Usus operi | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Das Geheimnis

Usus operi
April 18, 2024

Ich habe ein Geheimnis, und nein: ich werde es nicht verraten. Nicht, weil es dann kein Geheimnis mehr wäre, sondern weil es gar nicht um das eigentliche Geheimnis geht, sondern darum, wie ich beinahe daran zerbrochen wäre, ein Geheimnis zu haben. Anderen Menschen nicht davon erzählen zu können, nicht einmal dem Mann. Keinen Freundys, keinen Familienangehörigen, keinen Bekannten oder gar Unbekannten.

Ich hatte schon einmal ein Geheimnis. Auch damals wäre ich beinahe zerbrochen, weil ich befürchtete, niemals jemandem davon erzählen zu können. Lange habe ich geglaubt, es hätte mich gerettet, das Geheimnis gelüftet zu haben; tatsächlich war mir lange nicht bewusst, dass ich das Geheimnis und die dahinter liegende Wahrheit verwechselt hatte. Und dass es vor allem einen Unterschied zwischen den beiden gab. 

Das Geheimnis, dachte ich lange, sei meine Homosexualität. Das Geheimnis sei, dass ich irgendwie schwul geworden sei; dass ich mich verändert hätte und das für mich behalten müsse. Tatsächlich war ich natürlich schon immer schwul, tatsächlich gehörte meine Homosexualität schon zu meiner Identität, als Sexualität an sich noch lange kein Thema für mich war. 

Ich war, glaube ich, ein sehr expressives, theatrales, vielleicht flamboyantes Kind. Es gibt Bilder von mir in Kleidern meiner Urgroßmutter; Fremde, aber auch Mitschülys hielten mich wiederholt für ein Mädchen. Menschen, die nur über ein binäres Verständnis von Geschlechterrollen verfügten, fanden mich nicht Junge, nicht Mann genug. Meine eigene Großmutter kommentierte meinen ersten Bartflaum mit: "Glaub nicht, dass dich das männlicher macht." 

Die Welt hatte mich da schon längst gelehrt, dass Selbstexpression anstößig war. Dass ich mich besser anpassen sollte, wollte ich nicht auffallen; denn Auffallen, das war die erste Lektion, wurde mit Schmähungen und (vorsichtig ausgedrückt) Liebesentzug geahndet. Also legte ich mir eine dicke Haut zu, versuchte nicht aufzufallen, versuchte zu verschwinden.

Erst als ich älter geworden war, erkannte ich, dass ich den Menschen, für den mich alle hielten, nicht kannte. Ich war tatsächlich verschwunden, war verloren gegangen hinter der Fassade, die aufrechtzuerhalten allmählich anstrengend wurde. Irgendwann erkannte ich, dass ich Masken trug, aber nicht, aus welchem Grund. Ich wusste nur: Ich war nicht der Mensch, der ich scheinbar geworden war. Ich war nicht ich selbst und war es lange nicht gewesen. 

Damals fühlte es sich an, als sei meine wahre Identität ein Geheimnis. Mittlerweile weiß ich: das Geheimnis war zu meiner Identität geworden. Das Geheimnis war nicht, dass ich schwul war. Hätte sich jemand genug interessiert, hätte jemand genauer hingesehen: es wäre klar gewesen. Das Geheimnis war, dass ich, besah ich mich selbst genau genug, wusste, dass ich mich verstellte und die Menschen glauben ließ, der Mensch, den sie in mir sahen, sei tatsächlich ich. 

Damals befürchtete ich, schwul zu sein, zerstöre meine Identität. Dass ich, leugnete ich es nur ausreichend ausgiebig, nicht schwul sein könnte. Und ich dachte, ich sei unglücklich, weil meine Homosexualität mein Selbst bedrohte.
Tatsächlich bedrohte das Geheimnis mein Selbst. Die Fassade, die Lüge, die Unaufrichtigkeit mir selbst und allen anderen gegenüber: Nicht ich selbst zu sein, bedrohte mich.

Das Geheimnis, das ich heute habe, ist keine Lüge, es ist ein Gefühl, von dem ich glaubte, es nicht fühlen zu dürfen. Vielleicht ist das auch das Geheimnis: dass ich glaube, meine Gefühle nicht sichtbar machen zu dürfen. Dass ich glaube, meine Gefühle seien invalide, irrelevant, egal. Und - ein Gefühl im Gefühl - dass auch die Trauer darüber, das Gefühl (aus welchen Gründen auch immer) nicht zulassen zu können, inakzeptabel sei. 

Gefühle sind komplex. Vielleicht gibt es Menschen, die verstehen, wie Gefühle ausgelöst werden, wie die Rezeption, die Expression, die Reaktion funktioniert. Ich gehöre nicht zu diesen Menschen, ich bin relativ fühllos. Nicht überraschend: ich trage immer noch die dicke Haut meiner Kindheit, ich habe gelernt, großen Schmerz von mir fernzuhalten. Mein Zahnarzt ist immer wieder neu beeindruckt, dass ich auf eine Betäubung verzichte.

War ich einst darauf stolz, bin ich es nicht mehr. Ich weiß mittlerweile, dass Schmerzresistenz manchmal auch ein Zeichen von Freudresistenz, von Depression sein kann oder zumindest ein Symptom emotionaler Dissoziation. Ich halte meine Gefühle auf Abstand, und während mich das manchmal davor bewahrt, verletzt zu werden (weil nur ich mich wirklich verletzen kann), halte ich damit auch Menschen auf Abstand. 

Ich wirke auf Fremde mitunter arrogant, überheblich, grob, kalt, unfreundlich, unwohlwollend. Ich weiß das, ich bin mir dessen bewusst. Ich glaube, dass Menschen, die mich dennoch mögen, weil ich eben doch manchmal offen und warmherzig und nahbar sein kann (wenn ich keine Angst vor ihnen haben zu müssen glaube), tatsächlich mein Gefühle wahrnehmen können. Meine Zuneigung. Meine Sehnsucht. Meine Liebe. 

Dennoch stoße ich Menschen öfter von mir, als ich das will, bin abweisend zu Menschen, indem ich mich zu stark filtere, weil ich vor Unsicherheit alle Emotion aus meiner Selbstpräsentation nehme. Was selten bewusst passiert, aber hinterher erkenne ich es. Manchmal wird es mir während der Interaktion selbst bewusst - und es verstört mich. Ich versuche dann, normal, emotional, menschlich zu sein - und überkompensiere. Oder schalte komplett ab.

Vor ein paar Monaten schrieb ich, jemand habe mir gesagt, ich halte mich zurück - und wie sehr das offensichtlich stimmt. In Konfrontation mit dem geheimen Gefühl ist mir bewusst geworden, wie tief das reicht und was es alles bewirkt, verändert, verhindert, zerstört. Ich sehe Menschen, die ich meine Freunde nenne, und ihre sorgenfreie Expression ihrer Gefühle und ich sitze daneben und sehne mich danach, meine Emotionen nicht als aufdringlich zu sehen. 

