ESC me baby one more time | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

ESC me baby one more time

Von der Front
Mai 19, 2015

Huch! Bing präsentiert mir eine Vorhersage, wer beim ESC gewinnen wird. Schweden, Russland und Italien belegen demnach die ersten drei Plätze. Albanien, Australien, Estland, Griechenland, Rumänien, Belgien und Finnland schließen die Top Ten. Das kann ich ja fast nicht glauben. Aber schauen wir erst mal, was heute Abend passiert, da ist nämlich das erste Halbfinale, vielleicht fliegen da Griechenland und Russland schon gleich wieder raus.

Die Kandidaten des ersten Halbfinales in meiner Bewertung:

Eduard Romanyuta mit I want your Love für Moldau
Schon die ersten Sekunden sind erschreckend generisch, die elektronische Thin Whistle lässt Schlimmes erwarten. Und tatsächlich, musikalisch kommt I want your Love nicht über Waterline von Jedward hinaus. Ansonsten lassen die Beats schlimme Tanzeinlagen erwarten, und noch vor der Hälfte des Liedes hat man schon zuviel gehört. Die Bridge zu Beginn der dritten Minute kann es dann auch nicht mehr retten, weil viel zu konstruiert.
Null Punkte.

Genealogy mit Face the Shadow für Armenien
Ja, der Massenmord an den Armeniern ist ein Thema, das nicht unadressiert bleiben sollte. Vielleicht aber nicht beim ESC und vor allem nicht mit dieser schmalzigen Melange aus Rock-Gitarre, Operetten-Sopran, A-Capella-Chor und großem Geläut. Honni soit qui mal y pense: wer jetzt keine Punkte für Armenien gibt, könnte man denken wollen, leugnet auch den Massenmord. Dass man dieses Lied aber kein zweites Mal hören will, hat gänzlich andere Gründe. Das Schluss-Crescendo beispielsweise.
Null Punkte.

Loïc Nottet mit Rhythm Inside für Belgien
Optisch ein Zielgruppenkandidat, akustisch eher was für Feinschmecker. Rhythm Inside geht nicht leicht ins Ohr, hat man sich aber erst mal eingehört, geht es nicht mehr im Kopf, sondern breitet sich mit seinem Herzschlagrhythmus im ganzen Körper aus, dass man sich rasch beim Mitschnippen ertappt. Ansonsten spannende Komposition mit eher flachem Höhepunkt, dafür stimmlich originellem Sänger.
Punkte.

Trijntje Oosterhuis mit Walk Along für die Niederlande
Nanü? Anouk schon wieder? Fast, denn diesmal hat sie das Lied nur geschrieben, nicht auch gesungen, auch wenn es so klingt. Und vielleicht wäre es besser gewesen, hätte die rauchigere Stimme Anouks Walk along interpretiert, denn so schleppt sich das Lied an einem träge fließenden Fluß entlang, unentschieden, ob es doch noch in Fahrt kommen will oder dann einfach den Geist aufgibt. Am Ende bleibt nur das ewig wiederkehrende Ayayayayay, das man leider nicht mehr aus dem Kopf bekommt. Gut, dass gleich die Finnen kommen.
Punkte.

Pertti Kurikan Nimipäivät mit Aina mun pitää für Finnland
Gut, dass das Lied so kurz ist. Trotz der herzigen Inklusions-Geschichte und der Erfahrung, dass auch Lordi einmal gewonnen hat, hört man hier keinen Favoriten. Und wäre die ESC-Gemeinde nicht grundsätzlich inklusionsfreundlich, gäbe es hier sicherlich auch Mitleidspunkte. So gibt es zwar Sympathien, aber keinen Grund, Punkte zu vergeben. Passiert natürlich trotzdem.
Punkte.

Maria Elena Kiriakou mit One Last Breath für Griechenland
Ach herrjeh. Die Arme ist am Ende ihres Atems. Vielleicht sollte sie sich den auch noch sparen. Das Lied ist zwar ganz übervoll von Emotionen zunächst, dann aber wechselt es ESC-gehörig Tonart und Geschwindigkeit, Kyriakou kommt aber leider nicht mehr mit, atemlos geht das Lied in die Verlängerung und man ahnt schon, am Ende bricht sie inmitten des Kunstnebels zusammen.
Null Punkte.

