8 | Kein Schlaf, kein Traum | ANDERSWOLF

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Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

8 | Kein Schlaf, kein Traum

Yelda
November 6, 2010

Ich hatte Schlaf kennengelernt und Träume. Dies war anders.
Den Schlaf hatte ich nicht gespürt, erst durch das Erwachen hatte ich erfahren, dass ich vorher nicht wach gewesen war. Und Träume? In ihnen gab es Möglichkeiten, die es außerhalb nicht gab. In einem meiner Träume hatte ich fliegen können, als ich es in der Welt außerhalb versucht hatte, war ich gescheitert. Träume und Schlaf kannte ich. Dies kannte ich nicht.
Ich spürte, dass ich nicht wach war, dass mein Körper kein Bewusstsein hatte. Dennoch wusste ich, dass, was immer ich sehen würde, der Wahrheit entspräche. Dass mein Körper auf dem stammgeborenen Boden von Mandus Insel lag, Remde sich über mich gebeugt hatte, meine Hand genommen hatte und Mandu zornige Worte entgegenschleuderte, die regungslos mit dem Rücken zum Stamm saß und Remde und mich ansah, aber nichts sagte. Was Remde sagte, ich hörte es nicht, seine Sorge allerdings konnte ich spüren, seinen Zorn auf Mandu, seinen Zorn auch auf sich selbst, dass er ihr vertraut hatte. Es war seltsam, die Empfindungen eines anderen Wesens so deutlich zu spüren, deutlicher und bestimmter als ich meine eigenen Empfindungen jemals gespürt hatte. Gleichzeitig mit Remdes Wut erfuhr ich, obwohl ich nie selbst Wut gefühlt hatte, was Wut war und dass ihr die Angst um mich zugrunde lag. Es war, als erinnerte ich mich an etwas, das ich nicht vorher gekannt hatte, als entdeckte man einen dritten Arm an sich.
Ich wollte Remde trösten, wollte ihm sagen, dass es mir gut ging, dass ich nur gerade nicht wach, nicht ansprechbar war, doch so klar ich wahrnahm, was außer mir war, so sehr war ich außerhalb von allem, so abseits und fern aller Mitteilungswege.

Und dann wurde der nur fühlbare Schleier, der mich von ihm trennte, dichter, sichtbar. Wie aufkommender Nebel füllte er meine Sicht, nahm mich meinem reglosen Körper fort, zog mich aus der Eingrenzung von Mandus Insel. Mein Blick wurde nach außen gelenkt, auf den See und das Ufer und das Dorf und die Ebene dahinter, die an den Wald, den mir so fremden Wald grenzte, und dann darüber hinaus. Bald konnte ich sehen, dass der See sehr wohl begrenzt war, dass ich nur durch Mandus Nebel hindurch die andere Seite nicht hatte sehen können, auf der die Bäume bis ans Ufer reichten. Der Wald selbst war dicht und weit, es gab keine weiteren Lichtungen, keine weiteren Seen in der Nähe, nichts, was auf andere Dörfer schließen ließ, vor allem aber nichts, was dem entlebten Ort glich, der eine weite, schwarze Ebene sein musste. Sie hätte ich nicht übersehen. Ich streckte meine Gedanken aus, suchte nach dem Strom des Lebens, den ich immer um mich gespürt und der mich immer geleitet hatte.
Doch ich spürte nichts. Ich spürte kein Leben, nicht nur nicht in der Höhe über dem See, sondern auch nicht im Boden tief unter mir. Es war, dachte ich, während mein Geist immer weiter den Sternen entgegen stieg und ich immer mehr vom endlosen Wald entdeckte, als hätte sich die entlebte Ebene nur mit dem Wald und dem See und dem Dorf bedeckt, wie die Zweibeine sich mit Kleidung bedeckten. Es war, als wäre ich niemals von dort weggegangen. Und obwohl ich wusste, dass mein Körper sicher neben Remde auf Mandus Insel lag, fühlte ich erneut, wie damals in der Ebene, eine Einsamkeit, die so viel größer war als ich, dass sie meinen Geist unter sich begraben würde, gäbe ich auf, durch sie hindurch die Kraft des Lebens zu suchen. Und doch, obwohl ich das erste Mal fühlte, dass ich um mein Leben fürchten sollte, gab ich auf.

