Der Narr, der den Riesen geblendet hatte | ANDERSWOLF

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Der Narr, der den Riesen geblendet hatte

Textualitäten
März 31, 2022

An jenem wie an jedem anderen Morgen stand Outis auf, wusch sich an dem Bach, trocknete seinen Leib und band sich den Schurz um die Hüfte. Er holte sich ein Stück Brot und trank einige Schlucke vom süßen Wasser, bevor er zu den Tieren ging. 
Die Wachteln musste er suchen: sie versteckten sich gerne im Unterholz. Mit einigen Bröseln des harten Brotes jedoch konnte er sie hervorlocken. Die größte und wohl älteste Wachtel, vielleicht auch die Mutter der übrigen neun, pickte ihm eine große Krume direkt aus den Fingern, danach schmiegte sie ihren Kopf in seine Hand. Outis hatte sie Gedächtnis genannt in der Hoffnung, dass wie sie auch seine Erinnerungen sich einmal locken ließen und zu ihm zurückkehrten. 
Eine Weile saß er zwischen den gurrenden Vögeln und streichelte ihre Köpfchen, bis sich die Ziege näherte, der er den Namen Vergessen gegeben hatte. Sie musste er nie suchen, sie fand ihn an jedem Tag ohne sein Zutun. Vergessen meckerte leise, stupste seine Hand mit den Nüstern an, bis er den Rest des Brotes freigab, das sie mit Knuspern und Knirschen zerbiss und dann schluckte. Wieder stupste sie ihn an, erst sanft, dann fordernder, doch Outis sagte: „Ich habe nichts mehr.“ Da ließ sie von ihm ab und trottete wieder fort.
„Ich habe nichts mehr“, wiederholte Outis und sah den Wachteln nach, die wieder im Unterholz verschwanden, um dort nach Würmchen, Gräsern und Samen zu picken. Dann stand er auf und ging wie an jedem anderen Morgen ans Ufer, um in der Sonne zu sitzen und das Meer zu betrachten. 

Seit Wochen, Monaten oder Jahren schon war Outis nun hier zu Gast bei Hirte und Jägerin und ihrer stets vor ihm verborgenen Mutter. In seiner Zeit hier hatte er letztere noch nicht gesehen, weilte sie doch beständig in dem kleinen Hain aus Zypressen, Weiden und Erlen, den zu betreten er bislang vermieden hatte. Dort buk sie das Brot, und sie molk auch die Ziege und verarbeitete die Milch zu Käse, den ihre Kinder ihm brachten, zusammen mit Obst, Gemüse, Oliven und Wein. Sie hatte ihm auch ein Tuch gewebt, das er abends um sich legte, wenn Hirte ihn besuchen kam und ihn seine Lieder zu singen lehrte. Manchmal setzte sich auch Jägerin zu ihnen und unterhielt sie mit Geschichten. Die meisten Abende aber verbrachte Outis allein an seinem kleinen Feuer und folgte dem schläfrigen Mäander seiner Gedanken. 
Am Abend jenes Tages setzten sich Hirte und Jägerin zu Outis. Jägerin erzählte von einem Narren, der einen Riesen zu blenden versucht hatte, dann wob Hirte auf der Lyra eine in sich verschlungene Melodie. Outis hört eine Weile zu, dann sagte er: „Ich kann mich an Sterne erinnern und an den Mond. Die Nächte früher sind nie so dunkel gewesen.“ 
Tatsächlich hatte er in all seiner Zeit hier noch keinen einzigen Stern gesehen, der Himmel wurde nach Sonnenuntergang stets so finster wie das Innere seines Kopfes. Outis hatte das nicht hinterfragt, hatte es als weitere Selbstverständlichkeit hingenommen, doch nachdem er früher am Tag die fremde Küste gesehen hatte, waren ihm alle Selbstverständlichkeiten abhandengekommen. Ihm war zumute gewesen, als habe ein Boot den Berg einer Welle erklommen und sei dann am höchsten Punkt über den Kamm gekippt, um wieder hinab zu sinken ins Wellental. Angesichts des Festlands auf der anderen Seite des Meeresarms hatte er erkannt, dass der Boden unter seinen Füßen weder fest noch Land war.