Elina Bron und Stig Rästa mit Goodbye to Yesterday für Estland
Süß. Der Erfolg der Common Linnets letztes Jahr hat diesem Duo den Weg geebnet, die musikalische Attraktivität des letztjährigen Zweiten erreicht Goodbye to Yesterday allerdings nicht. Dazu klingt das Lied zu sehr nach Summerwine und eben doch dem ewig alten Gestern, das ja irgendwie keiner haben will. Aber das Lied tut nicht weh, ist gemütlich, aber mehr wie ein Nierentisch: kann man sich hinstellen, muss man aber nicht.
Punkte.

Daniel Kajmakoski mit Autumn Leaves für Mazedonien
Klarer Punkte-Kandidat. Der Mash-Up aus One Republics Apologize und Sashas If you believe weiß mitsamt den E-Fideln zu begeistern, Zusatzauftritte haben Only Teardrops, Fairytale und noch irgedwas Zirpendes, das aber bis zum plötzlichen Schluss nicht ganz zu deuten ist. Vielleicht eine Grille. Geht ins Ohr, bleibt drin und lässt sich auch vom Geschrei Serbiens nicht vertreiben.
Punkte.

Bijana Stamenov mit Beauty Never Lies für Serbien
Du meine Güte. Ein Lied mit so viel Potential, einer so großartigen Sängerin und einem wunderbar epischen Einstieg. Über den Text kann man natürlich streiten, der ist ein bisschen platt und sehr an der Botschaft von Rise Like a Phoenix orientiert. Leider explodiert das Lied dann in einer elektrifizierten Marusha-Orgie, an deren Ende man glaubt, die Sängerin hätte mit einer Trägerrakete das Studio verlassen.
Keine Punkte.

Boggie mit Wars for Nothing für Ungarn
Schade, dass Boggie nicht mit dem unglaublich tollen Nouveau Parfum auftreten konnte. Wars for Nothing reiht sich ein in die lange Reihe von Liedern mit Botschaft. Das geht alle paar Jahre mal gut, aber meistens hat das Lied dann immer noch ein bisschen mehr zu bieten als eine blutarme Melodie. Nur über eine außerordentliche Performance könnte es diese dürre Ballade in die Punktränge schaffen. Ansonsten ist es nichts, was man zweimal hören will.
Keine Punkte.

Uzari und Maimuna mit Time für Weißrussland
Ah-ah! Ah-ah! Man muss willkürlich an die Paula und Ovis brennende Klaviere denken, an den fiedelnden Rybak und an nochmals One Republic, diesmal mit Stars. Irgendwie geht das ins Ohr und in die Füße, man will mitwippen, und an sich hat das schon Partypotential. Und dann kommt das aber aus Weißrussland. Man kann mir über den ESC viel erzählen, aber das Lukaschenko den ESC austrägt, wird keiner verantworten wollen. Darum wahrscheinlich nur wenige Punkte, wenn überhaupt.
Punkte.

Polina Gagrina mit A Million Voices für Russland
Eine, wie der Titel schon verspricht, stimmgewaltige Ballade mit seltsam kalter Konstruktion, die wie Shine der Tolmatschowa-Schwestern eine klare Botschaft sendet: wir Russen sind nicht so schlimm, wie die westlichen Medien dauernd behaupten, tatsächlich sind wir wie Ihr, manchmal verletzlich, manchmal stark, aber wir sind doch alle nur Menschen. Und wenn wir mit einer Stimme sprechen, dann sind wir stark. Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube, sagt Faust da. Tatsächlich berührt selbst der Chor, berühren die Streicher, berührt nichts. Wird trotzdem Punkte und Buhrufe bekommen.
Punkte.

Anti Social Media mit The Way You Are für Dänemark
Festival-Musik! Weichspül-Beatles! Gummibärchen, Lollipops. Da ist Sasha wieder, diesmal in der Form einer dänischen „Rockband“, deren The Way You Are auch auf der Common-Linnets-Welle mitschwimmt. DA kommt gute Laune auf, auch wenn man das Liedchen direkt nach dem Hören schon wieder vergessen hat. Der Schlagzeugwirbel am Ende klingt in der Radioversion so, als würde jemand einen Karton kleinknüllen.
Punkte.