Eine Weile schon sind mir Berührungen unwohl. Schon vor Corona fand ich es mindestens lästig, anderen Menschen die Hand geben zu müssen, seither muss ich mich ernsthaft überwinden, der sozialen Norm nicht zu widersprechen. Legt mir jemand die Hand auf die Schulter oder auf den Rücken oder schlimmer: auf das Knie, muss ich mich zusammenreißen, nicht zurückzuzucken.

Und das betrifft keine Fremden, sondern Menschen, die mir nahe sind. Umarmungen mag ich, liebe ich, brauche ich, geben mir den besten emotionalen Halt, doch alles andere? Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Neulich habe ich in einem Sitzkreis mit gemischten Sitzhöhen der Person neben mir den Kopf ans Knie gelegt, weil ich die Person mag und sie mich wohl auch, immerhin wurde mir als Reaktion der Kopf gestreichelt.

Ich will glauben, dass sich das gut anfühlt. Dass Menschen das mögen. Ich will es verdammt noch mal selbst mögen. Aber die Wahrheit ist: ich fühlte mich unwohl, fühlte mich plötzlich aufdringlich, fühlte mich, als hätte ich einer anderen Person eine emotionale Geste abgenötigt. Also habe ich meinen Kopf zurückgenommen, mich anders hingesetzt, mich entzogen, abgeschirmt, abgegrenzt. Und mich gleichzeitig gefragt, was mit mir nicht stimmt. 

Denn wenige Tage zuvor noch habe ich einer anderen Person Trost gegeben mit einer Umarmung, mit einer Hand auf der Schulter, dem Arm, der Hand. Ich wollte der Person zeigen: es ist sicher, deinen Schmerz zu fühlen, du wirst nicht darin versinken, ich bin hier, um dich zu halten. Weine dich an mir aus, ich bin ein sicherer Hafen. 

Ich weiß, dass Gefühle zu zeigen, Gefühle zu haben, Gefühle zu fühlen, keine Schwäche ist. Ich weiß, dass schwach zu sein keine Schwäche ist. Ich weiß, dass, wer immer nur stark zu sein versucht und nichts an sich heranlassen will, vor allem ängstlich ist. Was aber bin ich, wenn ich einfach nur taub bin und mir zumindest attestieren würde, relativ angstfrei zu sein?

Das geheime Gefühl zu haben und es mit niemandem teilen zu können, hat mich fast wahnsinnig gemacht. Ich habe mich so sehr in dieses Gefühl hineingesteigert, dass ich fast schon dummes Zeug deswegen gemacht hätte. Nichts gefährliches, aber einfach Unsinn. Dinge, die ich später ganz sicher bereut hätte. Ich war wie besessen davon, auf dieses Gefühl zu reagieren, egal wie - und wollte gleichzeitig nichts davon wissen. 

Schließlich habe ich es aus mir herausgeschrieben. Vor Jahren, vielleicht Jahrzehnten habe ich die Morgenseiten von Julia Cameron entdeckt in ihrem Buch "Der Weg des Künstlers". Jeden Morgen auf drei Seiten handschriftlich alle Gedanken, die mich beschäftigten oder auch nur streiften, festzuhalten und so meinem Gehirn die Möglichkeit zu geben, sie loszulassen, weil sie ja irgendwo aufgeschrieben und damit gesichert waren, hat mich viele Jahre stabilisiert. 

Also habe ich es wieder so gemacht: geschrieben, geschrieben, geschrieben, einen ganzen Tag lang alles, was sich in mir aufgestaut hat, Wort für Wort aus mir heraus und aufs Papier fließen lassen. Dachte ich anfangs noch, nach einer Stunde dürfte ich fertig sein, habe ich nach mehreren Stunden akzeptieren müssen, dass ich so viel in mir trage, das ich nicht ausgesprochen habe in den letzten Wochen, Monaten, vielleicht Jahren. 

Ich habe festgestellt, dass ich viele Momente nicht verarbeitet, viele Abschiede nicht betrauert, viele Ängste nicht konfrontiert und vor allem viele Gefühle nicht gefühlt hatte. Das ganze letzte Jahr beispielsweise war eine Operation am offenen Herzen und ich habe nie richtig innegehalten, um mich damit auseinanderzusetzen, was das mit mir gemacht hat. Mir war bewusst, wie allein ich zwischendurch auf dem Dachboden war, aber nicht, wie einsam ich war. 

Das Geheimnis wird noch eine Weile ein Geheimnis bleiben, ich werde es nicht verraten. Es spielt aktuell keine Rolle mehr, denn ich habe das Gefühl, das ich nicht fühlen wollte, verstanden. Habe verstanden, was es mir sagen wollte; habe verstanden, dass ich nicht loslassen konnte, so lange ich mich ihm verweigert habe. Indem ich dem Gefühl Raum gegeben habe, konnte ich mir selbst die Freiheit geben, anders auf mein Leben und das Gefühl darin zu blicken. 

Natürlich bin ich immer noch nicht wieder ganz. Wie auch? Ich trage immer noch Ballast mit mir herum, sonst begriffe ich beispielsweise meine Mobbing-Erfahrungen nicht als Teil meiner Biographie. Aber wir alle tragen Schmerz in uns, Erinnerungen, die uns belasten, aber eben auch Erinnerungen an gute Dinge, Zeiten, Menschen. Wir alle haben manchmal Geheimnisse und geheime Gefühle, und irgendwie ist das auch okay. 

Was nicht okay war, was niemals okay sein wird, ist sich den Gefühlen zu verweigern, sie zu ignorieren oder gar abzulehnen. Sie herunterzuschlucken, um sie nicht fühlen zu müssen, um sich nicht damit auseinandersetzen zu müssen: das kann nicht funktionieren. Wir müssen unsere Gefühle nicht unbedingt mit jemandem teilen, wir können sie Geheimnisse sein lassen. Aber wir müssen trotzdem akzeptieren, dass sie sind.

Denn das ist ja das eigentliche Problem: Nicht etwa, dass ich bei meiner Gefühlsverarbeitung manchmal Probleme habe, sondern dass uns alle betrifft. Wir alle kämpfen manchmal mit unseren Gefühlen, manchmal auch gegen sie. Die Welt wäre ein so viel besserer Ort, wenn wir lernen könnten, unsere Ängste und Hoffnungen, unsere Liebe und unsere Wut, unsere Unzufriedenheit, aber auch unser Glück durchleben zu können, ohne uns selbst oder anderen damit zu schaden.

Und wenn wir vor allem verstünden, dass auch alle anderen Menschen die gleichen Gefühle haben wie wir. Wir bestehen aus dem gleichen Material, sind alle aus der gleichen Matrix gewoben. Wenn wir das verstehen würden, wenn wir unseren Mitmenschen gegenüber empathisch zugeben könnten, dass auch sie natürlich nur Menschen sind mit den gleichen Gefühlen wie wir selbst, wäre die Welt ein besserer Ort.

Denn dann müssten wir nicht unsere Gefühle gegen uns oder gegen andere richten, sondern könnten offen sagen: Ich fürchte mich vor der Veränderung, ich liebe, wen ich liebe, ich bin wütend, weil ich verletzt wurde und nicht weiß, wie ich diese Verletzung heilen soll, weil ich Angst habe, dass darüber zu sprechen mehr noch zerstören könnte als nur mein Selbstwertgefühl.

