6 | Mandu | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

6 | Mandu

Yelda
November 4, 2010

„Habe ich etwas falsch gemacht?“ sagte ich leise zu Remde.
„Ich glaube nicht“, erwiderte er ebenso leise.
„Warum liegen alle auf dem Boden? Sind sie verletzt?“
„Es ist ein Zeichen von Verehrung.“
„Wen verehren sie?“
„Dich.“
„Warum?“
„Ich habe keine Ahnung.“
„Und warum hat er mich so genannt?“
„Hohe?“
„Ja. Natürlich bin ich größer als er, mich aber nur deswegen Hohe zu nennen, halte ich nicht für richtig.“
„Hätte er Dich Zweibein nennen sollen?“
„Natürlich nicht. Er wusste doch schon, bevor er mich gesehen hatte, dass es andere Zweibeine gibt. Da wäre ja Zweibein kein guter Name für mich. Woher hätte ich wissen sollen, dass er mich meint?“
„Woher weißt Du denn, dass er Dich dann mit Hohe meint?“
„Dich kann er ja wohl nicht meinen, Du bist deutlich kleiner als ich. Außerdem hast Du ja einen eigenen Namen.“
„Gut, dass Du Dich daran erinnerst. Warum hast Du Dich dann eben nicht daran erinnert, dass Du niemanden Zweibein nennen solltest?“
„Ich habe doch zu niemandem …“ begann ich und brach ab, als ich bemerkte, dass Bukon und die Dorfbewohner hinter ihm Remde und mich mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht beobachteten. „Was haben sie? Sind sie jetzt verletzt?“
„Ich weiß es nicht.“
„Warum fragst Du dann nicht?“
Remde seufzte.
„Ich nenne auch niemanden mehr Zweibein.“
„Ist ja gut.“ Remde seufzte erneut und wandte sich dann an Bukon. „Was ist los?“
„Weißt Du es wirklich nicht?“
„Was soll ich wissen?“
„Dass sie eine Hohe ist, Du Dummkopf.“
„Ist sie das?“
„Bin ich das?“ mischte ich mich ein.
„Aber natürlich!“ Bukon schien überrascht.
„Natürlich? Sie weiß es doch selbst nicht einmal!“
„Kann sie denn nur etwas sein, von dem sie weiß, dass sie es ist?“
Remde verdrehte nur die Augen, darum fühlte ich, dass ich etwas zu der Diskussion beitragen sollte: „Ich kann sehr wohl etwas sein, von dem ich nicht weiß, dass ich es bin. Außerdem bin ich ja auch hoch.“ Dann fiel mir etwas ein. „Groß würde aber besser passen, weißt Du?“
„Bukon, was ist eine Hohe?“
„Wie kann es sein, dass Du Deinen eigenen Speer wirfst und Deine eigene Hütte bewohnst und Dein eigenes Feld bestellst, aber nicht weißt, dass die Hohen die Kinder der Götter sind?“
„Sie? Eine Tochter der Götter?“
„Sei nicht respektlos!“
„Respektlos? Ich habe sie nackt im Wald gefunden und ihr mein Hemd gegeben. Ist das nicht etwa respektvoller, als sie für etwas zu halten, das sie bestimmt nicht ist?“
„Remde! Wie kannst Du es wagen, die Hohe zu beleidigen?“
„Ich habe sie nicht beleidigt!“
„Natürlich hast Du!“
„Frag sie doch selbst. Ich glaube nicht, dass sie begreift, was Du meinst!“
„Wie kannst Du es wagen … ?“
„Ich weiß nicht, weshalb ihr so laut sprechen müsst. Können die Zweibeine nicht aufstehen?“
„Nenn sie nicht Zweibeine!“ sagte Remde noch lauter als alles vorherige, bevor er sich an Bukon wandte: „Und ich habe die letzten drei Stunden mit ihr verbracht. Ich weiß, was ich sage, wenn ich sage, dass sie es nicht versteht.“
„Remde, ich erkenne Dich nicht wieder. Ich hätte nicht gedacht, dass Du die Götter so missachtest!“
Remde nahm wieder meine Hand. „Das ist doch sinnlos. Wenn Du Deine Knie von Deinem Verstand genommen hast, dann findest Du uns bei Mandu.“ Damit stapfte er an Bukon, der Remde großäugig anstarrte, vorbei und nahm mich mit sich.
„Das war seltsam“, sagte ich.
„Ja. Ich glaube, Du bist nicht die einzige, die den Verstand verloren hat.“
„Ich habe den Verstand verloren?“
„Das ist eines der wenigen Dinge, deren ich mir gerade ziemlich sicher bin.“

