3 | Regen und Wald | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

3 | Regen und Wald

Yelda
November 2, 2010

Mit der Nacht als meiner einzigen Begleitung ging ich weiter. Ich zählte meine Schritte nicht, achtete nicht auf das Vergehen der Momente. Ich ging einfach immer geradeaus, das Dunkel der verbrannten Erde hinter mir lassend. Ich fühlte mich dem Strang an Leben entlang, der sich beinahe sichtbar vor mir erstreckte, der mir den Weg wies, den ich zu gehen hatte. Ich wusste nicht, wohin er mich führen würde, doch das war mir egal. Nirgendwo konnte ich mich so alleine, so von allem Leben abgeschnitten fühlen wie auf der entlebten schwarzen Erde, auf der ich erwacht war.

Ich bemerkte das Fehlen der Sterne erst, als es vorbei war. Knapp über dem Horizont vor mir, wo ein schmaler Streifen dunkles Blau sich vom reinen Schwarz der Nacht abhob, funkelten vereinzelte Sterne in die Dämmerung, als wollten sie mir zeigen, ich sei auf dem richtigen Weg. Folgte ich ihnen, so dachte ich, würden sie mich in Sicherheit geleiten. Und so ging ich weiter, immer einen Fuß vor den anderen setzend, einen Schritt nach dem anderen, bis ich nicht mehr wusste, wie lange ich schon gegangen war, bis ich nicht mehr gehen konnte und mich auf den Boden fallen ließ, meinen Körper auf die Erde legte und dem langsamen Fließen des Lebens in der Erde lauschte, bis ich einschlief.

Diesmal träumte ich nicht. Die Leere, die sich über mir erstreckt hatte, erfüllte in diesem Schlaf auch meinen Geist.
Als ich erwachte, war das Dunkel der Nacht einem trüben Grau gewichen. Fett und schwer stapelten sich Wolken den Himmel empor, und noch als ich mich versuchte zu erinnern, ob ich jemals einen Schauer außerhalb der schützenden Arme des Regentrinkers erlebt hatte, riss eine der Wolken auf. Eine vielköpfige Schlange aus Licht zuckte hervor und einen Lidschlag später überrollte ein Donnerschlag die Ebene, so machtvoll, dass Staub aufwirbelte und meine Augen tränten. Dann kam der Regen, üppige Kugeln aus Wasser, die im Aufprall auf den Boden noch mehr Staub aufwirbelten und doch sofort wieder banden.
Ich hatte mich aufgesetzt und sah diese Wand aus Wasser und Blitzen auf mich zurollen. Ich hatte nichts, das mich schützen würde, und doch hatte ich auch keine Angst, denn ich verspürte die Freude des Lebens. Das schwache Band, das unter der Erde mein Wegweiser gewesen war, wurde stärker, als dränge es aus der Tiefe nach oben, wie die Regenwürmer erst ans Licht kommen, wenn der Regen kommt. Ich spürte, dieser Regen brachte nicht Tod, sondern Leben, brachte Zukunft, würde die Herrschaft des Nichts hinter mir beenden, würde die Verzweiflung von mir waschen und dem Land die Hoffnung wiedergeben, die es seit seiner Entlebung nicht mehr hatte. Ich stand auf, hob die Hände in den Himmel und lachte, als mich das Gewitter überzog wie eine Haut.

Als das Lied des Regens verklang, hörte auch ich auch zu singen. Regentrinker hatte immer gesungen, wenn Schauer über den Wald gezogen war, langsame, tiefe Töne, die in so vollkommenem Kontrast zu den rasch fallenden Tropfen standen, dass ein Muster vollkommener Schönheit entstand, an das ich mich im Gewitter erinnert hatte. Meine Stimme kam kaum gegen den Donner an, doch ich sang in Erinnerung an den Regentrinker, so gut ich konnte, sein Lied.
Ich sehnte mich danach, es mit ihm zu singen oder ihm wenigstens zu erzählen, dass ich es nicht vergessen hatte, also ging ich weiter in die Richtung, aus der das Gewitter gekommen war. Der Boden war rutschig jetzt, Staub und Wasser hatten sich zu Schlamm vermischt, der jeden Schritt zu einer eigenen Aufgabe machte, doch mit der Zeit wurde ich immer geschickter.
Erst kurz vor ihrem Untergang hatte die Sonne die letzten Regenschleier abgeworfen und überzog mich und die Ebene mit einem dunklen Rot. Je weiter die Sonne sich senkte, umso mehr Sterne erklommen den dunkelnden Himmel und bald – ebenso rot wie meine eigene Haut – auch ein Mond so groß, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte.

