28 | Im Schatten des Buchturms | ANDERSWOLF

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Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

28 | Im Schatten des Buchturms

Yelda
November 27, 2010

Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob es wirklich meine Schuld war, was mit Tharb geschah. Vor allem in den ersten Jahren, als die Folgen des Wilden Zaubers nach und nach alles das Land ringsum vernichtete und nur den Bereich im Inneren der Alten Stadtmauer verschonte, machte ich mir viele Gedanken und Vorwürfe. Ich hätte wissen müssen, sagte ich mir oft, wenn ich allein durch die verlassenen Straßen schlich, dass der letzte Kampf gegen Rubin, Saphir und Korund nicht auf dem Gebiet der Menschen hätte stattfinden dürfen. Ich hätte wissen müssen, sagte ich mir damals, dass der Ort, an dem ich den Wilden Zauber, der die Spielregeln für immer ändern würde, so tiefgreifend die Strukturen beider Welten verändern würde, lange Zeit nicht mehr nichtzauberische Menschen geeignet sein würde.
Damals dachte ich das, doch heute weiß ich, dass weder eine Wahl hatte, noch dass mir die möglichen Folgen meines Tuns wirklich bekannt waren. Ich habe meine Zauber immer intuitiv gewoben, den Wilden Zauber, den letzten, den ich zu geben hatte, habe ich in fast völliger Unkenntnis der Nebenwirkungen gewirkt. Nur das Ziel meines Zaubers war klar: ich wollte die Macht der Drei in der Wirklichkeit und, wenn ich konnte, auch in ihrer eigenen Welt, brechen. Ich wollte die Drei und alle ihrer Art an diese Wirklichkeit binden und gleichzeitig ihre Verwurzelung in der Kraft beenden. Es schien mir die einzige Möglichkeit, und auch heute, knapp 3000 Jahre später, bin ich davon überzeugt, dass es keine andere Möglichkeit als den Wilden Zauber gab.
Und wäre nicht überraschend Remde in Tharb aufgetaucht, ich denke nicht, dass es die Stadt so hart getroffen hätte. Ich hätte die Konfrontation in ihrer Welt gesucht, die Schlagwellen des Zaubers wären wahrscheinlich durch alle Tore zwischen den Welten gestoßen und hätte sicherlich auf ganz Thera Schaden verursacht, doch dieser wäre weitaus geringer ausgefallen als es durch die Konzentration des Zaubers auf einen einzigen Ort. Dadurch aber, dass Tharb das Zentrum des Wilden Zaubers wurde, konnte er wachsen und nach weiterem Land ausgreifen, so lange und so stetig auch nach dem Sanktuarium der Inneren Stadt, bis auch dieser letzte Schutzraum nach 1000 Jahren fiel, und ich endlich die Stadt, die ich in den Untergang getrieben habe, doch noch verlassen musste.
Und spät, erst sehr spät in meinem Leben, fiel mir auf, dass die Bestimmung, die mir meine Erschaffer unbeabsichtigt mitgegeben hatten, doch noch eingetreten war, obwohl ich dachte, meinem Schicksal entflohen zu sein: das Dunkel war mir noch immer gefolgt, auch wenn die Zerstörung durch den Wilden Zauber kein entlebtes Land hinterließ, dann aber wohl doch ein Land, in dem zu leben schwierig war, das selbst für jene, die zauberkundig und stark waren, zum Verhängnis werden konnte. Heimtückisch hat der Wilde Zauber noch alle Seelen jener in Besitz genommen und vernichtet, die sich für unangreifbar, für unveränderlich, für stark hielten. Er hat sie verändert und gebrochen, und keiner, der mit dem Wilden Zauber in Berührung kam, sah die Welt und die Wirklichkeit noch annähernd so, wie er sie vorher gesehen hatte. Der Wilde Zauber hat die Welt verändert, ich habe die Welt verändert. Ich verband zwei Welten auf eine Weise miteinander, dass sie zu einer wurden, und ich kann nur hoffen, dass die Saat, die ich vor so langer Zeit gepflanzt habe, nun doch noch endlich dazu führt, dass der Wilde Zauber und damit alle Magie wieder aus der Wirklichkeit verschwinden. Ich hoffe, dass die Saat aufgeht und ich endlich sterben kann.

Wir begruben Sobekans Leiche unter einer Cathanie  im Schatten des Buchturms der Stillen Götter. Ich ahnte damals nicht, dass ich in diesem Turm mehr über mich und die Welt erfahren würde als mir jemals jemand hätte sagen können. Ich ahnte nicht, dass die Prophezeihungen der Menschen mich schon vor Jahrhunderten vorhergesehen hatten. Vor allem aber gaben mir die Aufzeichnungen endlich das Wissen, dass meine Entscheidungen nicht willkürlich geschahen, sondern unausweichlich waren. Es war mir, das hatte Mandu einst gesagt, vorherbestimmt, die Ströme der Kraft aus der Welt außerhalb in und durch die wirkliche Welt fließen zu lassen. Es war mir vorherbestimmt, das Dunkel zu rufen, die Unsicherheit, die Wandelbarkeit. Ich war und bin die Hüterin des Schattens, und heute, wenn ich sehe, wie die letzten Geschöpfe der Jenseitigen sich in den letzten Zügen ihres nun schon Jahrhunderte andauernden Kampfes befinden, an dessen Ende sie sich gegenseitig ausgelöscht haben werden und auch ihre Schöpfer, dann kann ich für eine Weile den Schmerz vergessen, der mich zerfrisst und den ich doch nicht ablegen kann wie den ersten Schmerz des Körpers. Denn dieser Schmerz ist so viel anders: er erinnert mich nicht an das, was ich bin, er verbindet mich nicht mit den Welten. Dieser Schmerz ist der eines ewigen Auseinandergerissenwerdens, es ist der Schmerz, der entsteht, wenn man sich zwischen die Welten stellt und beide miteinander verbindet.
Ich weiß noch nicht, ob mein Ende auch das Ende der wirklichen Welt ist, ich ahne aber, dass es das Ende der anderen ist. Die Jenseitigen sind dann für immer hier gefangen, für immer aber vor allem machtlos. Sie, die nur durch ihre Verbindung mit den Strömen jemals stark waren und nicht durch ihre eigene Leistung oder Fähigkeiten, sie haben dann endlich bekommen, was sie verdient haben.

Der Soldat musste mir erst die Bedeutung und die Vorgehensweise einer Beisetzung erklären, und als ich einfach durch Verändern der Wirklichkeit ein Loch schuf, schalt mich der Soldat: „Das ist falsch. Man muss das Loch graben, nicht einfach entstehen lassen.“
„Aber Sobekan hätte es auch so gemacht, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre.“
„Das denkst Du, aber ich glaube es nicht. Wir sind ehrfürchtige Menschen und auch Sobekan hätte die Rituale nicht verachtet, egal, was ihm geschah.“
„Woher willst Du wissen, was Sobekan von Ritualen hielt?“
„Ich weiß es nicht. Ich kann mir aber nicht denken, dass jemand, der Wert darauf legt, dass sein Körper, den er schon vor so langer Zeit verlassen hat und den er wohl nach eigener Aussage nicht wieder betreten, aber eben auch nicht verlassen konnte, begraben wird, dass eben jener Mensch nicht auch die Rituale wertschätzt, die mit dem Akt des Begrabens verbunden sind.“
„Obwohl verwirrend ist Deine Argumentation durchaus einleuchtend.“ Ich ließ das Loch wieder veschwinden. „Als einer jener, die ihn gefangen hielten, solltest Du auch graben, zumal der Junge ja auch zu schwach ist.“

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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