Remde zog mich zwischen den Höhlen hindurch in Richtung des Wasserspiegels. Die Erde auf dem Weg dorthin war unruhig aufgewühlt, satubig und gerissen. Keine Pflanze wuchs hier, von den Baumstämmen abgesehen, die aber auch völlig ohne Leben waren. Wir hielten direkt am Rand des Wassers, als Remde mich fragte: „Kannst Du schwimmen?“
„Schwimmen?“
„Hatte ich auch nicht erwartet. Du musst Dich gut festhalten.“
„Wo?“ wollte ich fragen, als mir Remde bedeutete, mich auf aneinander befestigte Baumstämme zu setzen, die auf dem Wasser schaukelte.
„Eigentlich müssten wir zu ihr schwimmen, doch da Du nicht schwimmen kannst, müssen wir eine Ausnahme machen. Ich werde schwimmen und das Floß hinter mir herziehen. Am besten bewegst Du Dich so wenig wie möglich.“
Er zog die Stämme hinter sich her, als er immer tiefer in das Wasser watete, bis es ihm bis zur Brust stand. Dann streckte er sich mit der einen Hand nach vorne, legte seinen ganzen Körper ins Wasser und machte froschartige Bewegungen. Tatsächlich bewegten wir uns vom Ufer fort. Ich fragte mich, wohin wir wohl unterwegs waren. Weil ich vor uns nichts anderes als Wasser sah, blickte ich zurück, wo jetzt Bukon und einige andere Zweibeine des Dorfs zwischen den Höhlen erschienen. Sie waren uns in nicht allzu großer Geschwindigkeit gefolgt, als ob sie nicht sicher gewesen wären, ob sie uns wirklich hätten einholen wollen.
Ich sah wieder nach vorne. Zuerst dachte ich, ich hätte etwas gesehen, doch als ich direkt geradeaus sah, war da nichts als die endlose Wasserfläche, die sanft wogte. Als ich meinen Blick zur Seite wandte, sah ich doch etwas aus meinem Augenwinkel. Irgendetwas musste vor uns sein, doch ich konnte es nicht sehen, so lange ich es direkt erblicken wollte.
Ich schloss meine Augen und spürte den ruckartigen Bewegungen des Floßes nach, erkannte darin Remdes Bewegungen und darunter das Wogen des Wassers und darunter einen Strom von Wasser, der sich hin und zurück bewegte mit der Geduld, die der Mond beim Überqueren des Himmels hat. Und noch darunter fand ich eine Kraft, die ich kennen musste, aber nicht kannte, wie eine Erinnerung an etwas, das ich vergessen hatte. Mit geschlossenen Augen konnte ich den Strom dieser Kraft verfolgen, wie er vom Grund des Wassers bis auf dessen Spiegel emporreichte und etwas verbarg. Ich spürte, dass dies der Sinn der Kraft war: Verbergen. Und kaum dass ich das gedacht hatte, zerfiel die Kraft wie Nebel im Sonnenschein und gab vor uns Land frei, das bisher verhüllt gewesen war.
Ich öffnete die Augen und sah Bäume, die auf dem Wasser zu wurzeln schienen und auf einem von ihnen, ein altes, weißhaariges Zweibein. Das musste Mandu sein.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
mit Erkenntnisgewinn.
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