Erinnerungen. Siebtes Siremon-Fragment | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Erinnerungen. Siebtes Siremon-Fragment

Siremon
November 18, 2011

Die Besuche bei seinen Eltern waren für Kirren seltene und seltsame Erlebnisse. Sie sich jetzt in Erinnerung zu rufen war, als handle es sich um Geschichten, die ihm erzählt worden seien. Er berichtete Sira nach Tilans Fall von jenem letzten Streit mit seinem Vater über jene Cathanie, die Kirrens jüngerer Bruder vor seinem Tod gepflanzt hatte und die der Vater fällen wollte.
„Du bist nie hier, Kirren.“ Die Stimme des Vaters matt und tonlos, als habe er diesen Streit schon so oft geführt. „Du bist nie hier und siehst nicht die Blicke Deiner Mutter auf den Baum.“
„Aber er ist das Einzige, was wir von meinem Bruder haben!“
„Ja, er ist das Einzige, was uns noch an das erinnert, was wir verloren haben. Jeden Tag seit dem Tod Deines Bruders schaut Deine Mutter auf den Baum und sieht ihn wachsen statt ihres Sohnes.“
„Aber was ist dann? Wollt Ihr ihn einfach vergessen?“
„Nein, und das weißt Du, Kirren. Wir werden ihn nicht vergessen, niemals, das verspreche ich Dir.“
„Gut, denn das werde ich auch nicht. Niemals.“

Als Kirren nicht weitersprach, fragte Sira: „Wieso erzählst Du mir das, Kirren?“
„Weil ich seinen Namen vergessen habe.“ Er holte tief Luft. „Ich habe vergessen, wie mein Bruder hieß, ich habe vergessen, wie er gestorben ist. Ich weiß nicht mehr, wie er aussah, ich habe alles vergessen.“
Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander durch den Wald. Dann sagte Sira: „Vielleicht ist es einfach zu lange her. Ich kann mich auch kaum an meine Eltern erinnern; als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war ich noch ein Kind. Ich habe länger ohne sie gelebt als mit ihnen.“
„Aber Du erinnerst Dich an sie. Du weißt, dass sie da waren.“
„Ja, natürlich. Ich weiß noch, wie …“ begann sie, doch Kirren fiel ihr ins Wort: „Ich weiß es nicht. Ich kann mich an den Streit erinnern, an meinen Vater und an die Cathanie, ich sehe sogar die traurigen Blicke meiner Mutter, doch ich weiß nicht, warum ich an dem Baum so gehangen habe.“
„Sagtest Du nicht, dein Bruder hätte …“
„Gesagt habe ich es, aber ich weiß es nicht! Hätte es nicht diesen Streit gegeben, ich wüsste nichts mehr von ihm, verstehst Du nicht? Ich kann mich nicht erinnern, einen Bruder gehabt zu haben.“

Nachdem Marathorn sich versichert hatte, dass Kirren und seine Begleiter weit genug in den Geheimgang vorgedrungen waren, versiegelte er die Tür in der Wand mit dem stärksten Zauber, den er dafür kannte. Er bereute, dass er in seiner Zeit beim Zirkus zwar gelernt hatte, Schließzauber zu brechen, nicht aber, sie zu wirken. Andererseits wäre kaum ein Zauber den Schattenbindern gewachsen. Er hatte es an Kirren gesehen, dessen Erinnerungen sich nach dem Angriff der Schattenbinder zusehends auflösten; jene Erinnerungen, die Marathorn selbst über Jahre hinweg in Kirrens Geist gewoben hatte, um ihn vor der Wahrheit und seinen Verfolgern zu schützen.
Während er jenen letzten Zauber vorbereitete, der die Akademie auslöschen und einen Großteil der Soldaten des Ersten Mannes sowie der Schattenbinder vernichten würde, hoffte er, dass Kirren auf seine Warnung hören und sich verstecken würde. Kirrens Mutter zu erwähnen, war – eine leise Stimme in seinem Hinterkopf sagte ihm das – gefährlich, fahrlässig gewesen, denn der Junge würde nun nach ihr suchen, wenn sie nicht dort war, wo er glaubte, aufgewachsen zu sein.
Andererseits war Kirren nicht alleine, Arket würde auf ihn aufpassen, Arket, der schon früh Marathorn mit dem Vorwurf konfrontiert hatte, Kirrens Erinnerungen zu manipulieren, Arket, der für Kirren wie ein Bruder war, Arket würde Kirren vor Gefahr bewahren. Ja, Arket würde Kirren schützen.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
mit Erkenntnisgewinn.
Impressum

Und nein,
ich will Eure Cookies nicht.
Datenschutzerklärung

Anderswann