Unser tägliches Gift gib uns heute | ANDERSWOLF

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Unser tägliches Gift gib uns heute

Trophisches
Januar 7, 2011

Hat man eigentlich vor dem aktuellen Lebensmittelskandal jemals über die Produktionsbedingungen der Ware Fleisch nachgedacht? Darüber, dass die fabrikale Prozessierung von Tieren nicht nur den Tieren jegliche Würde nimmt, sondern auch jenen, die sie wie nachwachsende Rohstoffe in Produktionsketten einschleusen, und darüber hinaus auch den Konsumenten, die von der Verarbeitung eines Tiers zum Konsumprodukt Fleisch mittlerweile weniger wissen als von der Herstellung einer Nudel? Darüber, dass der mittlerweile entwickelte Umgang mit Lebensmitteln nichts lebensnahes mehr hat?

Ja. Diese Überlegungen gab es. Nicht nur in Filmen wie ‚We feed the world‘‚Unser täglich Brot‘ oder ‚Food, Inc.‘, nicht nur von Vereinigungen wie Slow Food oder Foodwatch. Diese Überlegungen gab es auch vorher, vor über zehn Jahren, als verunreinigtes Futter erst Tiere und dann Menschen krank machte. In der Folge von BSE, das sich ausbreitete, weil Wiederkäuern Tiermehl aus Wiederkäuern verfüttert worden war, hat sich Deutschland ein Ministerium für Verbraucherschutz gegönnt, die EU schärfere Futter- und Lebensmittelkontrollen verfügt und der innereuropäische Handel mit Fleischabfällen drastisch zugenommen.

Ja, zugenommen.
Man darf Lobbys in diesem Zusammenhang erwähnen, muss es aber nicht. Blinder und bequemer Fortschrittsglaube, wachsender gesellschaftlicher Hunger nach Fleisch, zunehmende Naturentwöhnung des Menschen, diese natürlichen Begleiterscheinungen des sich globalisierenden Kapitalismus haben mehr als jeder Lobbyist dazu beigetragen, dass Lebensmittelpreise wichtiger sind als Lebensmittelqualität und dass die Nachfrage an Fleisch das Angebot bei weitem nicht erreicht.

Der Dioxin-Skandal zeigt, dass das Jahrzehnt seit BSE nicht zu einer grundsätzlichen Verbesserung der Lebensmittelqualität geführt hat, dass die Gesellschaft kein Umdenken in der Erzeugung von Lebensmitteln erzwungen hat, was ihr möglich und eigentlich auch eine Pflicht gewesen wäre.
Der stetig wachsende Anteil an biologisch erzeugten Lebensmitteln, vor allem aber auch die fast reflexartige Empfehlung, statt konventioneller Eier doch Bio-Eier zu kaufen, zeigen dass eine Alternative zur konventionellen Produktion vorhanden, aber noch nicht als ebenbürtig etabliert ist.

Dies ist allerdings kein Plädoyer für die Bio-Industrie, die sich mittlerweile ebenso von der Natur entfernt wie die konventionelle Lebensmittelproduktion. Sicherlich haben Nachhaltigkeit, Naturschutz sowie Verzicht auf Pestizide und Genmanipulation die großtechnische Produktion von Lebensmitteln verändert. Viele Kunden verwechseln deswegen ja auch ‚bio‘ mit ‚gesund‘. Es gibt Fertigsuppen, Süßigkeiten und Weißmehl, und die Kunden eines Bio-Supermarkts wollen von der Erzeugung eines Schweineschnitzels immer noch genauso wenig wissen wie damals, als sie noch konventionell eingekauft haben. Das Umdenken hat nicht stattgefunden. Bio ist – allen positiven Begleiterscheinungen zum Trotz – ein Statussymbol wie die SUVs, die auf vielen Parkplätzen vor Biomärkten stehen. Der biologisch ernährte Mensch ist ein Opfer seiner Convenience-Sucht geworden. Er kann nicht anders. Er ist bequem, und diese Bequemlichkeit ist sein Gift.

Und diesem Gift werden wir immer begegnen, so lange wir dem Irrglauben anhängen, alles prozessierbar, kontrollierbar, massentauglich gestalten zu müssen, so lange wir nicht die Erkenntnis erlangen, dass Nahrung selbst zum Gift werden kann. Und dass uns Nahrung mehr bietet als nur Nährstoffe. Essen bildet nicht nur unseren Körper, sondern auch unseren Geist. Je reflektierter unser Umgang mit Nahrung ist, desto freier werden wir von den Industrien sein, die uns, wie in ‚Food, Inc.‘ zu besichtigen, unsere Nahrungsvorlieben und unser Ernährungswissen vorschreiben wollen. Ob diese Industrie bio ist oder konventionell, ist da auch schon egal.
Denn bewusste Ernährung trägt kein Etikett.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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