Am Abend jenes Tages also sagte er zu Hirte und Jägerin: „Ich habe heute Land gesehen, zu weit entfernt, um hinüber zu schwimmen, aber doch Land. Ich mag mir selbst ein Niemand sein, aber ich weiß mit der Gewissheit eines Lebenden um das Schlagen des eigenen Herzens, dass es dieses Land gestern dort nicht gab.“
Hirte und Jägerin sahen Outis an mit ihren strahlenden Augen, die nicht vom Licht der Flammen glänzten, sondern von innen heraus, als brenne in ihnen ein ganz eigenes Feuer, silbern bei Jägerin und golden die Augen von Hirte. Wäre dieses Strahlen nicht gewesen, Outis hätte die beiden für die schönsten aller Menschen halten können: jung und kraftvoll, makellos mit seidenglatter Haut und schimmerndem Haar; diese Augen aber, mit denen die beiden ihn ansahen, verrieten ihre Unmenschlichkeit: Sie waren Götter, die ihn zu sich genommen hatten, um ihn mit der Leere in seinen Erinnerungen zu quälen. 
„Den halben Tag habe ich nach Erklärungen gesucht. Das Land kann nicht über Nacht aus dem Meer aufgestiegen sein, also müssen wir uns bewegt haben. Doch wie? Sind wir etwa nicht auf einer Insel, fragte ich mich und fand: Nein, denn das hier“, er schlug auf den Boden, der nun, da Outis um die Nichtinseligkeit wusste, für ihn spürbar zurückfederte, „ist keine Erde, und doch wachsen Blumen und Büsche und Bäume darauf. Ich kann in einem glatten Kreis an der Meereskante entlanggehen, doch nirgends eine Bucht, nirgends eine Anse, nichts, das den Saum des Ufers durchbricht. Unter der Wasseroberfläche aber habe ich große eingewölbte Flächen entdeckt, wie Bootsrümpfe, doch ohne Planken, Spanten oder Mastschuh.“ 
Mehr um diese Kehlung sich selbst zu verdeutlichen als dem Hirten und der Jägerin, legte er die Hände an der Seite der kleinen Finger aneinander, als wolle er Wasser schöpfen, doch als ihm auffiel, wie sehr diese Geste einer Bitte um Mildtätigkeit glich, ließ er die Hände fallen und hob stattdessen die Augen, um sich mit dem Mut des Verzweifelten den glühenden Blicken der Götter zu stellen. 
„Ich bin zu einem Schluss gekommen, zu einer Erkenntnis so einfach wie widersinnig: Das hier“, er schlug erneut auf den Boden, „ist eine Blüte, groß genug, um einen kleinen Wald zu tragen. Und ich sehe keine Sterne und keinen Mond, weil sich diese Blüte abends schließt und so die Nacht vor meinen Augen verbirgt.“ 

Hirte sagte leise zu seiner Schwester: „Ich sagte doch, er ist schlauer als du denkst.“
Und Jägerin sagte ebenso leise zu ihrem Bruder: „Doch ist er schlau genug, um zu verstehen?“

