32 | Der Riss im Schild | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

32 | Der Riss im Schild

Yelda
November 30, 2010
Remde verfügte über mehr Macht, als ich gedacht hatte. Seine Zauber waren nur zu Beginn des Kampfes einfache Schläge gewesen, die selbst an meinem simplen Schild einfach abprallten. Ich spürte die Erschütterungen und auch die Macht, die nach unten in den Boden floss, wie das Wasser nach einem Regenguss einfach versickert. Doch nach und nach fühlte ich eine Veränderung in Remdes Schlägen, wie ein Gewitter, das sich zunächst nur durch Wind und leichten Regen angekündigt hat, nach und nach aufgeladener, kräftiger, aggressiver wird. Remdes Angriffe prallten nicht länger nur ab, sie knisterten über meinen Schild, überflossen ihn in alle Richtungen, als suchte Remde unter seinen Schlägen nach einer Schwachstelle in meiner Verteidigung. Mir wurde klar, dass Remde sehr viel erfahrenere Lehrer gehabt hatte als ich, und dass auch sie es gewesen sein mussten, die ihm zu der Finte der einfachen Angriffe geraten hatten. Das Ziel dahinter wurde mir klar: ich sollte, um einen langsamen Kampf zu vermeiden, Remde schnell, aber nicht tödlich überwinden oder es zumindest glauben, damit er mich dann im Nachgang noch besiegen könnte. Ich sollte meinen Schild für einen Angriff meinerseits fallen lassen. Dass ich es nicht getan hatte, erschien mir nun, da ich erkannte, wie gut er seine Kraft beherrschte, wie ein Segen.

„Sie haben Dich gut instruiert“, rief ich zwischen den Schlägen und hörte das Summen meines Schildes, das durch die darauf tanzenden Magieblitze erzeugt wurde.
„Ich wusste, Du würdest mich unterschätzen.“ Remde sah nicht angestrengt aus, als er gleichzeitig sprach und weiterhin seine Zauber auf mich warf. „So wie Du mich eigentlich ohnehin nie wirklich beachtet hast, wusste ich, dass Du mich auch diesmal nicht wirklich sehen würdest. Mir war klar, dass dies Deine größte Schwäche sein würde. Und es wird Dein Ende sein.“
„Also gibst Du es zu!“
„Dich töten zu wollen? Deine Kraft zu wollen? Natürlich gebe ich es zu.“ Er lachte. „Sie ist doch verschwendet bei Dir. Du verdienst nicht, was Du hast, Du weißt es ja nicht einmal richtig zu schätzen. Du weißt nicht, wie es ist, machtlos zu sein, schwach zu sein. Niemand, der so viel Kraft besitzt, sollte mit ihr so sparen, wie Du es tust.“
„Was sollte ich denn mit ihr machen?“
„Was denn nicht? Du könntest alles damit erreichen! Du könntest die Herrscherin über alle Menschen werden. Du kannst Reiche errichten und zerstören. Aber das weißt Du nicht, nicht wahr?“
„Was sollte das bringen? Was soll ich mit dem Leid von Menschen?“
„Du bist so edel. Kein Mensch, der über die Kraft verfügte, die Du besitzt, würde sich diese Frage stellen. Diese Kraft ist dazu geschaffen, dass man sie einsetzt.“
„Das ist nicht wahr!“ rief ich, doch am Rande meiner Wahrnehmung bemerkte ich etwas, ein Zittern in meinem Schild, eine Unregelmäßigkeit. Ich wollte meine Aufmerksamkeit dahin richten, doch dann lenkte mich Remde ab: „Du hast diese Kraft nicht verdient! Alles, was Du verdienst, ist der Tod!“
Ich war so schockiert von diesen Worten, die Remde, mein Remde, der mich gerettet hatte, und der mich geliebt hatte, aussprach und offensichtlich so meinte, dass ich einen Augenblick zu spät reagierte, und der Zauber, der knapp unterhalb meiner Wahrnehmung durch einen Spalt in meiner Verteidigung gedrungen war, mich treffen konnte. Ich wollte mich noch verteidigen, doch alles, was ich vermochte, war, die Kraft zu zerstreuen, die sich auf mich legte, und in meinen Geist eindrang. Mir wurde schlagartig klar, dass die ganzen ersten einfachen Angriffe, deren Kraft nur versickert war, in Wahrheit nur der erste Teil eines viel größeren Zaubers war, der mich jetzt zu überwältigen drohte. Ich spürte, wie ich später auch das Aufsteigen des Wassers unter dem Buchturm der Stillen Götter spürte, wie Remdes Kraft sich aus der Tiefe wieder nach oben arbeitete, wie ein steter Fluss aus Kraft durch den Spalt in meiner Verteidigung drang und von innen meinen Schild aufzubrechen drohte. Gleichzeitig überzog auch mich sein Zauber wie eine schillernde Haut, fesselte und lähmte mich und versuchte auch in meinen Geist einzudringen. Ich spürte Remdes Kraft auf meinem Wesen wie ich die Finger des Soldaten auf meinem Körper gefühlt hatte, doch ich wusste, dass ich diese Verletzung nicht würde heilen können, wenn ich sie zuließ. Ich wusste, dass Remde mir meine Kraft nehmen würde und nicht nur meinen Körper verletzen würde. Ich spürte seinen tastenden Geist und sah auf einmal die Bilder, die seine Erinnerung davon gemacht hatte, wie er Mandus Seele ausgeweidet hatte.

