Nächtens | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Nächtens

Usus operi
April 23, 2015

Vielleicht nächtens wieder. Früher war das einfacher, da gab es kein Leben in Verpflichtungen, in Normen, in Regeln, auch nicht in selbstgemachten. Früher, da war eine andere Nacht, ein anderer Tag. Früher, das war eine andere Stadt, ein anderes Jahrzehnt, wahrscheinlich war ich ein anderer Mensch. Traurig sei ich geworden, sagte mir neulich der Freund, nein, mittlerweile der Mann. Traurig, so finde ich mich auch, und das hat nichts zu tun mit der anderen Stadt, mit der anderen Zeit, nichts mit dem Mann, weder mit dem, der nebenan schläft, während ich das hier tippe, noch mit dem Mann, der das hier tippt und gleichzeitig an den denkt, der er nicht mehr ist. Traurig, das bin ich vor allem, weil mir alle Koordinaten verloren gegangen sind, alle Richtungen, die ich einst kannte.

Als ich anfing, der traurige Mann zu werden, der ich jetzt bin, war alles so neu und aufregend, und ich so neugierig und aufgeregt. Jetzt, das ist dann eben doch über ein Jahrzehnt später, hat mich aus der Welt heraus eine Hoffnungslosigkeit ergriffen, die ich nur mit dem allgemeinen Übel erklären kann. Es Weltschmerz zu nennen, wäre zu kurz gefasst; ist Weltschmerz doch eine Traurigkeit über die eigene Fremdheit in der Welt, die eigene Entfernung zu allen anderen Lebenden, Fühlenden. Was mich aber ergriffen hat, ist ein Entsetzen darüber, was diese Welt, diese Zeit befallen hat, diese Entfremdung aller Menschen voneinander, ein Fehlen guten Willens und rechten Wollens. Was mich gefangen hält, ist Angst, unbegreifbare, unbenennbare, unauslöschliche Angst vor dem, was ist, was kommt, was bleibt.

Wovor, das hat der Freund, nein, der Mann vorhin gefragt, als ich sagte, ich wolle wieder bloggen, könne aber nicht vor lauter Angst; wovor also fürchte ich mich? Ich hätte doch nichts zu verlieren, ihn schon gar nicht.
Ich konnte es nicht erklären, kann es immer noch nicht richtig spüren, was wirklich der Grund für die Angst ist. Vielleicht, das ist ein Teil davon, erkenne ich über das erneute Bloggen, dass ich mich tatsächlich selbst verloren habe, dass ich all meine Ziele, all meine Träume verloren habe. Oder, das ist eine anderer Teil der Angst, muss ich zugeben, dass ich doch nicht schreiben kann, doch nicht talentiert bin, doch nicht geduldig genug, doch nicht geeignet für das letzte, was mir noch bleibt. Denn alles andere habe ich aufgegeben, um nur noch das zu tun: Schreiben.

Und so kann ich nicht schreiben, weil ich Angst habe, nicht mehr schreiben zu können. Ich kann nichts mehr sagen, weil ich Angst habe, nichts mehr sagen zu können. Nichts mehr zu sagen zu haben. Als sei alles, was ich einmal war, verloren und vergessen.
Oder ersoffen in meinem Selbstmitleid. Das ist das letzte meiner Hindernisse. Ich will nicht mein Selbstmitleid, meine Betroffenheit auswalzen vor Menschen, die ihr eigenes Leid, ihre eigenen Probleme, ihre eigenen enttäuschten Hoffnungen und geplatzten Träume haben. Meine Egozentrik ist nicht das, was ihnen fehlt. Vor allem aber ist es nichts, was irgendwen weiterbringt, vor allem nicht, denke ich dann reflexhaft, mich. Ich am wenigsten von allen Menschen will Mitleid haben, am wenigsten mein eigenes. Dabei ist das das einzige, was ich im Überfluss habe.

Wohin also wenden in dieser Nacht, die nicht die erste von vielen ähnlichen wird, sondern die einzige zwischen vielen, die anders sind, wohin wenden, wenn alles dunkel und weglos scheint. Vielleicht nirgendwohin, vielleicht ist das das Wunder, das ich erhofft habe: zu erkennen, dass nicht irgendwo mein Glück wartet, meine Erlösung und mein Frieden mit mir selbst, sondern, dass ich es dann erreiche, wenn ich aufhöre, dem Schatten nachzujagen, den es wirft. In mir selbst liegen meine Wahrheiten, meine Hoffnungen, meine Träume, vor allem aber meine Rettung. Erst dann, wenn ich anerkenne, vielleicht wieder erkenne, dass ich allein mich davon abhalte glücklich zu sein, kann ich mir auch wieder erlauben, ohne Angst zu sein. Und dann nicht mehr nächtens und in Erinnerung an das Früher zu schreiben, sondern im Licht eines neuen Tages.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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