„Was ich nicht verstehe, ist: Warum? Ich zweifle nicht daran, dass Ihr in Eurer Göttlichkeit auch eine Blume von der Größe eines Kriegsschiffes erschaffen könntet; doch warum bin ich hier? Was habe ich Euch getan?“ Und da erfasste Outis ein Schrecken. „Oder bin ich doch schon gestorben und glaube nur, mein Herz schlagen zu spüren?“
Da erhob sich Hirte, umrundete das Feuer und hielt Outis die Hand hin, um ihm aufzuhelfen. Ohne nachzudenken, ergriff Outis die Hand des Gottes. Erst zu spät fiel ihm ein, dass er, der Sterbliche, noch nie den Unsterblichen berührt hatte, und Entsetzen lähmte ihn. Doch Hirte, dessen Hand sich anfühlte wie die eines zwar starken, aber dennoch gewöhnlichen jungen Mannes, zog ihn ohne Mühe auf die Beine. Und dann war da auch schon Jägerin, die seine andere Hand nahm, mit festem, weniger freundlichem Griff. Nebeneinander standen sie vor ihm, hinter ihnen das auflodernde Feuer, das Outis' Blick auf sich zog, so dass er die Götter vor ihm kaum noch ausmachen konnte. Ihre Stimmen jedoch schmolzen ihm durch Haar und Haut und Knochen und Mark direkt in seine Gedanken.
„Zwar bist du dem Tode nah“, sagte Jägerin. Und Hirte sagte: „Doch dein Leben ist noch nicht vorbei.“
Und hinter ihnen und hinter dem Feuer, das noch einmal aufbrannte und dann in sich zusammenfiel, sagte eine Frau, die niemand anderes als die lang verborgene Mutter der göttlichen Zwillinge sein konnte: „Noch bist du fern der letzten Ufer, noch ist dein Werk nicht ganz getan.“ 
Outis‘ Sicht war noch geblendet von den Flammen und doch erfasste sein Geist im Dämmerlicht der glimmenden Kohlen die Gestalt dieser Frau: sie hielt sich aufrecht mit dem Stolz einer Königin, ihre Hände jedoch hatte sie in einer Geste des Willkommens geöffnet. Ein Teil von Outis' Geist ahnte, dass diese Frau schön sein musste, ihr Gesicht allerdings war, als trauerte sie, hinter einem schwarzen Schleier verborgen. Als sie sprach, war ihre Stimme honigsanft: „Du bist aus freien Stücken unser Gast, und es steht dir frei, uns zu verlassen, wann immer du willst.“
„Warum aber kann ich mich nicht daran erinnern?“ Outis hatte Schwierigkeiten zu sprechen, nicht nur der Erhabenheit eines vermeintlichen Sakrilegs wegen, sondern auch, weil es ihn alle Kraft kostete, nicht in Tränen auszubrechen. „Habe ich Euch etwa ums Vergessen gebeten?“
„Ja, mein Kind“, antwortete die Verschleierte, „ja, das hast du.“
Und dann war sie bei ihm und schloss ihn in ihre Arme und er weinte, wie er lange nicht geweint hatte. Alles in ihm krampfte sich um sein heftig schlagendes Herz, sein ganzer Körper bebte unter dem Ansturm einer Verzweiflung, die er bis eben noch nicht in sich gekannt hatte. Bilder stiegen in ihm auf: Wunden an seinem Leib, an seinen Händen fremdes Blut, Körper, über die er hinwegstieg, seine Waffe schwingend, schreiend, fluchend, weinend. Er sah sich selbst töten, wahllos auf Lebende, Sterbende und Tote einschlagend, um sich herum Dutzende Soldaten, die im abgehackten Flackern einer brennenden Stadt fliehenden Männern, Frauen und Kindern nachjagten. Er stand inmitten von Leichen, und er hörte sich lachen, und er erkannte den Wahnsinn darin, und er verstand, warum er hatte vergessen wollen, und dann er erinnerte sich an mehr.
„Ihr wart dort“, sagte er, seine Stimme nur noch ein Flüstern. „Ich habe Euch gesehen. Ich habe gegen Euch gekämpft.“
„Ja“, sagte die Frau hinter dem Schleier, „wir waren dort und wurden Zeugen deines Mordens.“
Outis entwand sich der ebenso tröstenden wie schrecklichen Umarmung. „Und doch habt Ihr mich hier aufgenommen und mir die Seligkeit des Vergessens geschenkt?“
„Wir haben dir eine Zuflucht gegeben, als du uns darum batest, aber nicht wir haben deine Erinnerungen genommen. Das hast du selbst getan. Du wolltest dich vergessen.“ Die Verschleierte trat beiseite, so dass er hinter ihr einen abgeflachten Hügel sehen konnte, auf dem der Körper eines Mannes lag, durchscheinend wie aus mattem Licht gewebt. Outis erkannte, als er nähertrat, sein eigenes Gesicht auf diesem Mann: hager mit schütterem, von grauen Strähnen durchzogenem Bart, über einer durchfurchten Stirn langes, schwarzes Haar mit Silberfäden darin. Der Mann, der Outis' Züge trug, schien zu schlafen, doch was er träumte, quälte ihn sichtlich. 
„Du warst ein flaches Boot auf einem tiefen Meer, überladen mit Reue. Sie drohte, dich ins Nichtsein hinabzuziehen. Ein Rest von Weisheit rettete dich: All das vergossene Blut sollte nicht für nichts gewesen sein. So entkamst du dem Tod, so entkam dir die Welt. Sieben Jahre sind vergangen ohne dich.“
„Werde ich zurückkehren?“ Outis deutete unbestimmt auf den zitternden Mann. „Muss ich dieses Leben wieder aufnehmen? Kann ich es überhaupt? Sollte ich es wollen?“
„Es ist das Glück der Sterblichen, nichts über ihr Schicksal zu wissen. Wir werden dir nichts befehlen, wir werden dir nichts raten. Du wirst tun, was du willst.“
„Aber Ihr seid Götter!“ rief Outis aus und bereute sofort seinen Ausbruch. Ruhiger sagte er: „Ihr besitzt die Macht über Leben und Tod, Ihr habt gewiss auch Macht über mich.“
„Es ist wahr, wir verfügen über mehr Kenntnisse und Möglichkeiten als die Sterblichen. Doch auch uns sind Grenzen gesetzt. Auch wir beugen uns einem Schicksal. Wir tragen die Last der Unsterblichkeit und die Bürde von Wissen, Wahrheit und Erinnerung.“
Und die Jägerin, die in dem Moment, in dem sie sprach, neben Outis trat, sagte: „Wir können töten, und jedes Leben, das wir nehmen, ist unauslöschlich in unsere Seele eingeschrieben.“
Und der Hirte, der bis eben noch nicht wieder neben Outis gestanden hatte, sagte: „Wir können heilen, und jene Leben, die wir retten, sind unentwirrbar mit unserer Seele verbunden.“
Und die Frau mit dem Schleier sagte: „Richteten wir über dich, machte es das Leid, das du verschuldet hast, geringer? Nähme es den Trauernden ihr Leid? Wäre die Welt ein besserer Ort?“
„Nein“, sagte Outis, das Wort bitter in seinem Mund und bitterer noch seine Gedanken. Doch sagen konnte er nur: „Nein.“ Und dann: „Ich will zurückkehren.“
Und alle drei, Hirte, Jägerin und verschleierte Frau, sagten zugleich: „So sei es.“

