Traumfern | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Traumfern

Von der Front
November 10, 2004

Nach dem Schnee und vor den neuen winterlichen Ejakulationen wandert man anderntags durch die Welt, Spuren des abendlichen Untergangs suchend. Nichts findend, denn die Welt schweigt darüber, was nicht hätte sein dürfen, nicht wirklich hätte geschehen dürfen, als sei es ein Traum gewesen.

Aber man ist vorsichtiger heute, die Menschen sind stummer geworden, jetzt schon, die Mienen der Menschen sind jetzt schon winterlich leer, die ersten Depressionen schleichen durch die Straßen, auf der Suche nach der nächsten, doch nicht vorhandenen Klippe, von der man sich stürzen könne. Doch fündig wird man nicht, solange der Schnee nicht wieder liegt.

Und dann ist da doch noch die fröhliche junge Frau aus dem Computerladen, die immer mit sich selbst spricht, weil zwischen dem einen und dem anderen Kunden immer Tage vergehen, sie selbst sitzt immer hinter ihrem Schreibtisch und schaut auf den Bildschirm, dessen Bilder ihr nichts bedeuten, sie selbst träumt von anderen Orten, von anderen Dingen, von anderen Menschen. Die junge Frau bietet mir einen Katalog an, nicht zum Kaufen, nur zum Träumen. Bedürfnisweckung nenne sich so was, sage ich, ihr Nicken bemerkend. Träumen dürfe man ja, sagt sie, keine Träume zu haben, sei ja auch nicht schön. Ich stimme ihr zu und gehe wieder, den Katalog unter dem Arm.

Daheim denke ich an den anderen Träumer, der in Paris im Koma liegt, der auch einen Traum hatte und der diesem Traum sein Leben untergeordnet hat. Jetzt wird um das Erbe dieses Mannes gerungen, jeder möchte noch schnell seine Schäfchen ins Trockene bringen, bevor man den armen Mann sterben lässt. Sein Leib wird begraben werden am Ort seines jahrelangen Hausarrestes, seine in diesen letzten Jahren gehegte Hoffnung, man könne sich noch friedlich einigen mit dem jahrtausendealten Feind, wird neben ihm in die Erde gescharrt, die mühsam niedergehaltene Glut wird aufflammen und erneut wird brennen, was schon längst verbrannt und Asche sein sollte.

Nichts wärmt mir heute mehr das Herz, während ich weiter am Fenster sitze, den blick über die Stadt streifen lasse und mir Gedanken über den nächsten Tag und den Tag danach und dann alle danach mache.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
mit Erkenntnisgewinn.
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