„Wird er sie finden?“
„Wie sollte er das können?“
„Er wird sie nicht finden. Sie ist fort.“
„Fort? Was heißt das?“
„Sie ist außerhalb unser aller Reichweite. Selbst wenn wir es zusammen versuchten, selbst wir könnten sie jetzt nicht finden.“
„Woher weißt Du das?“
„Wieso weißt Du das nicht?“
„Was heißt, wir könnten sie jetzt nicht finden?“
„Wir haben sie erschaffen, wir haben einen Teil unserer Essenz gegeben, um ihr Wirklichkeit zu geben. Wir sind immer mit ihr verbunden gewesen.“
„Wir hätten sie also jederzeit finden können?“
„Wir haben einen Teil unserer Essenz gegeben? Ich fühle mich aber ganz und ungeteilt.“
„Wie kann das sein?“
„Erläutere das.“
„Mir fehlt nichts, meine Essenz ist intakt.“
„Wir haben sie aus uns erschaffen, aus unserem Wesen. Ein Stück von Dir sollte sich in ihr wiederfinden.“
„Seit sie in der Welt ist, sind wir mit der Welt durch sie verbunden. Spürst Du das nicht?“
„Nein. Ich sehe die Welt und ich weiß, dass sie existiert, doch ich spüre sie nicht.“
„Wieso mussten wir darauf warten, dass sie uns findet, wenn wir sie jederzeit hätten finden können?“
„Es ist ihr Schicksal uns zu finden, wir haben ihr dieses Schicksal erschaffen, als wir ihr Gestalt gaben.“
„Falls sie anders beschaffen sei, als wir sie zu erschaffen beabsichtigten, hat denn das Schicksal, das wir zu geben beabsichtigten, Bestand?“
„Was?“
„Erläutere das.“
„Jeder von uns sollte einen Teil seiner Essenz verwenden, um sie zu erschaffen. Offensichtlich gab nicht jeder einen Teil von sich.“
„Ich wusste nicht …“
„Wenn sie also nun anders beschaffen ist als gedacht, kann sie dann überhaupt die Aufgabe, für die sie geschaffen war, erfüllen?“
„Könnte sie nicht mehr das richtige Werkzeug sein?“
„Sie ist es nie gewesen.“
„Darum konnte sie vernichten, was sie beschützen sollte?“
„Darum wird sie, wenn wir sie nicht finden, alles vernichten.“
„Wir müssen sie finden?“
„Wir müssen sie aufhalten.“
„Wir müssen sie zerstören.“

Der Wiedereintritt in meinen Körper war schmerzhaft. Oder vielmehr war der Körper, in den ich zurückkehrte, voller Schmerzen. Ich litt, wie ich noch nie gelitten hatte, weil ich noch nie gelitten hatte. Es gab keinen Einzelschmerz, sondern nur das schmerzende Bewusstsein, dass ich einen Körper hatte. Und wenngleich ich ahnte, dass ich mein restliches Leben lang mit diesem Schmerz verbringen müsste, zwang ich meinen Geist dazu, wieder Besitz von mir zu nehmen, denn ich hatte Fragen, auf die ich Antworten bekommen wollte. Ich hangelte mich an den Schmerzen entlang wie ich in der entlebten Ebene dem stillen Strom gefolgt war, bis ich mich in mir selbst wiederfand, eingehüllt in meine Schreie und Tränen. Und ich spürte eine Hand in meiner Hand, und ich wusste, noch bevor ich meine Augen geöffnet hatte, dass mich Remde nicht verlassen hatte, sondern bei mir geblieben war, während ich außer mir gewesen war.
Ich zwang mich, nicht mehr zu schreien, und öffnete die Augen. Ich hatte schmerzhaft helles Licht erwartet, doch die Sonne war schon untergegangen, sanfte Dämmerung lag über Insel. Ich blickte zur Seite, um Remde anzusehen. Doch er war nicht da, nicht er hatte meine Hand gehalten. Es war Mandu.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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