Natürlich basieren die Kriege, die geführt werden, nicht allein auf diesen Gefühlen, sondern auch auf dem wenig konstruktiven Hass, auf ererbtem Aberglauben, auf geschürten Fehlannahmen, auf Lügen und Unwahrheiten. Wenn aber die Menschen einander wohlwollender, offener, wertschätzender begegneten und sie (siehe oben) als Teil von sich selbst begriffen, hätten diese Werkzeuge der Destruktion keinen Ansatzpunkt.  

Und das ist das eigentliche Geheimnis. 

Abruptum

Usus operi
Juni 25, 2023

Als sie mir das Geschenk überreichen, ein Album Best of Bühnenwolf, haben sie es fast geschafft. Für ein paar Sekunden fühle ich mich der Klippe nah, der ich mich seit Monaten fernhalte. Ich überlege zu springen, mich fallen zu lassen, mich einfach dem Sog zu ergeben, doch dann ist der Moment vorbei, ich stehe wieder sicher, die Vertigo ist vergangen, bin wieder stabil. 

Ist nicht so, als trauerte ich nicht. Oder eigentlich: als hätte ich nicht schon genug Tränen vergossen. Wobei: wie viele Tränen sind ausreichend, um zehn, zwanzig Jahre eines Lebens angemessen zu verabschieden? Wie viele habe ich nach dem Tod meiner Großeltern vergossen? Wie viele nach dem Tod der lieben Freundin? Wann darf ich mich mit zwei lachenden Augen auf und über die neue Stadt freuen und nicht nur mit mindestens einem weinenden?

Die Wahrheit ist: es wird nie genug sein und doch immer zu viel. Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass alle Freundschaften den Umzug überleben werden. Noch nicht mal, wenn ich mich ganz besonders anstrengte: es wird anders sein, weil ich einfach fort bin. Keine zufälligen Treffen, kein spontanes Kaffeetrinken, keine überraschenden Besuche, kein Theater mehr, keine gemeinsamen Projekte. Das ist vorbei. Diesen Teil der Entwicklung zu bedauern ist richtig und wichtig.

Andererseits ändert Weinen nichts, im Gegenteil steht jede Träne für einen verlorenen Moment, einen verschwundenen Punkt im Raum-Zeit-Kontinuum, eine ausgelöschte Zukunft. Wir beweinen, was wir nicht mehr haben werden, wir beweinen den Schmerz, der uns ausfüllt; wir trauern um das, was nie wieder sein wird, statt uns auf das zu freuen, was vielleicht kommen kann. Wir schauen zurück, klammern uns an das Vergangene - und verpassen Gegenwart und Zukunft.

Natürlich bewegen wir uns in verschiedenen Geschwindigkeiten durch diesen Abschied. Während ich mich seit dem Sommer (und seien wir ehrlich: im Grunde seit Jahren, Jahrzehnten) darauf habe vorbereiten können, war die Ankündigung für die meisten anderen doch eher abrupt und hat sie auch dementsprechend geschockt. Ich hatte Monate Zeit, mich zur Klippe vorzutasten und in die unermessliche Tiefe hinab zu starren, mich an die Perspektive zu gewöhnen. 

Ich hatte Gelegenheit, mir den Absprung vorzustellen; alle anderen jedoch habe ich mehr oder weniger über die Kante geschubst. Kein Wunder also, dass sie von dem Abruptum - sagen wir mal - unerfreut sind. Niemand wird gerne vor vollendete Tatsachen gestellt, und auch wenn es meine Entscheidung ist, was ich mit meinem Leben anfange: es tangiert letztlich alle Leben, die mit meinem verbunden sind, und sei es auch noch so lose. 

Ich weiß nicht, ob man lernen kann, solche Veränderungen, die ja letztlich sehr eigene sind, so zu moderieren, dass am Ende alle glücklich sind. Ich weiß, es gibt so etwas wie Change Management, aber dem liegt ja eine gemeinschaftlich zu erkennende Dringlichkeit zur Veränderung zugrunde. Diese Notwendigkeit ist ja hier nur knapp und sehr persönlich beim Mann und mir gegeben; alle anderen hatten kein Problem mit dem Status Quo.

Ähnlich bei meinem Coming Out vor zweieinhalb Leben: als ich nach Jahren der Introspektion plötzlich die Erkenntnis oder eher Akzeptanz gefunden hatte, mich als schwul zu identifizieren und mich nicht davor zu fürchten oder dafür zu hassen, wollte ich es auch nicht mehr für mich behalten. Dass das nicht alle begeistern würde - darauf hatte ich keinen Gedanken verschwendet. Warum sollte sich jemand nicht für mich und meine neu gefundene Selbstliebe freuen?

Stellt sich raus: Menschen wollen Sicherheit und mögen nur selten Überraschungen. Sie werden nicht gerne mit Fakten konfrontiert, die ihre Vorstellungen von der Welt (oder ihre eigenen Pläne) ins Wanken bringen können. Es scheint, als würde niemand gerne über den Rand einer Klippe geschubst. Wenn sie die Veränderung ahnen, Zeichen für einen bevorstehenden Wandel wahrnehmen können, dann ist es (vielleicht) akzeptabel. Wenn nicht, dann aber mal echt nicht. 

Ebenfalls zu besichtigen war das (vielleicht) bei Corona. Das hat ja auch niemand (außer Epidemiologys) so richtig kommen sehen und hat darum (fast) ausnahmslos alle gleichermaßen getroffen - bis die Veränderungsträgen plötzlich zu Anpassungsunwilligen mutierten und sich in einen ideologisch verbrämten Widerstand reinstilisierten, der an der virologischen Wirklichkeit komplett vorbeidriftete und nicht wenige Coronaleugnys das Leben kostete.  

Natürlich hätten wir uns alle am Status Quo verbeißen und daran ersticken können, aber so realitätsavers sind ja dann doch die wenigsten. Am Ende verstehen die meisten, dass sich die Dinge nun mal ändern, manchmal langsam, manchmal schnell. Dass alles immer gleich bleibt, das wünschen wir uns vielleicht. Aber dass das nicht so ist, wissen wir spätestens, wenn wir  morgens nicht mehr so elastisch aus dem Bett hüpfen wie vor zwanzig oder dreißig Jahren. 

Nun ist der Umzug insgesamt weniger dramatisch: niemand müsste mit einer Selbstlüge leben oder sich an die ECMO anschließen lassen, wenn der Mann und ich in Bad Nauheim blieben; im Gegenteil ging es uns - bis auf eine einsetzende Fatigue - ganz gut. Der Mann ist im Job an einer guten Position, im Theater hätte ich (Achtung, überspitztes Selbstlob) jedes Stück mit meiner Teilnahme geadelt. Und Bad Nauheim selbst? Einzigartig schöne Stadt, soziales Netz. 