Da erlosch das Glühen der Glut und hoch über ihnen brach ein Licht durch einen Spalt in der Finsternis. Outis blickte hinauf in einen achtzackigen Stern aus hellblauem Himmel, dessen Kanten sich rasch verlängerten und bis auf den Horizont herabsanken, während die Lichtlosigkeit mehr und mehr ausblich und nur das Licht eines Morgens zurückließ, als die Blütenblätter unter der Wasserlinie verschwanden. Und auch die Bäume, Sträucher und Blumen waren fort. 

Outis stand im Zentrum einer kreisrunden Ebene, die bewachsen war mit weißblühendem Klee und gelbdoldigem Kraut. Neben ihm standen Hirte und Jägerin, vom Tageslicht durchschienen. Ihre Mutter war nicht mehr zu sehen. Zwischen ihnen sprudelte eine Quelle aus vier Öffnungen einer niedrigen Aufwölbung. 
Erinnerungen stürzten auf Outis ein: die Jahre des Kriegs, das Taktieren, das Gemetzel, die Opfer davor und danach. Aber auch an das Leben, das er früher geführt hatte, erinnerte er sich, als König an einem eigenen Hof mit einer ihn liebenden Frau und einem kleinen Sohn. Und dann auch an den Moment kurz vor seinem Vergessen, an den Schatten einer Frau mit einem Schleier, die zu ihm von der Macht der vier Quellen gesprochen hatte. Die erste bringe den Tod, hatte sie gesagt, und die zweite das Vergessen und die dritte … Doch Outis war schon auf die Knie gefallen, hatte die Hände wie eine Schale ins Wasser getaucht und getrunken. Geschöpft und getrunken, geschöpft und getrunken. Geschöpft und …
All diese Gedanken türmten sich wie Felsen auf die Ruhe in seinem Inneren. Kurz stach ihn die Sehnsucht nach dem Stupsen einer Ziege und dem Gurren der Wachteln. Alles war so einfach gewesen, so konsequenzenlos unwichtig. 
Doch Outis bat nicht um die Gnade erneuten Vergessens, sondern ging in Begleitung der geisterhaften Zwillinge zur Meereskante, wo er sein Boot an einer speerartig aufragenden Blütenzunge befestigt fand. Hirte reichte ihm einen Wasserschlauch und Jägerin einen Sack mit Proviant. Outis bedankte sich wortlos, kletterte in das Boot, setzte das Segel und überließ sich dem Westwind.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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