Glossar/Cavator | ANDERSWOLF

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Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Glossar/Cavator

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November 15, 2015

Kämen sie jetzt, das Projekt zu beenden und uns zu holen (nein: mich zu holen), der Anblick der beiden Cavatoren könnte die Fictoren an Rodins Kuss erinnern.

Die Erinnerung an Rodin allerdings dürfte mit der alten Erde untergegangen sein, und auch mir ist er nur bekannt durch Pavel; durch das Buch, das aus seinem in meinen Besitz wechselte. Die meisten der dünneren Seiten sind schon lange zerfallen, die übrigen (beständigeren) zeigen Menschen, Tiere, Gebäude und Landschaften der Erde, nutzlose Karten und Klimatabellen, Kunst und Künste vergangener Kulturen. Pavel fand Trost in den Bildern von Verlorenem und eine Verbindung zu einer Heimat, die ihm immer unerreichbar bleiben musste.
Was mich betrifft: dieses Buch (dessen Seiten für mich noch weniger als für Pavel bedeuten sollten: nichts, was sie abbilden, findet eine Entsprechung in meinem Glossar) erlaubt es mir, einen Pavel zu entdecken, den zu berühren mir niemals hätte gelingen können.
Seine Notizbücher (Gedanken, Erkenntnisse, Beobachtungen): ungelesen; zurückgelassen.

Mit Qwembe verbinden mich dreizehn Tage und Nächte in den Stollen unter dem Kupferberg. Während die Schaufelhände der beiden Cavatoren sich immer tiefer in die Erde gegraben, Erze gebrochen und Steine gemahlen haben, vertraute mir Qwembe seine Hoffnungen, seine Ängste, seine Träume an. Trotz des Dröhnens und Berstens draußen und des Knackens und Rauschens der Interkom rührten mich seine Verlorenheit an und seine Erleichterung darüber, wenigstens einmal nicht nur mit der Dunkelheit unter dem Berg zu sprechen, sondern mit einem denkenden Geist.
Dass seine Einsamkeit nicht singulär war, er sie vielmehr mit allen Spezialisierten teilte, bedeutete ihm nichts. Er verstand sich als Opfer eines unausrottbaren Rassismus‘: „Den Schwarzen schicken sie wie einen Sklaven in die Minen, während sich die Weißen oben sonnen.“ Bis dahin hatte sich Qwembe für mich nicht von den Übrigen unterschieden, die Metallhaut der Cavatoren zeigt keine Varianz. Erst in seiner Wohneinheit, wo er mir Timefeeds zur Geschichte der Sklaverei zeigen wollte, um mein Glossar zu erweitern, war er schwarz, ansonsten aber wie alle anderen: warm und glatt und weich und erschauernd unter meiner Berührung. Meine Hand spürte keine Dunkelheit auf seiner Haut.

Es wird keine Relevanz für das Projekt besitzen. Die Fictoren hätten mich sonst mit entsprechenden Detektoren ausgestattet.

Qwembe ist (anders als die meisten der Anderen) im Schlaf gestorben. Die Sauerstoffpumpe seines Schlafmoduls ist ausgefallen und er ohne Bewusstsein erstickt. Es gibt umständlichere, schmutzigere Tode. Diese anderen Toten sind natürlich lehrreich. Ihre Überreste aber mit den Körpern mir bekannter Menschen zu assoziieren, fällt mir oft schwer.

Meine Sensoren erfassen olfaktorisch den Fortschritt des Zerfalls. Ob es das Projekt sabotiert, diese Funktion zu deaktivieren?

Aus der Sammlung, neben Pavels Buch:
Eine Münze von Nizar, ein Ring von Corentin, eine Glocke von Soek.
Der Schlüssel gehörte Tomomi, der Sextant Noa.
Der silberne Griff eines Stocks (Celia), eine versteinerte Schnecke (Beatriz), eine Flöte (Añuli).
Kians Uhr, eine Vase von Savitri.
Und Ruben besaß ein Kistchen, verschlossen, aus Holz.