Und doch: langweilig das alles. Dem Mann wird vor lauter Betriebszugehörigkeit demnächst eine versilberte Uhr aufgedrängt; meine Unausweichlichkeit im Theater wurzelt nicht zuletzt in meiner Selbstbestätigungsnot; Bad Nauheim ist anstrengend vergangenheitsverliebt. Nur das soziale Netz: nicht langweilig, aber eben doch löchrig. Die Pandemie hat gezeigt, dass irgendwie alle untereinander Vertrauenskontakte waren; mir und dem Mann allein blieben der Mann und ich. 

Klar, auch da gehört Einsatz dazu. Wer sich nicht meldet, weil er sich niemandem aufdrängen will, gerät leicht in den Hintergrund. Und wären wir im Abflauen der Pandemie schon umgezogen und nicht nach drei postpandemischen Theaterprojekten: wer weiß, ob das Abruptum ebenso empfunden worden wäre. So war ich nochmal eine kurze Zeit omnipräsent - und bin es demnächst kein bisschen mehr: einfach von der Klippe gekippt. 

Insofern ist da natürlich Abschiedsschmerz, in seiner Nostalgie fast schon überwältigend, während ich durch die Bilder im Album blättere und mich an die Momente dahinter erinnere: Mephisto, Verkündigungsengel, Feldprediger, Marquis Posa, noch andere, kleinere Rollen; vor allem anderen aber das größte Geschenk, das mir der Verein je gemacht hat: Die letzte Königin, mein eigenes Stück, die ultimative Selbstverwirklichung, nur ich auf der Bühne, drei Stunden lang. 

So, denke ich, ist es letztlich immer, wir sind am Ende immer allein auf der Bühne, können natürlich hoffen, dass die anderen in den Reigen einsteigen, sich auf uns verlassen, uns vertrauen, sich mit uns fallen lassen; aber am Ende sind wir für uns selbst verantwortlich. Für unseren eigenen Erfolg ebenso wie für unseren eigenen Schmerz. Wir können versuchen, ihn zu teilen, ihn mitzuteilen, doch wirklich spüren werden wir ihn nur selbst. 

Vielleicht habe ich deswegen im Grunde schon damit abgeschlossen, mich innerlich schon verabschiedet und jedes wir sehen uns nochmal vor dem Umzug gedanklich um ein vielleicht ergänzt. Nicht absichtlich, nur um sicher zu gehen. Ich habe mir den Rückweg mit all den Arbeiten in der neuen Wohnung ohnehin schon verbaut; und auch wenn wir natürlich das Ganze nochmal streichen könnten: trotz aller Angst vor dem Neuen freue ich mich auch darauf. 

Natürlich ist nicht gesagt, dass in der neuen Stadt nur alles super sein wird. Wir werden anfangs Schwierigkeiten haben, Anschluss zu finden. Klar, durch die Arbeit, durch den Alltag werden wir mit Menschen in Kontakt kommen, aber immer werden wir die neuen mit den alten vergleichen und nicht selten zum Schluss kommen: das Bad Nauheimer Netz, so löchrig es manchmal schien, es hielt doch, und es hielt gut und hat uns gut aufgefangen. 

In der neuen Stadt sind es erstmal nur der Mann und ich. Das ist nicht ganz schlimm, das wissen wir, im Zweifels- und Pandemiefall sind wir uns auch genug, ohne uns ausschließlich auf die Nerven zu gehen; aber manchmal braucht es eben auch Input von Außen, neue Gedanken, neue Gesichter, Disruption des Alltags. Vor allem brauche ich das, brauchte das, war doch vor allem ich als Arbeitsfreier von üblichen sozialen Kontakten abgeschnitten. 

Vielleicht - und das ist der letzte Gedanke, mit dem ich mir die Klippe vom Hals und die Tränen hinter der Maske zu halten versuche - sind die alten Freundys auch nur ängstlich, dass sie ersetzt werden könnten; dass ich irgendwann bessere Freundschaften schließen und die alten vergessen könnte. Dass ich sie nicht mehr brauchen und also nie mehr zurückkehren müsste.

Tatsächlich ist es wahrscheinlich eher so, dass - so unvorstellbar dem gebrannten Kind in mir das auch erscheinen mag - sie mich wirklich mögen. Dass wir einander nicht nur Knoten im sozialen Netz waren, sondern Herzensmenschen, die wir gerne sehen, hören und sprechen. Dass die miteinander verbrachte Zeit mehr war als Sekunden, Minuten, Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre und Jahrzehnte. Dass sie gemeinsames Leben war. Das eben nun vorbei sein wird. 

Den Schmerz darüber kann ich aber nicht teilen, will ihn niemandem aufdrängen, will ihn vielleicht aber auch einfach nicht formulieren, um die naheliegende Frage nicht beantworten zu müssen: wenn es so schmerzt, warum dann nicht bleiben? Warum den Plan nicht ändern, warum an etwas festhalten, das doch mitunter wie ein Fehler scheint und nicht ausschließlich wie ein Befreiungsschlag aus einem eingefahrenen Leben?

Und klar, vielleicht ist das tatsächlich nur, wie manche sagen, eine midlife crisis. Vielleicht anders behandelbar als mit einem Neuanfang in einer fremden Stadt. Ein Motorrad vielleicht oder ein junger Geliebter, ein Haus samt Hausboy? Ein neuer Job, eine Fortbildung, ein riskantes Hobby, ein Ayahuasca-Retreat? Vielleicht doch die Angst vor einer Absage über Bord werfen und sich als professioneller Schauspieler oder Autor versuchen? Ist vielleicht alles besser als das Abruptum.

Und doch gibt es gute Gründe, die für den Umzug sprechen. Allen voran das Haus mit Garten und die Heimat, die es verspricht. Die Familie, die in der relativen Nähe lebt und deren Nähe man vor allem angesichts der jüngsten Todesfälle mehr zu schätzen weiß. Die Notwendigkeit, sich in einer fremden Umgebung neu auszurichten und die alten Muster aufzubrechen. Die maximale Disruption also, noch dazu zu einem Zeitpunkt, an dem sie uns nicht nur überfordert. 

Die Menschen, die zurückbleiben, geben das, wenn sie nüchtern darauf blicken, schon auch zu. Es gebe Gründe, nachvollziehbare sogar, und wenn da diese Kleinigkeit von 300 km nicht wäre, würden sie uns auch vorbehaltlos unterstützen. So versuchen sie sich für uns zu freuen und sind doch für sich traurig. So wird es sich für uns alle eine kurze oder lange Weile anfühlen. Bis der Alltag wieder einsetzt und damit eine langsam voranschreitende Entflechtung.

Manche Freundschaft wird das nicht überleben, und vielleicht rührt auch diese Angst manche zu Tränen: dass dieses Wir, das es gab, dann einfach fort sein wird. Dass es ersetzt wird durch etwas, das dauernd mit der Vergangenheit verbunden sein wird und nicht mehr mit der Zukunft. Dass das Best of Wir nicht um neue Höhepunkte erweitert werden kann. Ob es das aber würde, bliebe ich, ist ja auch nicht gesagt. Wir kennen die Zukunft nicht.

