Essen, Emotion, Erinnerung | ANDERSWOLF

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Essen, Emotion, Erinnerung

Trophisches
Februar 15, 2011

Essen und Erinnerung sind ja nicht so sehr zwei Paar Schuhe, wie viele gerne denken. Wobei… weiß ich nicht. Denken das viele? Für mich bestand da schon immer eine enge Verbindung. Essen, Emotion, Erinnerung, ein potentiell gefährlicher Dreiklang, der bei vielen vor allem heißt: durch Essen (meist Schokolade) gute Emotionen erlangen (z.B. Freude), um böse Erinnerungen (oft Liebeskummer) zu übertönen. Es kann aber auch anderes bedeuten: eingelegter Kürbis weckt bei mir die Erinnerung an einen traumatischen Kindergartentag, als ich im Auftrag meiner Mutter von mir fremden Leuten abgeholt und in deren Küche gesetzt wurde, wo gerade – wait for it! – Kürbis eingelegt wurde. Ich kann bis heute keinen eingelegten Kürbis essen ohne an einen kleinen dunklen Raum mit Resopaltisch zu denken. Meiner Ansicht nach ist das aber auch kein großer Verlust.

Was wir mögen, welche Geschmacksnuancen wir erkennen, unsere gesamte Aromenklaviatur spiegelt unsere Erfahrungen mit Essen wieder. Als ich in der sechsten Klasse war, wurde ich für die Behauptung „Essen bildet“ ausgelacht, überwiegend weil ich zu diesem Zeitpunkt fett war, und übermäßiges Essen natürlich Fettpolster bildet. Ein Fragment dessen, was ich damals tatsächlich meinte, kann jeder, der jemals in Asien war bestätigen: man lernt sehr viel schneller etwas über fremde Kulturen, wenn man einheimische Speisen isst. Man lernt dabei zudem, wo die eigenen Grenzen liegen. Bei den einen ist das noch weit vor Gorgonzola, Andere essen auch angebrütete Enteneier. Geschmack ist unanfechtbar, nicht zum Streit geeignet, vor allem aber individuell.

Eine Weinprobe, Menschen verschiedener Herkunft sitzen am selben Tisch, trinken den gleichen Wein. Man assoziiert, wonach dieser Wein jetzt schmecken könnte und enthüllt dabei ungewollte Details über seine Vergangenheit. Der Herr von schräg gegenüber hat im Chardonnay Barrique eben eingerittenen Damensattel im Wein geschmeckt, ich dagegen leichtes Ananasaroma und einen Hauch vom Kompost aus dem alten Garten meiner Eltern. Nicht aus dem neuen Garten, da riecht alles überwiegend nach Pferdeapfel, es muss schon der alte sein, wo man noch das Moos und die Zwetschgen und die Walnuss in der feuchten Luft schmecken konnte. Der Herr von schräg gegenüber hat offensichtlich mehr Zeit in Gegenwart eingerittener Damensättel verbracht als ich, er wiederum versteht meinen Vergleich nicht sofort. Wir sitzen am selben Tisch, trinken den gleichen Wein und sehen kein einziges gemeinsames Bild.

Die Erfahrung, die wir beim Essen machen, der Wille, einzelnen Aromen nachzuschmecken, die Bereitschaft, auch neuen Geschmacksrichtungen gegenüber offen zu sein, all das erweitert unser olfaktorisches Spektrum und auch unsere Fähigkeit, unsere geschmacklichen Eindrücke auch in Worte zu fassen. Im Biomarkt konnte man einen Winterkäse kaufen, und obwohl viele Kunden tatsächlich „Der schmeckt nach Weihnachten!“ riefen, wussten doch die wenigsten den recht eindeutig rausschmeckenden Zimt als Verantwortlichen zu benennen. Andere Dinge, die nach Weihnachten schmecken, tun dies weniger wegen des Zimts, sondern eher der Gewürznelke oder des Kardamoms wegen. Und weil die wenigsten wissen, wie Kardamom eigentlich schmeckt, erinnert sie die tunesische Merguez plötzlich auch an Weihnachten, obwohl da in rauen Mengen Kreuzkümmel drin ist, was aber irgendwie auch exotisch ist, gut schmeckt und daher auch wieder wie Weihnachten ist, nur eben mit Palmen. Oder wie man sich eben Exotik vorstellen mag. Die sieht ja bei manchen mehr nach Ananas aus.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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