Das Geheimnis | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Das Geheimnis

Usus operi
April 18, 2024

Ich habe ein Geheimnis, und nein: ich werde es nicht verraten. Nicht, weil es dann kein Geheimnis mehr wäre, sondern weil es gar nicht um das eigentliche Geheimnis geht, sondern darum, wie ich beinahe daran zerbrochen wäre, ein Geheimnis zu haben. Anderen Menschen nicht davon erzählen zu können, nicht einmal dem Mann. Keinen Freundys, keinen Familienangehörigen, keinen Bekannten oder gar Unbekannten.

Ich hatte schon einmal ein Geheimnis. Auch damals wäre ich beinahe zerbrochen, weil ich befürchtete, niemals jemandem davon erzählen zu können. Lange habe ich geglaubt, es hätte mich gerettet, das Geheimnis gelüftet zu haben; tatsächlich war mir lange nicht bewusst, dass ich das Geheimnis und die dahinter liegende Wahrheit verwechselt hatte. Und dass es vor allem einen Unterschied zwischen den beiden gab. 

Das Geheimnis, dachte ich lange, sei meine Homosexualität. Das Geheimnis sei, dass ich irgendwie schwul geworden sei; dass ich mich verändert hätte und das für mich behalten müsse. Tatsächlich war ich natürlich schon immer schwul, tatsächlich gehörte meine Homosexualität schon zu meiner Identität, als Sexualität an sich noch lange kein Thema für mich war. 

Ich war, glaube ich, ein sehr expressives, theatrales, vielleicht flamboyantes Kind. Es gibt Bilder von mir in Kleidern meiner Urgroßmutter; Fremde, aber auch Mitschülys hielten mich wiederholt für ein Mädchen. Menschen, die nur über ein binäres Verständnis von Geschlechterrollen verfügten, fanden mich nicht Junge, nicht Mann genug. Meine eigene Großmutter kommentierte meinen ersten Bartflaum mit: "Glaub nicht, dass dich das männlicher macht." 

Die Welt hatte mich da schon längst gelehrt, dass Selbstexpression anstößig war. Dass ich mich besser anpassen sollte, wollte ich nicht auffallen; denn Auffallen, das war die erste Lektion, wurde mit Schmähungen und (vorsichtig ausgedrückt) Liebesentzug geahndet. Also legte ich mir eine dicke Haut zu, versuchte nicht aufzufallen, versuchte zu verschwinden.

Erst als ich älter geworden war, erkannte ich, dass ich den Menschen, für den mich alle hielten, nicht kannte. Ich war tatsächlich verschwunden, war verloren gegangen hinter der Fassade, die aufrechtzuerhalten allmählich anstrengend wurde. Irgendwann erkannte ich, dass ich Masken trug, aber nicht, aus welchem Grund. Ich wusste nur: Ich war nicht der Mensch, der ich scheinbar geworden war. Ich war nicht ich selbst und war es lange nicht gewesen. 

Damals fühlte es sich an, als sei meine wahre Identität ein Geheimnis. Mittlerweile weiß ich: das Geheimnis war zu meiner Identität geworden. Das Geheimnis war nicht, dass ich schwul war. Hätte sich jemand genug interessiert, hätte jemand genauer hingesehen: es wäre klar gewesen. Das Geheimnis war, dass ich, besah ich mich selbst genau genug, wusste, dass ich mich verstellte und die Menschen glauben ließ, der Mensch, den sie in mir sahen, sei tatsächlich ich. 

Damals befürchtete ich, schwul zu sein, zerstöre meine Identität. Dass ich, leugnete ich es nur ausreichend ausgiebig, nicht schwul sein könnte. Und ich dachte, ich sei unglücklich, weil meine Homosexualität mein Selbst bedrohte.
Tatsächlich bedrohte das Geheimnis mein Selbst. Die Fassade, die Lüge, die Unaufrichtigkeit mir selbst und allen anderen gegenüber: Nicht ich selbst zu sein, bedrohte mich.

Das Geheimnis, das ich heute habe, ist keine Lüge, es ist ein Gefühl, von dem ich glaubte, es nicht fühlen zu dürfen. Vielleicht ist das auch das Geheimnis: dass ich glaube, meine Gefühle nicht sichtbar machen zu dürfen. Dass ich glaube, meine Gefühle seien invalide, irrelevant, egal. Und - ein Gefühl im Gefühl - dass auch die Trauer darüber, das Gefühl (aus welchen Gründen auch immer) nicht zulassen zu können, inakzeptabel sei. 

Gefühle sind komplex. Vielleicht gibt es Menschen, die verstehen, wie Gefühle ausgelöst werden, wie die Rezeption, die Expression, die Reaktion funktioniert. Ich gehöre nicht zu diesen Menschen, ich bin relativ fühllos. Nicht überraschend: ich trage immer noch die dicke Haut meiner Kindheit, ich habe gelernt, großen Schmerz von mir fernzuhalten. Mein Zahnarzt ist immer wieder neu beeindruckt, dass ich auf eine Betäubung verzichte.