Und so ist das einzige, das bleibt, sich hineinzustürzen in die noch bleibende Gegenwart, die Momente, die als Erinnerung bleiben sollen, so bewusst zu erleben, dass sie dem Schleifstein der Zukunft standhalten. Nicht immer wird das gelingen, manchmal werden wir ganz grandios daran scheitern. Die Angst vor dem Scheitern darf uns aber nicht aufhalten, denn einen Weg daran vorbei gibt es nicht, es geht voran, immer nur voran und niemals zurück.

Die Anknüpfung

Usus operi
Juni 1, 2023

Da geht man einen halben Tag mal nicht nur ins Internet, sondern nur spazieren und in sich, und schon kommen die Gedanken wieder hoch, wie das alles doch funktionieren kann. Oder besser gesagt: was da nicht funktioniert und wieso. 

Klingt abstrakt, wird aber sofort plausibel: Ich versuche, eine Welt wiederzufinden, die mir verloren ist. Ich hoffe, mit dem Umzug ein Stück meiner Identität wiederzugewinnen, das mir zu fehlen scheint.

Immer noch nicht genug: ich ziehe in meine Geburtsstadt zurück und kämpfe seither mit der Zerrissenheit meiner Erinnerungen daran, wie es hier war, und den neuen Bildern, die nach und nach die alten überlagern. 

Das Ding ist: ich habe hier nie richtig gelebt. Ich habe Wochenenden und Ferienwochen bei meinen Großeltern hier verbracht, große Teile meiner Familie lebten hier und sind noch in der Umgebung, ich war ein Semester hier an der Uni eingeschrieben und habe vergeblich versucht zu verstehen, was Studenten so tun, wenn sie nicht im Internet surfen. 

Meine alten Erinnerungen sind also vor allem mit den Menschen verknüpft, die ich hier kannte, vor allem mit meinen Großeltern und eben jenem Haus, in das der Mann und ich einziehen werden. Und klar kenne ich das Haus und die Wohnung, den Dachboden und den Garten; ich habe auch während dieses einen Semesters hier gewohnt. Aber ich finde mich hier nicht wieder. Was auch immer ich erwartet habe, es ist nicht da. 

Das ist ja nun nicht ganz schlecht.

Es kann durchaus hilfreich sein, ganz neu anzufangen, wenn man glaubt, in einer Sackgasse zu stecken. Tatsächlich sehen der Mann und ich das beide so: dass wir nochmal ganz neu anfangen. Nicht, weil es uns in unserem alten Leben schlecht ging; aber sehr wohl, weil wir eben neu anfangen können. Weil wir wissen, dass wir es jetzt noch können, und weil wir befürchten, dass wir es irgendwann nicht mehr können könnten. 

Und wie oft bekommt man denn auch eine Chance, in einer Stadt, die man schon einigermaßen gut kennt, einen kompletten Neuanfang zu machen? Vor allem noch mit dem Privileg eines geerbten Hauses in einer guten Lage? Ich kann hier sein, wer ich will, weil mich hier kein Korsett aus bekannten Identitäten in meiner Entfaltung einschränkt. 

Das Problem ist: ich weiß nicht, wer ich sein will. 

Und das viel größere Problem ist: ich erkenne ein Muster.

Vor einigen Wochen, als ich hier auf dem Dachboden saß und versucht habe, meiner Zeit als "Bauleitung" etwas produktives abzugewinnen, habe ich angefangen, Inhalte meiner verschiedensten Weblogs hier einzupflegen. Mit dem Effekt, dass ich jetzt Beiträge von 2004 bis 2023 mit teilweise großen Lücken dazwischen habe, die nicht ganz so groß sein müssten, wenn ich mal den Import abgeschlossen und nicht wie so viele angefangene Projekt einfach verlassen hätte.

Die Motivation dafür ähnelte dem Impuls, der mich jetzt immer befällt, wenn ich mir Teile des Hauses ansehe oder in Fotoalben blättere: Ich versuche mich selbst  zu erkennen und mich mit einer Version von mir zu identifizieren, die es nicht mehr gibt. Einer Version vor allem, die noch nicht so viel bedauerte und darum - so nehme ich das an - glücklicher war. 

Natürlich war ich früher nicht unbedingt glücklicher - von der Unmöglichkeit einer objektiven Messung mal ganz abgesehen. Aber das Bedauern, das sich manchmal als veritable Reue darstellt, das hatte ich früher nicht. Aber da war ich eben auch jünger und hatte nicht so viele Jahre, auf die ich zurückblicken konnte. 

Mit dem ganz abscheulichen Gefühl, große Anteile meiner Zeit vergeudet zu haben. 

Und das nicht, weil ich ja auch einfach direkt in Bamberg hätte bleiben und mein erstes Studium irgendwie beenden können. Dann hätten wir vielleicht den Dachboden vor 25 Jahren schon ausgebaut und ich hätte hier gewohnt, ich hätte als Germanist ...

Keine Ahnung, ist recht irrelevant für die Reue, die ja deutlich greifbarer auf dem großen Leerraum aufbaut, der sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten aufgetan hat; all der Zeit, die ich sinnbefreit durchs Internet gegeistert bin, Youtube- und Porno-Videos geschaut, mit Fremden gechattet, Breath of the Wild gespielt und ganz allgemein rumgedödelt habe. 

Denn jetzt, wo ich verstanden habe, dass ich eigentlich für nichts richtig qualifiziert bin, denke ich: was hätte ich in den letzten Jahren nicht alles an Zusatzqualifikationen machen können. Die Yoga-Ausbildung natürlich, die Schriftsteller-Ausbildung, den Resilienz-Trainer. Oder das Theaterwissenschaftsstudium, das Praktikum in der Näherei der Oper, die Assistenz in der Dramaturgie (gut, da bin ich nicht genommen worden, aber eventuell ist auch meine Bewerbung nicht angekommen, unklar, es hat niemand geforscht). Aber auch Fortbildungen im Ernährungsbereich, einen Trainer-Schein (als ich noch im Fitnessstudio war), vielleicht einfach nur eine Therapie? 

In den Blog-Import-Beiträgen eine Selbstbeschreibung von 2010 gefunden und erschrocken darüber, wie wenig ich mich doch verändert habe. Und dann aber gleichzeitig auch wieder überrascht, wie wenig ich noch diesem Menschen gleiche. 

Ist also nicht so, dass sich nichts geändert hätte. Dass ich mich nicht geändert, weiterentwickelt, fortgebildet hätte von dem Menschen, der ich damals war. Immerhin liegen da ein Dutzend Theaterstücke und einiges an bezahlter und ehrenamtlicher Arbeit dazwischen, natürlich auch Autorentätigkeit, Autodidaktik und Selbstanalyse (mitunter sogar Selbsterkenntnis). 

Und klar, ich hätte natürlich auch mehr machen können, mehr rausholen können aus meiner (Frei-)Zeit, weniger prokrastinieren in der Hoffnung, dass doch endlich der Tag vorbeigehen möge; und mehr Arbeit, egal, wie unglücklich sie mich gemacht hätte, weil der Mensch doch eine Aufgabe braucht, um nicht dauernd nur ans Aufgeben denken zu müssen. 