Unter dem Licht des Mondes, der seine Farbe verlor, je weiter er aufstieg, setzte ich in dieser Nacht wieder einen Fuß vor den anderen, vorsichtiger als in der Nacht zuvor, um nicht auszugleiten, doch stetig in die gleiche Richtung. Auch wenn das Lebensband, das ich gespürt hatte, nun zu einem machtvollen, freudvollen Strom angeschwollen war, konnte ich fühlen, woher es kam, und ich wusste, dass das der Ort war, an den ich wollte.
Erst gegen Morgen, als der Mond knapp über dem Horizont wieder anschwoll und strahlend weiß ins Grau der Dämmerung eintauchen wollte, blieb ich stehen. Der Boden unter meinen Füßen war wieder fest geworden, doch wo vorher nur Krume und Stein gewesen war, streckten winzige Halme von Gras und Blättchen von Pflanzen nun in die Höhe. In der Stille meiner Regungslosigkeit konnte ich ihr leises Lied hören, das zwar einfach war, aber doch voller Freude vom Wachsen und Leben erzählte. Ich legte mich auf den Boden und lauschte dem Singen, bis ich einschlief.

„Ist das ihr Werk?“
„Es liegt in ihrer Macht.“
„Aber sie hat zerstört, was sie bewahren sollte.“
„Sie kann nicht mehr unterscheiden. Sie hat sich verloren.“
„Wir müssen sie finden.“
„Sie kann nicht gefunden werden.“
„Wir müssen auf sie warten.“
„Wir können nicht warten.“
„Wir können und werden warten. Sie wird kommen, wenn der Schatten am dunkelsten ist.“
„Sie hat sich verirrt, wir müssen ihr helfen.“
„Es liegt nicht in unserer Macht.“
„Wir können ihr nicht helfen.“
„Wir, die wir sie geschaffen haben, wir, die ihr ihre Macht gegeben haben, können ihr nicht helfen?“
„Wir haben sie so geschaffen, dass sie unserer Hilfe nicht bedarf.“
„Wir sind nicht mehr die Quelle ihrer Macht.“
„Sie ist verloren ohne uns. Sie kennt sich nicht und nicht ihre Macht.“
„Sie wird sich erkennen.“
„Sie wird den Schatten erkennen.“
„Sie wird ihre Aufgabe und ihre Macht erkennen.“
„Wir müssen sie suchen.“
„Wir müssen auf sie warten.“
„Wir müssen warten.“
„Wir warten.“
„Dann wartet.“

Ich erwachte unter Bäumen. Es waren nicht meine Bäume, doch auch sie sangen Lieder, erzählten sich Geschichten und tanzten mit dem Wind. Ich fragte sie nach Hüter und Regentrinker, erzählte von Sämling und Späher, doch diese fremden Bäume beachteten mich nicht, sie nahmen keine Notiz von meinen Worten. Wären nicht der Boden unter meinen Füßen und der Wind in meinem Haar gewesen, ich hätte gezweifelt, ob ich noch Teil dieser Welt war. Ich spürte die Beinchen eines Käfers, der meinen Fuß erkletterte, und beugte mich hinab, um ihn anzusehen.
Einen Käfer wie diesen hatte ich noch nicht gesehen, seinem schillernden grünen Kopf entsprossen lange Fühler von einem etwas dunkleren Grün, sein Körper indes hatte die Farbe von vor Nässe glänzendem Schlamm. Vorsichtig nahm ich ihn auf meine Hand, und aufgeregt flatterten seine Fühler mir entgegen.
„Grünschillernder, kennst Du Regentrinker?“ fragte ich ihn, doch antwortete er nicht, sondern wanderte nur vom einen Ende meiner Hand ans andere und dann über den Rand auf meinen Handrücken. Dort verharrte er, die Fühler nach allen Seiten streckend. „Grünschillernder, wo bin ich? Wo ist meine Familie?“
Eine Weile noch saß der Käfer nur still auf der Unterseite meiner Hand, dann flog er davon und verlor sich rasch zwischen den Bäumen. Ich begriff, dass auch er mich nicht verstanden hatte, dass mir, wo auch immer ich hier war, niemand helfen konnte. Ich musste einen Weg zurück finden, einen Weg, der mich im schlimmsten Fall wieder durch das schreckliche Nichts führen würde, das ich doch hinter mir gelassen zu haben glaubte. Doch da ich nicht wusste, wie ich hierher zu den fremden Bäumen gelangt war, würde ich wohl kaum je wieder dorthin finden.
So sehr mich die pulsierende Kraft des Lebens im Gewitter auf der leeren Ebene mit Freude erfüllt hatte, so sehr bedrückte mich jetzt die Erkenntnis, dass ich zwar umgeben war vom Lebendigen und doch nichts und niemanden hatte, mit dem ich diese Freude würde teilen können, und je mehr ich an die Hoffnung dachte, die mich erfüllt hatte, umso hilfloser und hoffnungsentleert fühlte ich mich. Und das erste Mal, seit ich in dieser Welt war, weinte ich.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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