Zeitumkehr | ANDERSWOLF

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Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Zeitumkehr

Von der Front
Juli 20, 2023

Wie die Tage ineinanderfließen. Eben war noch letzte Woche, gleich ist August. Demnächst vielleicht Umzug, seit einem halben Jahr demnächst vielleicht Umzug; und trotzdem ist die Zukunft nicht greifbar, die eigentlich schon Gegenwart sein sollte. Die alte Heimat ist fast nur noch Traum, Erinnerung, ein Es-War-Einmal. Gleichzeitig ist die neue Heimat ein Noch-Nicht, eine Vorstellung, eine Hoffnung. Noch ist es nicht soweit. Noch ist nichts so weit. 

Noch. Nichts schlimmer als Hoffnung, als Warten, ungewiss sein. Nichts schlimmer als wieder und wieder die Deadline gerissen zu sehen. Wann darf ich endlich loslassen, wann darf ich endlich fallen? Wann bin ich frei genug, ein neues Leben anfangen zu dürfen? Oder hat das neue Leben vielleicht schon begonnen, und ich sehe es nur noch nicht?

Derweil fließt alles ineinander und doch an mir vorbei: bin ich nicht auf der Baustelle, bin ich in Hyrule: Tears of the Kingdom, das jüngste "Legend of Zelda"-Spiel, lässt mich nicht los. Noch eine Herausforderung in meinem Leben. Genau was ich brauchte. Als überforderten mich nicht schon genügend unfertige Projekte. Vielleicht brauche ich es aber wirklich: weil es etwas ist, was ich beherrschen kann und auch beherrsche. 

Eine Spielmechanik von Tears of the Kingdom (zungenfreundlich abgekürzt TOTK) ist die Zeitumkehr. Dingliche Bewegung kann rückgängig gemacht und so für das eigene Fortkommen genutzt werden. Felsen, die aus einem bislang noch unklaren Grund aus den Wolken gefallen sind, dienen so dem Aufstieg in den Himmel: einfach Zeitumkehr hinzufügen, voilà, Sie baden gerade Ihre Hände darin.

Natürlich ist das ohnehin ein Grundmotiv des Spiels: der Wunsch nach Rückkehr in die Vergangenheit, in ein Goldenes Zeitalter, das irgendwie verschütt gegangen ist. Kennt man, den Wunsch, ist ja mehr oder weniger spezifisch den meisten von uns inert. Zumindest all jenen, die irgendwie das Gefühl haben, dass früher mal alles besser war. Oder zumindest besser gewesen sein musste, denn so schlimm wie heute war es noch nie. 

Wahrscheinlich alles eine Frage der Erwartungshaltung. Wenn ich meine Situation gerade suboptimal finde, hoffe ich natürlich auf Besserung; wenn die aber nicht eintritt, sondern - wie üblich - der Status Quo nur eine Verlagerung der Baustellen erlebt, dann ist zwar nichts besser oder schlechter, meine zu optimistische Erwartung wurde trotzdem unterlaufen. Anders reicht einfach nicht als Veränderung, es soll schon auch gut sein. 

Rückblickend könnten wir den Fehler daran erkennen. Da könnten wir die Erwartungshaltung anpassen, da könnten wir analysieren, dass nicht die Ergebnisse ernüchternd, sondern die Hoffnung im Vorfeld zu groß, zu naiv war. Da könnten wir uns sagen: Wir haben uns beim Buffet möglicher Enttäuschungen zu großzügig bedient und einiges nicht abräumen können (wie bei jedem All you can eat put on your plate).

Natürlich sagen wir das nicht, erkennen wir das nicht, akzeptieren wir das nicht. Wir sehen nur die gerissenen Deadlines, die enttäuschten Gesichter, den Frust, die schlechte Laune. Vielleicht auch darum TOTK. Da gibt es keine Enttäuschung, das Unglück ist passiert, die Apokalypse liegt hinter uns, was soll man machen. Muss ja irgendwie weitergehen, man richtet sich ein am Abgrund, der sich plötzlich im eigenen Leben aufgetan hat. Und lebt damit.

Denn alles rückgängig machen, den bösen Geist wieder in die Flasche, das dunkelrote Geschmier, das sich über die WElt gelegt hat, wieder zurück in die Zahnpastatube stopfen, das geht nicht. Die Zeitumkehr erschöpft sich auf der Kurzstrecke, den letzten 30 Sekunden. Noch dazu ist sie nicht auf Komplexität ausgelegt, nutzt die historisch-kinetische Energie nur eines einzelnen Dings, seine (wie es spielintern heißt) Kurzzeiterinnerung an einen subtil früheren Zustand, der Rest des Systems folgt weiter seinem Lauf (so physikalisch/logisch falsch das auch sein mag).

Trotzdem verspüre ich im Spiel ein Gefühl von Selbstwirksamkeit, über das ich in der Realität nicht verfüge. Ich bringe Dinge in Bewegung, ich bringe NPCs in ihren eigenen Geschichten und Handlungspunkten voran, und wenn ich mal nicht weiter weiß, schaue ich in meinem Logbuch mit Quests und Aufgaben nach. Alles im Spiel ist vorprogrammiert, ich bin die einzige Variable und selbst als solche noch Teil des Musters. Die Frage ist nicht, ob ich auftauche, sondern nur: wann.

Im Spiel geht alles seinen Gang, und wenn es den nicht geht, dann kann ich einen früheren Spielstand laden und es einfach erneut probieren. In der Realität funktioniert das natürlich nicht. Überhaupt ist die Realität dreisterweise ganz anders. Nicht nur hadern die NPCs dauernd mit allem (auch noch mit der jüngst überwundenen Apokalypse), sie handeln auch oft eigenständig und unvorhersehbar, folgen keinen vorhersehbaren Mustern. Lästig.

Könnte ich einen früheren Stand der Renovierungen laden, ich würde einiges anders machen. Anders planen, anders kommunizieren, anders koordinieren. Auch grundsätzlich andere Entscheidungen treffen, manche Dinge streichen. Ich würde auch rund um die Baustelle einiges verändern. Hätte ich gewusst, wie lange ich auf dem Dachboden leben würde, ich hätte mich anders in diesem Leben eingerichtet. 

Hätte, hätte, Fahrradkette. Wir können das Geschehene nicht rückgängig machen, heißt es, wir können nur daraus lernen. Ich habe es versucht, daraus zu lernen, und doch habe ich das Gefühl, nicht weiter zu sein als zu Beginn. Doch: etwas in mir ist anders, ich bin einsamer, mürber, zwischen Es-war-einmal und Noch-nicht zerrissen, zeitlich und räumlich. Meine Haut ist dünn geworden in diesen Monaten und ich wünschte, ich würde mir nicht wünschen, es wäre anders.  

So aber bleibt alles, wie es ist. Die Tage fließen ineinander, die Nächte blinzeln sich weg; eben war noch letzte Woche, demnächst ist schon August. Und der Umzug. Der ist nah oder fern, irgendwann auf jeden Fall. Außer, es kehrt mir doch noch jemand die Zeit zurück. 

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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