Aber ich habe ja auch beim Prokrastinieren gelernt, es ist ja nicht alles spurlos vorbeigegangen. Klar, mein popkulturelles Wissen ist nicht halb so beeindruckend wie meine Kenntnis mesopotamischer Geschichte (obwohl das Menschen auf Partys überraschend oft anders sehen). Und auch klar: die Theorie zu kennen, wie man Dinge erledigt, bedeutet noch lange nicht, dass irgendwelche Dinge tatsächlich erledigt werden. 

Aber Fakt ist ja, dass alles, was uns geschieht oder wir mit uns geschehen lassen, Spuren auf und in uns hinterlässt, uns formt und verändert und wir also - egal was wir tun oder lassen - nicht mehr die selben Menschen sind. Und wenn ich schon nicht zweimal durch den selben Fluss gehen kann (oder Bach; ich glaube nicht, dass ich durch einen Fluss gehen könnte, ohne davongespült zu werden), dann kann ich mir ja auch Zeit lassen. 

Natürlich werde ich mir auf dem Sterbebett nicht wünschen, noch ein Youtube-Video über Permakultur gesehen zu haben. Aber ich werde mir auch ganz sicher nicht wünschen, länger Käse verkauft zu haben. 

Eingangs schrieb ich (sinngemäß), ich jagte einer Welt nach, die mir verloren ist. Tatsache ist: es gab diese Welt nie. Die Erinnerungen, die ich aus meiner Kindheit, Jugend und auch meiner jungen Erwachsenenzeit habe: sie geben nicht die Realität wieder. In den späteren Jahren vielleicht noch am ehesten; aber selbst wenn ich mir Fotos aus den frühen 1980ern anschaue, wo ich in lustigen Stramplern oder Latzhosen durch die Gegend wackle, ist da zwar eine vergangene Version von mir abgebildet, aber ich weiß doch dadurch noch lange nicht, was in dieser Zeit war. 

Ich hätte damals beim Beerdigungsgottesdienst meines Großvaters schon stutzen können, als der Pastor sagte, der Verstorbene sei ein gottesfürchtiger Mann gewesen. Mein Opa - gottesfürchtig? Nicht, dass ich schockiert gewesen wäre, mir war bloß bis zu diesem Moment der Gedanke nicht gekommen, jemand könne ihn anders sehen als ich ihn sah. 

Mittlerweile weiß ich natürlich, dass die Menschen von außen und von innen anders aussehen - im wörtlichen und vor allem übertragenen Sinn. Damals aber erschien mir das seltsam inkongruent, wie eine Lüge, nur dass mir nicht klar war, wer da wen angelogen hatte und ob es tatsächlich Geschädigte gab. 

Zumal es ja eben die Welt, wie wir sie uns vorstellen, gar nicht gibt. 

Woran also will ich anknüpfen, wenn ich hier in der neuen Stadt nach Vertrautem suche und Möglichkeiten, mich zu orientieren? Was glaube ich zu gewinnen, wenn ich meine alten Blogs in das (nicht mehr ganz) neue stopfe?
Will ich mich konsolidieren, identifizieren, definieren? Oder will ich ganz im Gegenteil all die Unterschiede erkennen und mich anhand der Differenzen selbst erkennen wie einen Schattenriss? 

Vielleicht hoffe ich, durch die Sichtbarmachung des Korsetts, das meine Identität hält, mir selbst eine Möglichkeit zu geben, eben dieses Korsett auch aufzubrechen, mich wirklich von den Stricken der Vergangenheit zu befreien und tatsächlich neu anfangen zu können. 

Master of None

Usus operi
April 14, 2023

Das Vorstellungsgespräch übrigens: "sehr informativ" (Eigenzitat in der Absage). Augenöffnend die Frage, ob ich mir vorstellen könne, die nächsten zwei Jahre chronisch Kranke zu beraten, wie sie, wenn schon nicht gesund, immerhin weniger belastet leben können. 
Augenöffnend, weil: Nein, kann ich nicht, will ich nicht. Fühle mich weder stark noch qualifiziert genug. Beim imaginierten Gespräch mit ausgedachten Patienten den schlimmsten aller Sätze aus dem Unbewusstsein hochblubbern sehen: "Nun reißen Sie sich doch mal zusammen!"

Schlimm, weil er zeigt, wie ahnungslos ich im Umgang mit solchen Menschen tatsächlich bin. Vor allem, weil ich Ratschläge gäbe, an die ich mich selbst nicht hielte. Ich reiße mich ja auch nicht zusammen. 
Ich mache keinen Sport mehr, gehe nicht mehr zum Yoga. Die 25 Stufen zwischen der zu renovierenden Wohnung und dem Dachboden zählen nicht als Trainingsstrecke, egal wie oft ich sie gehe. Meine derzeitige Ausrede: nach dem Sport muss geduscht werden, das kann ich aber nicht. Könnte ich schon, wir haben eine Komplettdusche mit beboilertem Wassertank; aber der Aufwand! Oder halt Fitnessstudio. Aber ist halt Fitnessstudio. 
Tatsächlich geht es ja eh nicht um Körper-, sondern um Psychohygiene. Zusammenreißen bedeutet ja nicht einfach nur 100 Liegestützen am Tag, und dann ist die Welt gerettet. Zusammenreißen bedeutet:

Nicht auseinanderfallen. 

Manchmal glaube ich, dass Auseinanderfallen tatsächlich ganz hilfreich wäre. Wie bei der Wand zwischen Bad und Küche, bei der es besser gewesen wäre, sie komplett einzureißen und neu und schön und mit Platz für die Installationen wieder aufzumauern. So haben wir ein Flickwerk aus alter und neuer Verrohrung zwischen bröseligen Ziegelsteinen hinter glatter Putzfassade. Auch stabil, aber ich weiß, wie es unter der Oberfläche aussieht. 
Wenn man alles auseinandernimmt, kann man verborgene Altlasten entdecken und Schwachstellen, die stabilisiert werden sollten, bevor man sich neuen Zumutungen aussetzt. "Everything is falling to pieces, so all the pieces can fall into place", habe ich vor zehn Jahren mal in einem Anfall von Webdesign is my passion in eine Grafik gepummelt, und so banal das klingt, und so lahm das aussieht, so wahr ist es doch.

 

Andererseits ein Irrglaube, man könne einfach so Ballast abwerfen und sich neu erfinden. A clean slate, ein Neuanfang. Gibt es nicht, ist nicht drin, die Hardware lässt sich nicht austauschen. Selbst ein neues Betriebssystem müsste ja um unzugängliche Datencluster heruminstalliert werden, weil die sich nicht defragmentieren lassen. Bleibt nur, das Alte mit dem Neuen zu vermählen. Das Beste aus zwei Welten.