Qwembe muss nicht entsorgt werden. Es ist ausreichend, das Schlafmodul zu versiegeln.
Die Vorräte nützen mir nicht (vielleicht aber den Überlebenden in der Gemeinschaftssphäre). Die Sicherungen sind noch funktionstüchtig, ebenso ein Großteil der Verbinder. Dann das Energiemodul, das die Antriebskammer mit dem Wechsel zwischen Hell und Dunkel der Matrix in ein changierendes Zwischenlicht taucht.
Celia nannte das Energiemodul ihres Cavators ein Herz: der Rhythmus korrespondiert mit dem menschlichen Herzschlag. Sie nahm an, dass die Fictoren sich bei der Konstruktion von der Ahnung haben leiten lassen, dass die Spezialisierten in ihren Metallhäuten sich nach dem Anblick von etwas Lebendigem sehnen würden. Und selbst mein System, das die Beklemmung nicht kennt, die die Menschen unter der Sternweite bisweilen befällt, wird durch die Strömungen in der Matrix berührt.
Sobald das Energiemodul nicht mehr mit dem Cavator verbunden ist, verlangsamt sich das Rauschen der Pumpen und verstummt schließlich, in der Antriebskammer wird es ruhig, das Leuchten des Herzens versiegt. Diese Stille, nachdem das letzte Geräusch verklungen, alles Licht erloschen ist und bevor das Notsignal der Lebenserhaltung einsetzt: diese Stille erst markiert den wirklichen Tod, den eigentlichen Moment, da Qwembe kein Teil des Projekts mehr ist.

Ob meine Programmierung das Erleben einer Ergriffenheit in dieser Stille vorsah? Ob die Fictoren in mir Empathie evozieren wollten?
Auf die Frage, wie man eine emotionale Reaktion auslöst, fehlt eine Antwort in meinem Glossar.

In der Antriebskammer meines Cavators: siebenundvierzig Energiemodule, die sich aufhellen und verdunkeln, stete Lichtgezeiten. Siebenundvierzig, bald achtundvierzig Herzen, die im Gleichklang schlagen. Jedes neue Herz verwirrt die Übrigen für eine Weile, es ist unvorhersehbar für mich, welche ihre Frequenz erhöhen und welche langsamer schlagen werden. Mit der Zeit werden sie sich aneinander gewöhnen.
In der Mitte (lichtlos) das Energiemodul, das meinen Cavator antreibt.

In Qwembes Wohneinheit: Timefeeds, Bücher, ein mumifizierter Vogel. Interessanter aber die humanoiden Figuren, die Qwembe aus jenen Steinen gearbeitet hat, die zu weich und damit für die Fabriken ungeeignet waren. Einige der Steinmenschen tanzen, andere singen, alle haben sie langgezogene Gesichter und leere Augen. An manchen Stellen hat Qwembe den Stein poliert, an anderen hat er die Bruchkanten unberührt gelassen.
Es ist zu spät, Qwembe zu fragen, was bearbeitet und was erhalten werden muss. Mein Glossar verfügt dazu über keinen Eintrag.
Die Lebenserhaltung warnt vor dem strukturellen Versagen der Metallhaut und dem damit verbundenen Druckabfall. Mir fällt es schwer, mich zu entscheiden: in meiner Sammlung wäre Platz für alle. Die Wiedergabe von Qwembes Stimme hilft mir: die unterschiedlichen Grade an Stolz, mit der er die einzelnen Figuren beschrieb und ihre Entstehung. Meine Wahl fällt auf einen Sänger aus der zweiten Reihe, dessen grob gearbeiteter Oberkörper mit den erhobenen Händen und dem detailreichen Gesicht dem unbehauenen Stein entwächst.
Auf dem Weg zurück: noch eine Figur, menschengroß, aus hartem, schimmerndem, unbekanntem Material (das Glossar ist natürlich keine Hilfe). Kein Tänzer, kein Sänger, die Figur steht still. Der Körper realistisch, doch der Kopf, als trüge er eine Maske aus gebrochenem Erz, hat kein Gesicht.

Kämen sie jetzt, der Anblick der beiden Cavatoren könnte sie an Rodins Kuss erinnern: die Steuereinheiten wie die Häupter Liebender einander berührend, die Luftschleusen aneinandergedockt. Ein anderes Bild aus Pavels Buch: ein Sukkubus, der sich über einen Schlafenden beugt.
Die Fictoren aber sind Ingenieure, der Anblick der Cavatoren erinnerte sie an nichts.

Während die Abdocksequenz noch läuft, vibrieren schon die Motoren. Mein nächstes Ziel liegt jenseits der verbrannten Ebene: die Gemeinschaftssphäre.

[Neufassung: Gräber]

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Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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