Alles offen | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Alles offen

Von der Front
Dezember 21, 2023

Seit heute Neubürger, diesmal ohne Willkommenspaket. In Bad Nauheim gab es noch eine Infobroschüre, ein paar Gutscheine für ermäßigten Eintritt und einen verbalen Händedruck vom Bürgermeister, den ich kurz danach mit meiner frisch zugezogenen Stimme abzuwählen geholfen habe.

Hier nichts davon. Aufkleber auf den Perso, fertig. Ist vielleicht auch einfach eine Frage der Zeitläufte. 2006 ist nicht 2023. Und erst recht nicht 2024, das mich ein bisschen einschüchtert, will nicht lügen. 2006 war alles dermaßen klar: noch kein Abschluss, noch keine Finanzkrise, noch keine Arbeitslosigkeit, noch keine Käsetheke, noch kein Theater, noch keine gefühlte Selbständigkeit. Erst recht noch keine Pandemie, kein mich tangierender Krieg, einfach nur postmoderne Überwindung der geschriebenen Geschichte. Abarbeiten dessen, was schon gegeben war. 

2024 nichts davon. Heute hoffentlich Ende der scheinbar endlosen Baustelle mit dem letzten zu installierenden Wasserhahn; nach nur einem knappen Jahr, das sich in meiner Aufteilung zwischen neuer und alter Stadt, Verabschieden und Ankommen, dem Reisen und Vergleichen, der Wehmut und der Vorfreude ziemlich fragmentiert anfühlt. Die Monate auf dem provisorisch eingerichteten Dachboden schnurzeln retrospektiv auf wenige Wochen zusammen. 2023 hat aufgehört, vergehende Zeit zu sein, es existieren nur die Schnappschüsse und Statusaufnahmen der sich ewig wandelnden Wohnung. 

Fehlen noch Weihnachten und Silvester. Angebliche Meilensteine nach einem Umzug. Oder eigentlich Rettungsanker für am Umzug Verzweifelnde: Immerhin können wir Weihnachten schon in der neuen Wohnung feiern. Sagt man so und hat keine Ahnung, was das eigentlich bedeutet. 

Wobei Bedeutung ja überbewertet wird: Dinge bekommen ihre Bedeutung durch unsere Beimessung. Was uns irrelevant erscheint, wem wir keine Aufmerksamkeit schenken, bedeutet uns nichts. Das bedeutet nicht, dass diese Dinge, diese Menschen nicht relevant sind. Aber wir nehmen sie nicht wahr. Manchmal ist das okay, manchmal kann das bedeuten, dass sich Entwicklungen außerhalb unserer Wahrnehmung anschleichen und wir sie erst wahrnehmen, wenn es vielleicht schon zu spät ist, sie noch zu gestalten. 

Der Klimawandel ist so eine Sache, die Fragmentierung der Gesellschaft eine andere. Der Siegeszug des Maskulinismus vielleicht eine dritte. Die drohende Offenheit von 2024 eine ganz eigene. 

Mir fehlt jede Perspektive auf das nächste Jahr. Ja, ich habe eineinhalb Urlaube geplant, ein hautärztliches Screening im Januar und eine Zahnreinigung im Juni. Außerdem noch ein Theaterstück Anfang Mai, dafür wird regelmäßig geprobt werden, aber sonst? 

Ich will und muss arbeiten. Das nach dieser langen Zeit ohne feste Arbeit anzugehen, ist verwirrend. Ein paar Bewerbungen habe ich ja erwähnt. Mittlerweile sind es immer noch kein Dutzend, und immer noch bin ich unschlüssig, was ich will. Die letzte Stelle, bei der ich vorstellig geworden bin, hätte wahrscheinlich den Eindruck von Arbeit wieder erweckt, den ich im Verein hatte. Gemeinsam mit Freunden an der Realisierung einzelner Projekte gewerkelt. Das wäre wahrscheinlich schön gewesen. Bis auf den Umstand, dass ich nur hätte zuschauen können, weil ich vor allem für Telefon und Ablage dagewesen wäre. Gibt schlimmeres, ist aber unterhalb meines Ehrgeizniveaus.

Ja: ich besitze dann doch Ehrgeiz. Ich will Dinge erreichen, bewegen, verändern. Ich will zeigen, dass ich etwas kann und was ich kann. Ich will Menschen berühren, zum Nachdenken bringen, sie vielleicht sogar unterhalten. Natürlich will ich auch gemocht werden, wer will das nicht. Aber nicht um jeden Preis, nicht von allen. Wer sich zu sehr bei allen beliebt machen will, wird beliebig. Unklar, unsicher, unschön anzuschauen. Ungern als Begleitung zu haben. 

Dann doch lieber eine Persönlichkeit wie 2023: indifferent, fragmentiert, nicht immer toll, aber immer aufregend. Die Sicherheit unzuverlässiger Bahnreisen und die Unberechenbarkeit bestellter Handwerker, gepaart mit der Aussicht auf ein Happy End, weil es anders ja eh nicht geht. Weil nichts anderes am Ende passieren kann. Außer vielleicht: neues Jahr, neues Ich - neue Stadt, neues Leben. 

Was werden wird? Keine Ahnung, wirklich: ich weiß es nicht, weil ich es nicht weiß. Die Zukunft ist ungeschrieben, es gibt nichts abzuarbeiten. Alles offen, alles gleichzeitig einschüchternd und euphorisierend. Ich bin gespannt. 

Edit: Und ja: ich habe das im Dezember geschrieben und dann erst im März veröffentlicht, weil mir einfach so viel Leben dazwischenkam. Kann passieren. Auch den besten, also auch mir. 

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
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