Das wilde Herz | ANDERSWOLF

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Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Das wilde Herz

Von der Front
März 27, 2023

Eigentlich will ich nur den ganzen Tag in der frisch aufgeräumten Dachbodenkammer zu Wild Heart von CATT tanzen. Vor allem, wenn die Synthie-Trompeten einsetzen gegen Ende, da läuft mir die Musik gänsehautig über den ganzen Körper; mit geschlossenen Augen und rhythmisch sich hebenden Armen will ich mich in der freigelegten Raummitte drehen, in jeder Runde mal einen Blick aus dem Fenster auf das aprilige Spätmärzwetter werfend, das mal Schnee, mal Regen, mal Sonnenschein, mal alles gleichzeitig bietet und manchmal einfach nur das Dunkel eines mitten in der Stadt unerwartet unbeleuchteten Hinterhofes. 

Eigentlich.

Uneigentlich gibt es Dinge zu tun. Nicht nachts um halb elf oder gegen Mitternacht, aber tagsüber. Morgens wollen die Handwerker ins Haus gelassen und begrüßt werden; obwohl sie wahrscheinlich wissen, was sie zu tun haben, habe ich doch das Gefühl, dass ich ihnen hilfreich zur Seite stehen muss, sollte es doch mal bauherrliche Entscheidungen zu fällen geben. Weitere Räume im Dachboden wollen auf- und vor allem ausgeräumt werden; klar, ich kann nur umschichten, die Handwerker sind im Haus, ich kann nicht wirklich weg, Sperrmüll entsorgen oder die abgezogenen Tapeten aus acht Räumen (inklusive Küche, Bad, Toilette, Flur) zur Müllverbrennung fahren. Und irgendwann sind auch hier oben alle Böden gewischt.

Also doch Computerarbeit: die Cloud ausmisten, doppelte und dreifache Daten aus unprofessionell durchgeführten Datensicherungen zusammenführen, Redundanzen ausmisten. Alte, ältere und uralte Blogbeiträge ins aktuelle Blog importieren (und sich nebenbei über das Geschriebene und schon wieder Vergessene wundern, manchmal auch darüber lachen). Vor allem Merkwürdigkeiten löschen: PDFs, die vielleicht mal hätten wichtig sein können, unbeabsichtigte Screenshots, auf Verdacht installierte, aber komplett ungenutzte Software (offensichtlich wollte ich auch mal Musik komponieren). Zwischendurch eine Bewerbung für eine komplett unerwartete Stellenausschreibung verfassen, weil das gesuchte Profil zu sehr meinem Lebenslauf ähnelt, als dass ich an meinem Vorsatz hätte festhalten können, mich erst um eine Arbeitsstelle zu bemühen, wenn ich tatsächlich hier wohne.

Natürlich auch viele Videos gucken, nicht unbedingt Musik (aber auch), sondern eher zu Gartengestaltung, Home-Office-Einrichtung, sogar Videos zu Waschtischarmaturen gibt es. Natürlich auch Booktube, Zelda-Hype, ASOIAF-Theorien und andere Popkultur. Ich habe so viele Interessen, zu viel, das mein Kurzschlussgehirn befeuern kann, meine Konzentration flackert schneller als ein Stroboskop. Ich lenke mich schon wieder ab, lenke mich dauernd ab, auch wenn das mitunter nur mit einem Buffy-Podcast ist, was das Aufräumen des Dachbodens sehr erleichtert, weil ich nicht dauernd alles hinterfrage, was ich in die Hand nehme, aber so richtig voran komme ich damit auch nicht. Sowohl die Podcasts als auch der aufgeräumte Dachboden sind nur temporary fixes, weder fange ich was mit dem Gehörten an, noch will ich hier oben wohnen; ansonsten könnten wir uns die Handwerkerorgie im zweiten Stock schenken. 

Andererseits.

Die Ablenkung scheint mir wichtig. Hätte ich sie nicht, ich müsste nachdenken. Ausnahmsweise nicht über mich selbst, die Selbstreflexion erschöpft sich momentan arg. Ich bin zu sehr zerstreut zwischen Orten und Zeiten, als dass ich mich um meine Befindlichkeiten kümmern könnte oder wollte. Später, wenn die Offensichtlichkeiten abgearbeitet sind: das Vorstellungsgespräch, das Bad, die Küche, die Fenster, der Garten. Die Farbe und Einrichtung des Arbeitszimmers. Der Abschied von der alten Wohnung, der alten Stadt und - viel dramatischer - von den alten Freunden. Die Wochen hier haben mir gezeigt, dass es mir im Zweifelsfall leicht fällt, Brücken abzubrechen. Oder, zutreffender, sie dem Verfall preiszugeben. Jedes Gespräch mit den Menschen in Bad Nauheim fühlt sich jetzt schon nach Abschied an, jedes "Bis zum nächsten Mal" kann sich auf April, Mai, Weihnachten oder 2024 beziehen. 

Viel schlimmer als das Mikrodrama des Abschieds von eigenen Gewissheiten ist aber das Wegbrechen der restlichen Normalität. Und ja, ich muss den eigentlich unweigerlichen Zusatz dazuschreiben: Was auch immer das sein soll. Normalität ist ein soziales Konstrukt, Kontrolle ist Illusion, die Wirklichkeit ein höchst subjektiver Zustand. Ich habe einen Blogbeitrag vor Jahren zur Wahrnehmung geschrieben, falls ich ihn beim weiteren Importieren wiederfinde, verlinke ich ihn hier. Über vermeintliche Kontrolle habe ich vielleicht im Rahmen der nur oberflächlich behandelten Pandemie geschrieben, ich erinnere mich schon nicht mal mehr, ob ich wirklich etwas über Corona geschrieben habe oder nicht. Vielleicht hatte ich da von Anfang an die gleiche Fatigue, die auch die Pandemie-Überlebenden von 1918 erfüllte, weswegen wir kaum Quellen von damals haben. Und Normalität ... Pft. 