Mandu, die alte Frau, die eine der Jenseitigen gewesen war und die ihr Heil in der Flucht in die Wirklichkeit gesucht hatte. Ich sah noch weiter zurück, erkannte, was Remde in Mandu gesehen hatte, wie er sie schon lange vor meiner Ankunft im Dorf erst gefüchtet, dann bewundert, dann beneidet hatte, wie er in jungen Jahren einmal bei ihr gewesen war, als seine Schwester im Sterben lag. Sie, die weise Frau, die Uralte vom See, sollte helfen, und obwohl sie nicht gegen das Schicksal, das den Menschen auferlegt eingreifen konnte, so hatte sie es doch vermocht, die Familie ein letztes Mal zueinander zu führen und Remdes Schwester friedvoll einschlafen zu lassen. Remde war von Mandus Macht schon immer angezogen worden, wie ein Nachtfalter dem Mond zustrebt, und als dann später der Verlust Remdes Familie zerstörte, wünschte er sich oft, Mandus Macht zu haben und seine Schwester wieder zurückbringen zu können, damit seine Eltern sich nicht  über den Tod der Tochter gegenseitig zerstörten. Und so sah ich Remde in seiner eigenen Erinnerung am Ufer des Sees stehen und ins Dunkel über dem Wasser zu starren, doch all sein Flehen und seine Bitten wurden nicht erhört, weder von Mandu noch von den Göttern, an die zu glauben er sich immer weniger vorstellen konnte.
Und ich sah Mandu, als ich ihre Insel zerstört hatte, am selben Ufer sitzen und über das Wasser starren. Hinter ihr standen die Drei, Rubin, Saphir und Korund. Sie sprachen nicht, und doch war ihre Botschaft klar: Mandus Flucht habe ein Ende gefunden, sie könne sich nicht mehr, nie wieder verstecken. Sie, die sie mit den Menschen gelebt habe, müsse entweder ihre Macht freiwillig abgeben oder sie sich nehmen lassen. Und Mandu spottete, sie hatte nichts mehr zu verlieren, und sie wusste, dass die Drei mit ihrer Macht nichts anzufangen wüssten, denn sie war gebrochen und nichts an ihr konnte jenen noch etwas geben außer die Erinnerung an so viel Leben unter Menschen. Doch als Remde, dessen Verbrennungen vernarbt waren und dessen Körper gleichzeitig dünner und stärker schien, in ihr Blickfeld kam, erstarb das Lächeln auf ihrem Gesicht.
„Nicht er“, sagte sie, und doch konnte ich selbst noch in der Erinnerung, die mich streifte, erkennen, dass sie sich nicht mehr wehren würde. Sie wusste um die Unabwendbarkeit ihres Schicksals und darum, dass es keine Alternative gab. „Bitte“, sagte sie, die nie um etwas gebeten hatte, „nehmt meine Kraft selbst, lasst nicht ihn es tun.“
Doch Remde, den die Drei nicht nur körperlich geheilt hatten, sondern ihm auch genug Kraft gegeben hatten, Mandus Gegenwehr zu überwinden, und die ihm gezeigt hatten, wie er dem Wesen der Jenseitigen anhe genug kommen konnte, um ihnen ihre Stärke zu nehmen, griff nach ihrem Arm und nach ihrem Geist, drang wie durch die Oberfläche des Wassers durch den Spiegel ihres Bewusstseins und löste die Knoten, mit denen sie in sich verbunden war. Er zerrte gewaltsam an den Fäden ihrer Kraft und zerriss das Gewebe ihres Selbst, und ihr Selbst zerfloss in ihrem Geist, bis nur noch die Essenz ihrer Kraft in ihr blieb und Remde nahm sie in sich auf wie ein Verdurstender an der Quelle trinkt.
Es war beängstigend, dies in Remdes Erinnerung zu sehen und seine Wildheit zu spüren, seine Faszination über das, was er durchmachte, und gleichzeitig auch die Abscheu, die ihn ergriffen hatte, als er Mandu verschlang, und ich spürte den gleichen Selbstekel jetzt auch bei ihm, als er seine Kraft auf das Gewebe meines Selbst legte.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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