Elhaida Dani mit I am Alive für Albanien
Das, was Russland und Armenien versucht haben, schafft Elhaida Dani hier: ein Gefühl zu transportieren, das man festhalten, spüren, liebhaben will. Da sind Sommergitarren und schwere Drums, eine zerbrechliche Stimme, ein harmonischer Chor, ein ESC-typischer Spannungsbogen mit Konterstreichern noch ein bisschen Gesäusel am Ende, das das Abbrummen der Windmaschine noch übertönt. Punktekandidat für den Mainstream.
Punkte.

Voltaj mit De la Capat für Rumänien
Voltaj sind jetzt die dritten, die nach One Republic klingen, entweder hat Ryan Tedder da überall seine Finger im Spiel oder er ist sehr wandelbar in seinen Liedern. Vielleicht habe ich aber auch was am Ohr, ist nicht auszuschließen. De la Capat ist eine unaufgeregte Midtempo-Elektroballade, in der die Singstimmen so nachjustiert klingen, dass ich auf die Live-Übertragung gespannt bin. Aber viel öfter muss ich das Lied dann doch nicht hören, dazu ist es nicht besonders genug.
Keine Punkte.

Nina Sublatti mit Warrior für Georgien
Das gruselige Englisch von Nina Sublatti kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier eine Kampfansage gemacht wird. Also eigentlich zwei, die kolportierte nämlich und die eigentliche. Angeblich warnt Sublatti die herrschenden Männer, dass die Frauen nicht länger unterdrückt werden dürfen. Tatsächlich aber tritt Sublatti für Georgien an, und da bekommt die Zeile „I’ve been in danger for too long“ einen ganz anderen Beigeschmack. Mal schauen, wie sich Sublatti mit Gagarina verträgt. Ansonsten hört man hier einen großtrommelnden Mix aus dem Lied, das Cascadas Glorious gerne gewesen wäre, und Woodkids atemberaubenden Iron.
Punkte.

Und müsste ich jetzt nicht weg, würde ich auch sagen, wie viele Punkte. Aber so bleibt alles vage und unbestimmt.
Wie unangenehm.

Nachtrag: Kinder, ich hatte ja keine Ahnung, wie das werden würde. Die Show war ja grauenvoll. Die Live-Performance der meisten Künstler war unerträglich. Insbesondere Mazedonien hat mir fast einen Hörsturz beschert. Positiv dagegen war ich von Boggie überrascht, die mit ihrem sehr ruhigen Lied eine willkommene Abwechslung war in einem Wettbewerb, der sich im Titel um den schrillsten Titel zu einer Kakophonie auswuchs, wie sie hoffentlich beim zweiten Halbfinale nicht mehr vorkommt.

Moldau war wie erwartet furchtbar, das Gehopse war abzusehen, das Ausscheiden im Halbfinale ebenso.
Armenien hat mich überrascht, der Kitsch hat sich unerwartet positiv vom restlichen Geschrei abgehoben.
Belgien war auch in der Bühnendarbietung grenzgängig, hat sich aber ausreichend vom Schrei-Brei der Konkurrenz abgesetzt.
Die Niederlande waren schlimm, Trijntjes Stimme war komplett verrutscht, so dass man sich selbst fragte: Why-ayayayay?
Finnland ist nicht weiter, obwohl sie noch mehr Lärm als alle anderen gemacht haben und auf Inklusionspunkte hätten hoffen können.
Griechenland? Warum? Weil der anfängliche Asthmaanfall nicht inszeniert genug aussah?
Estland ist wie erwartet im Finale, ich kann mich aber nicht mehr daran erinnern.
Mazedonien, ach Mazedonien…
Serbien ist überraschend weiter, obwohl die Choreographie noch absurder als das gesamte Lied war.
Ungarn hatte ich schon erwähnt, Boggie war einfach angenehm.
Russland war irgendwie stimmlich noch am sichersten von den Kreischerinnen, außerdem hatte sie den Trick-Chor.
Dänemaaaaaaaaak, oh Dänemaaaaak! Mehr singen, weniger blöken.
Albanien hat mich sehr enttäuscht, denn die brüchige Stimme, die ich auf der Studioaufnahme noch gut fand, war gestern komplett in Scherben.
Rumänien, bei denen ich als einziges Stimmschwächen prophezeit hatte, waren irritierenderweise komplett solide.
Georgien haben die Rabenschwingen und die Windmaschine gerettet. Anders kann ich es mir nicht erklären.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
mit Erkenntnisgewinn.
Impressum

Und nein,
ich will Eure Cookies nicht.
Datenschutzerklärung

Anderswann