War ich einst darauf stolz, bin ich es nicht mehr. Ich weiß mittlerweile, dass Schmerzresistenz manchmal auch ein Zeichen von Freudresistenz, von Depression sein kann oder zumindest ein Symptom emotionaler Dissoziation. Ich halte meine Gefühle auf Abstand, und während mich das manchmal davor bewahrt, verletzt zu werden (weil nur ich mich wirklich verletzen kann), halte ich damit auch Menschen auf Abstand. 

Ich wirke auf Fremde mitunter arrogant, überheblich, grob, kalt, unfreundlich, unwohlwollend. Ich weiß das, ich bin mir dessen bewusst. Ich glaube, dass Menschen, die mich dennoch mögen, weil ich eben doch manchmal offen und warmherzig und nahbar sein kann (wenn ich keine Angst vor ihnen haben zu müssen glaube), tatsächlich mein Gefühle wahrnehmen können. Meine Zuneigung. Meine Sehnsucht. Meine Liebe. 

Dennoch stoße ich Menschen öfter von mir, als ich das will, bin abweisend zu Menschen, indem ich mich zu stark filtere, weil ich vor Unsicherheit alle Emotion aus meiner Selbstpräsentation nehme. Was selten bewusst passiert, aber hinterher erkenne ich es. Manchmal wird es mir während der Interaktion selbst bewusst - und es verstört mich. Ich versuche dann, normal, emotional, menschlich zu sein - und überkompensiere. Oder schalte komplett ab.

Vor ein paar Monaten schrieb ich, jemand habe mir gesagt, ich halte mich zurück - und wie sehr das offensichtlich stimmt. In Konfrontation mit dem geheimen Gefühl ist mir bewusst geworden, wie tief das reicht und was es alles bewirkt, verändert, verhindert, zerstört. Ich sehe Menschen, die ich meine Freunde nenne, und ihre sorgenfreie Expression ihrer Gefühle und ich sitze daneben und sehne mich danach, meine Emotionen nicht als aufdringlich zu sehen. 

Eine Weile schon sind mir Berührungen unwohl. Schon vor Corona fand ich es mindestens lästig, anderen Menschen die Hand geben zu müssen, seither muss ich mich ernsthaft überwinden, der sozialen Norm nicht zu widersprechen. Legt mir jemand die Hand auf die Schulter oder auf den Rücken oder schlimmer: auf das Knie, muss ich mich zusammenreißen, nicht zurückzuzucken.

Und das betrifft keine Fremden, sondern Menschen, die mir nahe sind. Umarmungen mag ich, liebe ich, brauche ich, geben mir den besten emotionalen Halt, doch alles andere? Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Neulich habe ich in einem Sitzkreis mit gemischten Sitzhöhen der Person neben mir den Kopf ans Knie gelegt, weil ich die Person mag und sie mich wohl auch, immerhin wurde mir als Reaktion der Kopf gestreichelt.

Ich will glauben, dass sich das gut anfühlt. Dass Menschen das mögen. Ich will es verdammt noch mal selbst mögen. Aber die Wahrheit ist: ich fühlte mich unwohl, fühlte mich plötzlich aufdringlich, fühlte mich, als hätte ich einer anderen Person eine emotionale Geste abgenötigt. Also habe ich meinen Kopf zurückgenommen, mich anders hingesetzt, mich entzogen, abgeschirmt, abgegrenzt. Und mich gleichzeitig gefragt, was mit mir nicht stimmt. 

Denn wenige Tage zuvor noch habe ich einer anderen Person Trost gegeben mit einer Umarmung, mit einer Hand auf der Schulter, dem Arm, der Hand. Ich wollte der Person zeigen: es ist sicher, deinen Schmerz zu fühlen, du wirst nicht darin versinken, ich bin hier, um dich zu halten. Weine dich an mir aus, ich bin ein sicherer Hafen. 

Ich weiß, dass Gefühle zu zeigen, Gefühle zu haben, Gefühle zu fühlen, keine Schwäche ist. Ich weiß, dass schwach zu sein keine Schwäche ist. Ich weiß, dass, wer immer nur stark zu sein versucht und nichts an sich heranlassen will, vor allem ängstlich ist. Was aber bin ich, wenn ich einfach nur taub bin und mir zumindest attestieren würde, relativ angstfrei zu sein?

Das geheime Gefühl zu haben und es mit niemandem teilen zu können, hat mich fast wahnsinnig gemacht. Ich habe mich so sehr in dieses Gefühl hineingesteigert, dass ich fast schon dummes Zeug deswegen gemacht hätte. Nichts gefährliches, aber einfach Unsinn. Dinge, die ich später ganz sicher bereut hätte. Ich war wie besessen davon, auf dieses Gefühl zu reagieren, egal wie - und wollte gleichzeitig nichts davon wissen. 