Tatsächlich gibt es zu viel, worüber ich schreiben wollte, wenn ich mich nicht nur mit mir beschäftigen wollte. Der Krieg gegen die Ukraine, die Menschenrechtsverbrechen im Iran, das Abdriften Israels in den Faschismus, den irrlichternden Lobby-Konservatismus in den Vereinigten Staaten, der Drag und Abtreibungen verbietet, Waffengesetze und menschenfeindliche Strukturen aber unangetastet lässt. Und über allem der Klimawandel, der sich nicht übersehen, nicht wegdeuten, nicht mehr aufhalten lässt, auch wenn manche Menschen das nicht wahrhaben und wieder andere entweder gar keine oder nur die offensichtlich falschen Antworten darauf haben. Ach so, außerdem war heute Großstreik, weil die Inflation schneller die Gehälter von Durchschnittsverdienern auffrisst als sie erhöht wurden, während Gutverdienende immer häufiger zu Noch-besser-Verdienenden wurden. Von Menschen, die schon vor den aktuell über ein Dutzend Krisen kurz vor oder schon in Armut lebten, mal ganz zu schweigen. Erwähnte ich schon strukturellen Rassismus?  

Immerhin muss ich mich nicht auch noch um Fußball kümmern. 

2023 fühlt sich derweil an wie eine einzige Baustelle; und das mag durchaus an meiner sehr offensichtlichen Baustelle im zweiten Obergeschoss liegen. Tatsächlich aber fühlt sich die Welt im Allgemeinen so an, als sei zu viel auf einmal ins Rutschen gekommen, einiges durch Zufall, anderes durch Agitation, manches hat sich angekündigt, vieles scheint aus heiterem Himmel über uns hereingebrochen.

Und vielleicht ist das mit der Baustelle ja auch gar keine falsche Wahrnehmung: wir erleben einen Moment in der Erinnerung der Menschheit, der wie keiner vorher so vielen Menschen so präsent war. Wir sind in der Wahrnehmung der Welt bis ins Walz- und Walzenwerk der Geschichte vorgedrungen: vor unseren Augen legen sich die Ereignisse wie Lettern auf die Buchseiten der Ewigkeit, angetrieben vom unaufhörlichen Vergehen der Zeit presst sich die Zukunft auf dem Tiegel der Gegenwart in Vergangenheitssubstrat. Wir sehen direkt zu, wir sind so nah dran wie nie zuvor. Die Geschichte wird nicht mehr von den Nachkommenden, nicht von Historikern geschrieben: wir alle machen sie, und wie bei der Herstellung von Wurst sind wir nicht nur begeistert über die Art und Weise, wie das passiert. 

Dass das überfordernd ist, verwundert nicht. Dass sich Menschen in Ablenkungen flüchten, in die scheinbare Sicherheit sozialer Blasen zurückziehen, in der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit schnell konfrontativ, mitunter sogar beleidigend werden, vielleicht in ihrer Hilflosigkeit und Panik rasch an die Grenze zur Gewalt (oder darüber hinaus) geraten; das ist nicht abwegig. Und doch nicht akzeptabel. Weder aus dem sehr offensichtlichen Grund, dass die eigene Überforderung mit der Gegenwart nicht zur Gefahr für die Zukunft anderer werden darf; noch aus dem viel dringlicheren Grund, dass wir alle miteinander am selben Strang ziehen sollten. Die Probleme, deren Eskalation wir gerade mit offenen Augen und Mündern beiwohnen, sprachlos, tatenlos, ahnungslos; wir können sie nicht alleine lösen, ja selbst als Gemeinschaften, als Städte, als Bundesländer, als Einzelstaaten sind wir nicht in der Lage, die eruptiv ausfransende Zukunft wieder zu zähmen. Es braucht uns alle. 

Ich habe übrigens keine Antwort auf das Dilemma. Ich will ja auch nur am liebsten den ganzen Tag Musik hören, die Augen geschlossen, die Arme gehoben, will tanzen und nicht auf das Chaos da draußen achten müssen, doch mein Herz, mein wildes, mein wütendes, mein weinendes, mein fürchterlich hoffnungsvolles Herz will glauben, dass wir das Ruder doch noch mal herumreißen können, nur dieses eine Mal, ein vielleicht letztes Mal noch, danach kommt hoffentlich und endlich die Zeit, in der alle Probleme gelöst sind und vielleicht doch noch Weltfrieden kommt. 

Dass das gleichermaßen naiv wie rahmschnitzelig klingt, ist mir bewusst. An das Gute im Menschen zu glauben angesichts der täglich empfangbaren schlechten Nachrichten von den Dingen, die sich die eben doch nicht so guten Menschen gegenseitig antun, ist eine ganz eigene Herkulesaufgabe. Aber es ist das Mindeste, was ich tun kann; denn das empathische Mitfühlen mit den anderen, das Erkennen, dass andere Menschen eigene Sorgen und Nöte und Hoffnungen haben und mitunter sogar eine eigene, vielleicht nicht immer hochkompatible Persönlichkeit besitzen; das Akzeptieren also, dass andere Menschen eben auch nur Menschen sind und dass in allen von uns ein wildes Herz schlägt, ist doch der erste, unabdingbare Schritt auf dem Weg in eine bessere gemeinsame Zukunft. 

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
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