Oder eben nur das, was möglich ist. 
Die weitere Stellensuche offenbart vor allem, was nicht möglich ist. Das Vorstellungsgespräch hat mir zwar gezeigt, dass ich mir viel zutraue. Gleichzeitig bin ich überfordert, meine Stärken und Qualifikationen zu identifizieren. Warum gerade ich für diese Stelle geeignet sei, wurde im Gespräch gefragt. Ich konnte schlecht sagen: "Haben Sie denn nicht meinen Lebenslauf gelesen?" Immerhin spiegelten meine Stationen die Anforderungen doch deutlich wieder. Gleichzeitig fiel mir da erst auf, dass das nicht reicht. Ich wusste nicht einmal, ob ich diesen Job überhaupt machen wollte und, wenn ja, warum. 

Die Wahrheit ist: Ich weiß nicht, warum ich im Besonderen für diese oder eine andere Arbeit qualifiziert sein sollte. Ich schrieb mal, ich sei ein Jack of all Trades. Tatsächlich aber hatte ich keine der Stellen in meinem Lebenslauf, weil ich qualifiziert war, sondern weil ich es wollte. Wenn mich etwas angesprochen hat, habe ich es getan. Und selbst bei meinen letzten Job hat sich nur die Geschäftsführung gefragt, ob ich für den Verkauf von Käse im Biomarkt nicht überqualifiziert sei. Ich hatte andere Prioritäten: Brotjob mit Krankenversicherung. Hat dann trotzdem überraschend viel Spaß gemacht. 

Stellenanzeigen lösen aktuell eine unterminierende Dialektik aus: Klar kann ich das, denke ich, aber bin ich dafür qualifiziert? Von wegen Jack of all Trades: Master of None! Durchgemogelt überall, selbst meine Bühnenkarriere verdanke ich keiner entsprechenden Vorbereitung, sondern vermutlich nur meiner verdächtig großen Befähigung zu Lüge und Selbstverleugnung. 

Zusammenreißen ist da nicht.

Was sollte ich auch zusammenreißen? Wie sollte ich einer nicht fixierten Struktur, die dauernd ihre Anforderungen ändert, eine feste Form geben? Ich bin kein fertiges Werk, ich halte immer nur Momentaufnahmen fest. Und weiß gleichzeitig, dass ich mich möglicherweise schon im nächsten Moment in eine komplett andere Richtung entwickle. 
Insofern vielleicht kein Wunder, dass ich mir so vieles für meine Zukunft nicht vorstellen kann, wenn ich schon meine Gegenwart nicht greifen kann. 

Gleichzeitig ist ja meine Vergangenheit auch kein leicht zu überschauender Pfad. Davon abgesehen, dass ich große Teile meiner Erinnerungen als unbrauchbar wegsortiert habe, hatte ich auch nie wirklich feste Bande, innerhalb derer ich mich bewegt habe. Ich habe die Regeln, nach denen ich lebe (und damit mich selbst) immer erst in eben jenem Moment erfunden, in dem ich sie gebraucht habe. Und wenn irgendwas nicht passte, dann passte es halt nicht, und dann passte ich mich eben an. 

Vielleicht ist das eine dieser Stärken, die ich bei Fragen in Vorstellungsgesprächen anbringen sollte: dass ich mich gut anpassen kann, dass ich offen bin für Neues, sei es noch nicht erlerntes Wissen oder unbekannte Situationen. Ich habe eine große Resilienz, könnte ich das beim nächsten Mal sagen, um dann noch hinzuzufügen: Und diese Resilienz kann ich  weitergeben, auch an Menschen, die glauben, mit Zusammenreißen allein sei alles getan. 

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Hallo, ich bin der Täter

Usus operi
August 3, 2022

Recht einfach, sich als Opfer zu fühlen. Hat viel für sich, und man spart sich alle weiteren Ausreden. Die Umstände sind schuld, die Umwelt, alle, nur nicht ich selbst. Ich nämlich bin frei von aller Verantwortung. 

Der Preis der Freiheit

Natürlich ist das Quatsch, denn wer wenn nicht ich trägt denn Verantwortung für mein Leben? Und damit natürlich nicht nur für meine Erfolge und Niederlagen, sondern vor allem auch für die Art, wie ich mich selbst sehe und präsentiere.

Freiheit, das ist die lästigste Erkenntnis aller Zeiten, verdammt das Individuum dazu, den eigenen Weg zu gehen. Nein, nicht nur zu gehen, sondern erstmal in das Dickicht der Möglichkeiten hineinzuschlagen. Kein Wunder, dass sich manche Menschen lieber in Abhängigkeiten begeben, in Positionen der Schwäche, der Nach- oder Mitläuferschaft. Frei zu sein bedarf es angeblich wenig, tatsächlich ist es aber anstrengend, und sich selbst in Unfreiheit zu begeben oder zu halten, ist deutlich entspannter.

Der Preis der Unfreiheit

Natürlich ist auch das ein Trugschluss. Unfreiheit bedeutet Kompromisse und Akte gegen die eigenen Überzeugungen. Bedeutet das Aufgeben der eigenen Ziele. Und letztlich auch der eigenen Individualität.

"Sei du selbst, alle anderen sind schon vergeben", ist ein weiteres tolles Selbsthilfezitat. Die Wahrheit ist ein bisschen drastischer: sei du selbst oder sei gar nicht. Wer die eigene Individualität aufgibt, wer sich in Abhängigkeiten begibt, gibt sich selbst auf.

Man muss nicht in der Ukraine leben, um die Tragweite dieser Erkenntnis zu verstehen - und ihre eigentliche Konsequenz. Wer nicht für die eigene Freiheit kämpft, wer beschließt, in Unfreiheit zu leben, wer sich also selbst aufgibt, hat sein Leben verwirkt.

Ohn|macht|los

Natürlich haben wir die Wahl. Immer und in allen Situationen. Schlimmer: in jeder einzelnen Sekunde und selbst da wahrscheinlich mehrfach. Wir treffen bewusst und unbewusst andauernd Entscheidungen, die mal kurz- und mal langfristige Konsequenzen nach sich ziehen. Stehe ich gleich auf oder lese ich erst noch ein Kapitel? Esse ich Haferflocken oder Rührei? Packe ich am Vortag der Reise oder erst kurz vor der Abfahrt? Stelle ich mich in den übervollen Regionalexpress oder setze ich mich in die langsamere, aber eben auch leerere S-Bahn? Kämpfe ich für meine Freiheit oder gebe ich auf?

Das Extrembeispiel Ukraine zeigt, wie grauenvoll die Alternativen manchmal sein können: wer in der Ukraine für die eigene Freiheit kämpft, begibt sich in reale Lebensgefahr. Die Entscheidung für die Freiheit ist möglicherweise eine Entscheidung für den eigenen Tod.

Der Preis des Lebens

Andererseits: So unterschiedlich wir Menschen auch sein mögen, so sehr wir uns auch von allen anderen Lebewesen unterscheiden mögen, so sehr eint uns der Umstand unserer Sterblichkeit. Das mag banal klingen, hat aber die sehr einfache Konsequenz: Früher oder später werden wir unabhängig von all unseren Entscheidungen ohnehin sterben. Der Preis des Lebens ist der Tod.

