Master of None | ANDERSWOLF

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Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Master of None

Usus operi
April 14, 2023

Das Vorstellungsgespräch übrigens: "sehr informativ" (Eigenzitat in der Absage). Augenöffnend die Frage, ob ich mir vorstellen könne, die nächsten zwei Jahre chronisch Kranke zu beraten, wie sie, wenn schon nicht gesund, immerhin weniger belastet leben können. 
Augenöffnend, weil: Nein, kann ich nicht, will ich nicht. Fühle mich weder stark noch qualifiziert genug. Beim imaginierten Gespräch mit ausgedachten Patienten den schlimmsten aller Sätze aus dem Unbewusstsein hochblubbern sehen: "Nun reißen Sie sich doch mal zusammen!"

Schlimm, weil er zeigt, wie ahnungslos ich im Umgang mit solchen Menschen tatsächlich bin. Vor allem, weil ich Ratschläge gäbe, an die ich mich selbst nicht hielte. Ich reiße mich ja auch nicht zusammen. 
Ich mache keinen Sport mehr, gehe nicht mehr zum Yoga. Die 25 Stufen zwischen der zu renovierenden Wohnung und dem Dachboden zählen nicht als Trainingsstrecke, egal wie oft ich sie gehe. Meine derzeitige Ausrede: nach dem Sport muss geduscht werden, das kann ich aber nicht. Könnte ich schon, wir haben eine Komplettdusche mit beboilertem Wassertank; aber der Aufwand! Oder halt Fitnessstudio. Aber ist halt Fitnessstudio. 
Tatsächlich geht es ja eh nicht um Körper-, sondern um Psychohygiene. Zusammenreißen bedeutet ja nicht einfach nur 100 Liegestützen am Tag, und dann ist die Welt gerettet. Zusammenreißen bedeutet:

Nicht auseinanderfallen. 

Manchmal glaube ich, dass Auseinanderfallen tatsächlich ganz hilfreich wäre. Wie bei der Wand zwischen Bad und Küche, bei der es besser gewesen wäre, sie komplett einzureißen und neu und schön und mit Platz für die Installationen wieder aufzumauern. So haben wir ein Flickwerk aus alter und neuer Verrohrung zwischen bröseligen Ziegelsteinen hinter glatter Putzfassade. Auch stabil, aber ich weiß, wie es unter der Oberfläche aussieht. 
Wenn man alles auseinandernimmt, kann man verborgene Altlasten entdecken und Schwachstellen, die stabilisiert werden sollten, bevor man sich neuen Zumutungen aussetzt. "Everything is falling to pieces, so all the pieces can fall into place", habe ich vor zehn Jahren mal in einem Anfall von Webdesign is my passion in eine Grafik gepummelt, und so banal das klingt, und so lahm das aussieht, so wahr ist es doch.

 

Andererseits ein Irrglaube, man könne einfach so Ballast abwerfen und sich neu erfinden. A clean slate, ein Neuanfang. Gibt es nicht, ist nicht drin, die Hardware lässt sich nicht austauschen. Selbst ein neues Betriebssystem müsste ja um unzugängliche Datencluster heruminstalliert werden, weil die sich nicht defragmentieren lassen. Bleibt nur, das Alte mit dem Neuen zu vermählen. Das Beste aus zwei Welten.

Oder eben nur das, was möglich ist. 
Die weitere Stellensuche offenbart vor allem, was nicht möglich ist. Das Vorstellungsgespräch hat mir zwar gezeigt, dass ich mir viel zutraue. Gleichzeitig bin ich überfordert, meine Stärken und Qualifikationen zu identifizieren. Warum gerade ich für diese Stelle geeignet sei, wurde im Gespräch gefragt. Ich konnte schlecht sagen: "Haben Sie denn nicht meinen Lebenslauf gelesen?" Immerhin spiegelten meine Stationen die Anforderungen doch deutlich wieder. Gleichzeitig fiel mir da erst auf, dass das nicht reicht. Ich wusste nicht einmal, ob ich diesen Job überhaupt machen wollte und, wenn ja, warum. 

Die Wahrheit ist: Ich weiß nicht, warum ich im Besonderen für diese oder eine andere Arbeit qualifiziert sein sollte. Ich schrieb mal, ich sei ein Jack of all Trades. Tatsächlich aber hatte ich keine der Stellen in meinem Lebenslauf, weil ich qualifiziert war, sondern weil ich es wollte. Wenn mich etwas angesprochen hat, habe ich es getan. Und selbst bei meinen letzten Job hat sich nur die Geschäftsführung gefragt, ob ich für den Verkauf von Käse im Biomarkt nicht überqualifiziert sei. Ich hatte andere Prioritäten: Brotjob mit Krankenversicherung. Hat dann trotzdem überraschend viel Spaß gemacht. 

Stellenanzeigen lösen aktuell eine unterminierende Dialektik aus: Klar kann ich das, denke ich, aber bin ich dafür qualifiziert? Von wegen Jack of all Trades: Master of None! Durchgemogelt überall, selbst meine Bühnenkarriere verdanke ich keiner entsprechenden Vorbereitung, sondern vermutlich nur meiner verdächtig großen Befähigung zu Lüge und Selbstverleugnung. 

Zusammenreißen ist da nicht.

Was sollte ich auch zusammenreißen? Wie sollte ich einer nicht fixierten Struktur, die dauernd ihre Anforderungen ändert, eine feste Form geben? Ich bin kein fertiges Werk, ich halte immer nur Momentaufnahmen fest. Und weiß gleichzeitig, dass ich mich möglicherweise schon im nächsten Moment in eine komplett andere Richtung entwickle. 
Insofern vielleicht kein Wunder, dass ich mir so vieles für meine Zukunft nicht vorstellen kann, wenn ich schon meine Gegenwart nicht greifen kann. 

Gleichzeitig ist ja meine Vergangenheit auch kein leicht zu überschauender Pfad. Davon abgesehen, dass ich große Teile meiner Erinnerungen als unbrauchbar wegsortiert habe, hatte ich auch nie wirklich feste Bande, innerhalb derer ich mich bewegt habe. Ich habe die Regeln, nach denen ich lebe (und damit mich selbst) immer erst in eben jenem Moment erfunden, in dem ich sie gebraucht habe. Und wenn irgendwas nicht passte, dann passte es halt nicht, und dann passte ich mich eben an. 

Vielleicht ist das eine dieser Stärken, die ich bei Fragen in Vorstellungsgesprächen anbringen sollte: dass ich mich gut anpassen kann, dass ich offen bin für Neues, sei es noch nicht erlerntes Wissen oder unbekannte Situationen. Ich habe eine große Resilienz, könnte ich das beim nächsten Mal sagen, um dann noch hinzuzufügen: Und diese Resilienz kann ich  weitergeben, auch an Menschen, die glauben, mit Zusammenreißen allein sei alles getan. 

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