Schließlich habe ich es aus mir herausgeschrieben. Vor Jahren, vielleicht Jahrzehnten habe ich die Morgenseiten von Julia Cameron entdeckt in ihrem Buch "Der Weg des Künstlers". Jeden Morgen auf drei Seiten handschriftlich alle Gedanken, die mich beschäftigten oder auch nur streiften, festzuhalten und so meinem Gehirn die Möglichkeit zu geben, sie loszulassen, weil sie ja irgendwo aufgeschrieben und damit gesichert waren, hat mich viele Jahre stabilisiert. 

Also habe ich es wieder so gemacht: geschrieben, geschrieben, geschrieben, einen ganzen Tag lang alles, was sich in mir aufgestaut hat, Wort für Wort aus mir heraus und aufs Papier fließen lassen. Dachte ich anfangs noch, nach einer Stunde dürfte ich fertig sein, habe ich nach mehreren Stunden akzeptieren müssen, dass ich so viel in mir trage, das ich nicht ausgesprochen habe in den letzten Wochen, Monaten, vielleicht Jahren. 

Ich habe festgestellt, dass ich viele Momente nicht verarbeitet, viele Abschiede nicht betrauert, viele Ängste nicht konfrontiert und vor allem viele Gefühle nicht gefühlt hatte. Das ganze letzte Jahr beispielsweise war eine Operation am offenen Herzen und ich habe nie richtig innegehalten, um mich damit auseinanderzusetzen, was das mit mir gemacht hat. Mir war bewusst, wie allein ich zwischendurch auf dem Dachboden war, aber nicht, wie einsam ich war. 

Das Geheimnis wird noch eine Weile ein Geheimnis bleiben, ich werde es nicht verraten. Es spielt aktuell keine Rolle mehr, denn ich habe das Gefühl, das ich nicht fühlen wollte, verstanden. Habe verstanden, was es mir sagen wollte; habe verstanden, dass ich nicht loslassen konnte, so lange ich mich ihm verweigert habe. Indem ich dem Gefühl Raum gegeben habe, konnte ich mir selbst die Freiheit geben, anders auf mein Leben und das Gefühl darin zu blicken. 

Natürlich bin ich immer noch nicht wieder ganz. Wie auch? Ich trage immer noch Ballast mit mir herum, sonst begriffe ich beispielsweise meine Mobbing-Erfahrungen nicht als Teil meiner Biographie. Aber wir alle tragen Schmerz in uns, Erinnerungen, die uns belasten, aber eben auch Erinnerungen an gute Dinge, Zeiten, Menschen. Wir alle haben manchmal Geheimnisse und geheime Gefühle, und irgendwie ist das auch okay. 

Was nicht okay war, was niemals okay sein wird, ist sich den Gefühlen zu verweigern, sie zu ignorieren oder gar abzulehnen. Sie herunterzuschlucken, um sie nicht fühlen zu müssen, um sich nicht damit auseinandersetzen zu müssen: das kann nicht funktionieren. Wir müssen unsere Gefühle nicht unbedingt mit jemandem teilen, wir können sie Geheimnisse sein lassen. Aber wir müssen trotzdem akzeptieren, dass sie sind.

Denn das ist ja das eigentliche Problem: Nicht etwa, dass ich bei meiner Gefühlsverarbeitung manchmal Probleme habe, sondern dass uns alle betrifft. Wir alle kämpfen manchmal mit unseren Gefühlen, manchmal auch gegen sie. Die Welt wäre ein so viel besserer Ort, wenn wir lernen könnten, unsere Ängste und Hoffnungen, unsere Liebe und unsere Wut, unsere Unzufriedenheit, aber auch unser Glück durchleben zu können, ohne uns selbst oder anderen damit zu schaden.

Und wenn wir vor allem verstünden, dass auch alle anderen Menschen die gleichen Gefühle haben wie wir. Wir bestehen aus dem gleichen Material, sind alle aus der gleichen Matrix gewoben. Wenn wir das verstehen würden, wenn wir unseren Mitmenschen gegenüber empathisch zugeben könnten, dass auch sie natürlich nur Menschen sind mit den gleichen Gefühlen wie wir selbst, wäre die Welt ein besserer Ort.

Denn dann müssten wir nicht unsere Gefühle gegen uns oder gegen andere richten, sondern könnten offen sagen: Ich fürchte mich vor der Veränderung, ich liebe, wen ich liebe, ich bin wütend, weil ich verletzt wurde und nicht weiß, wie ich diese Verletzung heilen soll, weil ich Angst habe, dass darüber zu sprechen mehr noch zerstören könnte als nur mein Selbstwertgefühl.

Natürlich basieren die Kriege, die geführt werden, nicht allein auf diesen Gefühlen, sondern auch auf dem wenig konstruktiven Hass, auf ererbtem Aberglauben, auf geschürten Fehlannahmen, auf Lügen und Unwahrheiten. Wenn aber die Menschen einander wohlwollender, offener, wertschätzender begegneten und sie (siehe oben) als Teil von sich selbst begriffen, hätten diese Werkzeuge der Destruktion keinen Ansatzpunkt.  

Und das ist das eigentliche Geheimnis. 

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
mit Erkenntnisgewinn.
Impressum

Und nein,
ich will Eure Cookies nicht.
Datenschutzerklärung

Anderswann