Warum also nicht in der Ukraine für die Freiheit kämpfen und riskieren, dabei ums Leben zu kommen? Oder, weniger dramatisch und mehr auf meine Situation bezogen: Warum nicht alle Zweifel aus dem Fenster werfen und das Buch einfach schreiben - egal, was irgendwer sagen könnte. Zumal - und das ist die schlimmste aller Erkenntnisse - es wahrscheinlich niemanden interessiert, ob ich das Buch schreibe oder nicht.

Tat- & Tätersachen

Der einzige, der tatsächlich ein Interesse an diesem Buch (oder auch all meinen anderen Geschichten) hat, bin ich. Und ich bin auch der einzige, der mich dazu motivieren kann, es zu schreiben; wie ich ja auch der einzige bin, der mich letztlich davon abhält.

Ich bin derjenige, der nicht schreibt, ich bin derjenige, der sich in die Unfreiheit der Opferrolle begibt, ich bin derjenige, der die Verantwortung für mein Glück trägt oder eigentlich nicht trägt, sondern zugunsten größerer Bequemlichkeit abgibt. Ich habe mich allzu häufig darauf ausgeruht, ein Opfer zu sein. Weil es geht. Weil ich offensichtlich an mir selbst desinteressiert genug bin, dass ich nicht an mir und für mich arbeiten muss und mir trotzdem einreden kann, glücklich zu sein.

Und so unterdrücke ich mich einfach dauernd selbst, verschwende darauf meine Energie, bis ich ausnahmsweise mal wieder nicht aufpasse und dann plötzlich wieder das Entsetzen verspüre, dass seit den letzten Sätzen an der Geschichte schon wieder Wochen, wenn nicht Monate vergangen sind. Und dann suche ich natürlich einen Menschen, bei dem ich die Schuld für mein Versagen abladen kann. Und finde natürlich niemanden.

Der Fluch der {guten} Tat

Der Täter tut. So simpel. Und umgekehrt: Wo niemand tut, da kein Täter. Wo also höchstens ich selbst mich in Unfreiheit halte, da bin ich Opfer und Täter zugleich. Ziemlich blöd, denn ich könnte beides ja aufgeben - oder vielleicht einfach umkehren: statt alle Energie in Selbstmitleid zu stecken, könnte ich auch Self Empowerment betreiben, wie das heutzutage heißt.

Das einzige Problem dabei: ich weiß nicht, wie das geht. Ich habe das nicht gelernt, meine lang gelebten Muster sind eher solche der Selbstaufgabe. Und ich bin mittlerweile so gut darin, diesen Mustern zu folgen, dass ich mich selbst sabotieren kann ohne darüber nachdenken zu müssen.

Sollte ich nun also aus dieser Schonhaltung ausbrechen wollen, erfordert das Arbeit und Anstrengung, eine eben ganz andere Täterschaft. Und vor allem: ein andauerndes Weitertun, ankämpfend gegen den ewig lockenden Stillstand. 

Die Unwahrscheinlichkeit der Entropie

Es gibt die durchaus einleuchtende Theorie, dass eine gewisse Unordnung unvermeidlich ist, ja dass eigentlich alles im Universum auf Chaos zusteuert, auf ein endloses Auseinanderdriften, bis das größtmögliche Durcheinander erreicht ist.  Natürlich ist diese Theorie falsch. Nicht, weil Universen nicht auseinanderdrifteten und unsere Wohnstätten nicht fast von alleine immer wieder ungeeignet für spontanen Besuch gerieten. Sondern weil schon auf molekularer Ebene immer ein Zustand größter Ordnung angestrebt wird. So falten sich beispielsweise Proteine bei ihrer Produktion überwiegend selbst, bis sie einen Zustand größter Stabilität erreicht haben, was zufälligerweise eben auch der Zustand geringster potentieller Energie ist.

Wobei, Zufall ist das ja nicht. Wir alle streben nach der Stabilität des geringsten Energieaufwandes. Wenn wir ehrlich zu uns sind, dann liegen wir doch lieber auf der Couch als bei größter Sommerhitze den Wildwuchs im Garten zurückzuschneiden. Wenn wir die Wahl hätten, uns ein Getränk zu holen oder eines gebracht zu bekommen, wie würden sich die meisten Menschen wohl entscheiden?

Die Entropie des Universums, also das Auseinanderdriften aller Materie in einen Zustand größter Unordnung, ist eine Illusion - oder vielmehr eine Momentaufnahme. Denn tatsächlich ist die Ausbreitung der Entropie nur eine Folge allergrößter Kraftentfaltung: dem Urknall.

Lost in Komfortzone

Nun muss man nicht zwangsläufig bis zum Beginn unseres Universums zurückgehen, um zu verstehen, wie Dinge funktionieren (oder eben auch nicht). Aber der Urknall ist eben auch eine hervorragende Analogie dafür, dass es manchmal eines großen Knalls bedarf, um Veränderungen in Gang zu setzen.

Politik arbeitet in der Regel so. Längst veraltete Systeme werden so lange am Leben erhalten, bis sie so dysfunktional geworden sind, dass gar nichts mehr funktioniert. Und weil dann keine rettende (Ab)Lösung zur Verfügung steht, ist das Geheul erst mal groß auf allen Seiten. Wenn es gut läuft, reißen sich dann alle zusammen und kommen irgendwie weiter. Aber wann läuft irgendwann schon mal was gut?

Niemand verlässt gerne die Komfortzone, ich schon gar nicht. Ist ja Aufwand, Erfolg ungewiss; am Ende lohnt sich das gar nicht, sich anzustrengen, außerdem kann ich mich doch auch kurzfristig mit Dopamin belohnen statt einen langfristigen und vielleicht komplizierten Plan umzusetzen. Wenn es denn überhaupt einen Plan gibt.

Disziplin für Anfänger

Disziplin, so eine weitere, vielleicht letzte Selbsthilfeweisheit, bedeutet, auf das zu verzichten, was man haben kann, um das zu bekommen, was man haben will. Und nein, ich habe gar nicht so viele Ratgeber gelesen, wie es scheint. Ich verbringe einfach nur zu viel Zeit im Internet. Selbst bei Pinterest werde ich zugeworfen mit Tipps, wie ich endlich meine Lebensziele erreichen kann und total glücklich werde.

Ist natürlich Quatsch, Pins pinnen auf Pinterest wird mich meinem Nirwana nicht näher bringen. Tatsächlich braucht es harte Arbeit, Hingabe und vor allem Eigenverantwortung für das optimale Selbstentfalten. Ich bin der Autor meiner Geschichte, im übertragenen wie eben auch im eigentlichen Sinn. Wenn ich ein Buch schreiben will, muss ich mich einfach nur ernst nehmen und eben ein Buch schreiben. Die Ausreden aufgeben und ein Buch schreiben. Mich täglich hinsetzen, keine Sudokus machen oder YouTubes gucken, sondern das Buch schreiben. Jeden Tag, immer ein bisschen und vielleicht manchmal ein bisschen mehr. Und da braucht es keine Aufforderung, keine Erlaubnis, kein Bitten und Betteln, da braucht es einfach nur: Tun. Und mich als Täter der guten, der richtigen Tat.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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