind die Bäume?“
„Welche Bäume meinst Du?“
„Bin ich denn nicht … Habe ich etwa geträumt?“
„Was hast Du geträumt?“
„Ich war hoch auf einem Baum, wir haben einander zu übertreffen versucht und ich war so weit nach oben gekommen wie noch nie zuvor, als der Ast unter mir brach und ich fiel. Ich fiel tiefer als der Baum hoch gewesen war.“
„Das war kein Traum, Bamar. Du bist gestürzt, wir dachten, Du wärst tot. Doch wie durch ein Wunder hatte Dein Körper kaum schaden genommen.“ Banehs Augen füllten sich mit Tränen und er hatte Schwierigkeiten weiterzusprechen. „Dein Verstand aber… Mutter sagte immer, die Götter hätten ihn bei sich behalten, bevor Du gefallen bist. Es sei… der Preis dafür, dass Du ihnen zu nah gekommen wärst.“
„Mutter… wo ist sie? Warum ist sie nicht hier?“
„Sie ist gestorben.“
„Was? Wann? Ich bin doch…“
„Dein Unfall ist acht Jahre her, Bamar. Wir waren noch Kinder und jetzt sind wir Männer. Mutter und Vater sind lange schon tot und begraben, wir beide sind fern unserer Heimat. Es ist acht Jahre her.“ Tränen strömten über seine Wangen und er umarmte seinen Bruder, der offensichtlich nicht glauben konnte, was er gerade gehört hatte.
„Wie kann das sein? Wie kann ich acht Jahre geschlafen haben?“
„Du hast nicht geschlafen“, sagte ich.
Bamar sah mich überrascht an, er hatte mich bisher nicht wahrgenommen. Jetzt aber sah er mich mit einem Ausdruck des Misstrauens an, als wollte er mich verantwortlich für seinen Gedächtnisverlust machen.
„Wer ist das?“ fragte er an Baneh gerichtet.
„Du kennst sie nicht?“
„Nein. Sollte ich sie kennen? Sie sieht anders aus als andere Menschen, habe ich recht?“
„Sie heißt Yelda. Und sie ist Deinetwegen hier. Du hast sie gerufen, bevor Du wieder aufgewacht bist. Ich glaube, sie hat Deinen Geist geheilt.“
„Was war vorher? Wie war ich?“
„Du hast Dich benommen wie ein vergessliches Kind. Ich hatte immer Angst um Dich. Ich kann nicht glauben, dass Du Dich daran nicht erinnern kannst.“
„Ich kann mich an vieles nicht erinnern. An unsere Kindheit habe ich Erinnerungen und an unsere Eltern, aber an alles seit meinem Sturz nicht mehr.“
„Ich werde es Dir erzählen.“
„Das wäre gut.“
Ich stand auf und ließ die beiden allein. Ich ging zu Antejar ans Feuer und sagte: „Wie auch immer die bisherige Reise mit ihm war, jetzt wird sie anders verlaufen.“
„Ich weiß nicht, was Du getan hast, Yelda, ich denke, es war gut. Niemand sollte so sehr in sich eingeschlossen sein, wie der Junge es war. Vielleicht hatte er so sehr Angst davor, auf dem Boden aufzuschlagen, dass sein Geist sich in ihm versteckt hat aus Angst, die Schmerzen zu spüren, die der Sturz verursacht hätte. Wie auch immer Du ihm diese Angst genommen hast, Du hast ihm einen sehr großen Gefallen getan.“
„Ich weiß nicht, was ich getan habe. Aber ich glaube, es ist umso wichtiger, dass ich in die Stadt komme und jemanden finde, der mir mehr über mich erzählen kann.“
„Wir werden die Stadt morgen erreichen, dann helfen wir Dir alle suchen. Es sollte nicht schwer sein, in Tharb jemanden zu finden, der Fragen beantworten kann.“
„Ich danke Dir. Darf ich Dir eine Frage stellen?“
„Natürlich.“
„Was ist Krieg?“

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