Ein Abendland-Märchen | ANDERSWOLF

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Ein Abendland-Märchen

Von der Front
März 13, 2016

So geht das: Ein Volk, von den Göttern gesegnet, aber nicht saturiert von Reichtum und Reich, sucht nach der Quelle allen Glücks. Die Gesegneten erobern Land um Land, knechten Volk um Volk, doch vom Glück fehlt jede Spur. Sie finden es erst bei Menschen, die tagtäglich auf ihren Feldern die Früchte ihrer Arbeit ernten und sich ihrer selbst genug sind. Die Gesegneten suchen das Glück den Glücklichen zu rauben, doch alle Angriffe schlagen fehl. Und da die Götter ihren Segen einmal geben und zweimal nehmen, ist die schmachvolle Niederlage nicht die einzige Strafe des Hochmuts: Das glanzvollste Reich der Welt geht unter innerhalb eines Tages und einer unglückseligen Nacht.

Dieses Reich taucht erstmals in einer Erzählung Platons auf. Es handelt sich um die sagenhafte Insel Atlantis, deren Herrscher von Poseidon, dem Gott des Meeres selbst abstammen sollten. Der Reichtum von Atlantis ist so legendär, dass selbst Jahrtausende nach seinem Untergang noch immer Schatzsucher nach seinem Verbleib forschen. Die Gier, die diese Menschen antreibt, überdeckt symptomatisch das wichtigste Detail an Platons Geschichte: Atlantis ist untergegangen, weil die Atlantiden nicht das Glück erkannten, das sie besaßen. Die Götter, die ihren Segen gegeben hatten, nahmen ihn zurück, als klar wurde, dass die Menschen ihn nicht schätzten. So geht das.

Jetzt fragt Ihr: Wolfgang, was für ein Märchen erzählst Du uns da in einer Zeit, da man Worte wie Volk, Heimat, Vernichtung und Untergang spärlicher dosieren sollte als Tonkabohnen-Abrieb? Präziser und berechtigter müsstet Ihr fragen: Hä?

Platon berichtete von Atlantis, weil ihn das Hegemoniestreben Athens sorgte. Mich dagegen erinnert an Atlantis der vielfach (und fälschlich) beschworene Untergang des Abendlandes. Der Kern unserer Botschaft aber ist derselbe: Wer ignoriert, dass der wahre Wert einer Gesellschaft sich nicht in Land und Geld und Macht bemisst, sondern in der Stärke und dem Zusammenhalt ihrer Gemeinschaft, riskiert den Zerfall und Untergang eben jener Gesellschaft. Nach Platon nahmen die Götter ihren Segen, mir scheint wahrscheinlicher, dass jenen, die alles besaßen, alles zu wenig war. Weil sie nicht verstanden, wie gut es ihnen ging, gierten sie nach mehr und verloren alles.

Schön und gut, sagt Ihr, Atlantis ist ja nun weg und Platon tot. Was ist mit dem Abendland? Wann geht das genau unter, wir haben nämlich noch einen Friseurtermin nächste Woche. Können wir den Untergang des Abendlandes nicht timeshiften und ihn uns an Ostern ansehen statt „Stirb langsam“?

So geht das nicht. Das Abendland geht, sofern überhaupt existent, jetzt unter. Jeder Brandanschlag, jeder Hasskommentar, jeder Galgen versenkt ein Stück des Abendlands. Das Abendland geht unter, weil einigen Menschen nicht das Herz bricht angesichts von Waisen, die nach 3000 km Flucht in mazedonischem Stacheldraht sterben. Weil einigen Menschen tausende Tote im Mittelmeer nicht reichen. Weil einige Menschen aus Angst vor Terror selbst zu Terroristen werden. Sie vergessen das Fundament der freien und offenen Gesellschaft dieses Abendlands. Sie vergessen ein Gut, das so wichtig ist, dass sein Schutz im Grundgesetz verankert ist: Die unantastbare Würde des Menschen.

Was derzeit in Europa geschieht, gleicht einem Unfall in Zeitlupe. Das atlantide Europa, dem es nach blutigen Jahrhunderten gelungen ist, sich auf der Basis der Menschenwürde eine friedliche und reiche Heimat zu erbauen, zerfällt in narzisstische Nationalstaaten, die sich gegenseitig die Schuld für den Verlust des Glücks zuschieben. Als Zuschauer ist man entsetzt, seit Wochen und Monaten unfähig zu einer Reaktion, während diejenigen, die schon immer laut sein wollten, ihre Stunde für gekommen sehen. Sie aber werden weder das von ihnen verhasste Europa retten noch die darin verwurzelte Würde. Doch kein Hass der Welt wird das Abendland retten. So geht das nicht.

Was also tun, fragt Ihr? Ich weiß es noch nicht. Aber klar ist: Schweigen alleine wird die Stimmung nicht wandeln. Wir, die lange geschwiegen haben, werden wieder unsere Stimme erheben müssen, um unsere Werte, allen voran die Würde des Menschen, zu verteidigen. Anders wird es nicht gehen.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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