Die Narrative | ANDERSWOLF

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Die Narrative

Von der Front
April 6, 2023

Mit dem deutlich jüngeren Handwerker über die vermeintlich fehlende Frustrationstoleranz nochmal jüngerer Menschen gesprochen. Wir sind als Nichtangehörige dieser Generation beide hochgradig qualifiziert, dieses Thema zu diskutieren, also kommen wir auch schnell wieder vom Thema ab. Er sagt, er sei als Kind dauernd draußen gewesen, habe Baumhäuser gebaut und sei dauernd mit aufgeschürften Knien nach Hause gekommen. Ich kenne das ja bestimmt auch, fügt er hinzu. 

Ich sage: "Jein." Tatsächlich weiß ich, was er meint, gleichzeitig habe ich in meinem Leben nicht ein einziges Baumhaus gebaut, und wenn ich mal blutig nach Hause gekommen bin, dann wegen Fahrradunfällen (ja, mehrere) oder, weil ich mich mit anderen Kindern, die mich mobben wollten, geprügelt habe, weil mir die Lust, den Spott anderer über mich ergehen zu lassen, irgendwann abhanden gekommen war. 

Was ich tatsächlich sage nach meinem Jein ist ein seltsamer Rückfall auf meine Identitätserzählung: ich hätte als Kind zugezogener Eltern wenig Freunde gehabt und also deutlich andere Erfahrungen als er gemacht. Das ist der Beginn meines Standard-Narrativs: ich armes Opfer. Dabei ist das hinsichtlich der Frage, ob oder ob nicht ich mit dem Internet oder sozialen Medien aufgewachsen bin, komplett egal. Und natürlich bin ich nicht mit dem Internet aufgewachsen, das gab es damals ja (fast) noch gar nicht, sondern mit Videospielen und Büchern, die gab es auch damals schon zuhauf.

Was mich irritiert, ist diese Bereitschaft, einem relativen Fremden mein wie auch immer einzustufendes Trauma hinzuwerfen, als hätte es eine definierende Macht über mein damaliges oder heutiges Leben. Als könne ich baumhausbauende Jugendliche nicht nachvollziehen, nur weil ich eher über sie gelesen habe als selbst ein Baumhaus zu bauen.  

Natürlich bricht sich da was ganz anderes Bahn: die latente Neigung zum verfälschten Selbstframing. Einem Narrativ, das mich als irgendwas darstellt, das ich nicht bin; ich weiß nicht mal als was. Während der Bauarbeiten stehe ich immer wieder vor der Frage, was ich den Fremden, die in meiner Wohnung ein- und ausgehen, von mir erzählen will. Bis heute kam das Gespräch nie auf meine Homosexualität. Klar, bei den Vorgesprächen mit den leitenden Handwerkern war mein Mann anwesend; aber die ausführenden Handwerker haben ihn nicht gesehen und selbst mich nur, wenn ich durch die Wohnung geistere auf der Suche nach Fortschritten.

Heute aber hat der Handwerker nicht nur seine Freundin erwähnt und erzählt, dass er sich ein Auto gekauft habe, ich habe im Gegenzug auf seine Frage, ob ich mir freigenommen hätte für die Bauarbeiten, erzählt, dass ich derzeit gar nicht arbeite, sondern nur mein Mann. Sogleich habe ich mich gefragt, ob das wohl ein Fehler war. Was denkt er jetzt von mir, ist ein immer wieder aufpoppender Gedanke. Ohnehin frage ich mich dauernd, ob offensichtlich gleichgeschlechtliche Paare von Handwerkern, die ja in einem eher "traditionellen" Gefüge arbeiten, anders behandelt werden als heterosexuelle Menschen. Dürften sie natürlich nicht, aber wer weiß es schon im Einzelfall?

Ich frage mich: welchem Narrativ hänge ich da nach? Wieso empfinde ich meine Homosexualität immer noch als etwas, das manchmal verschwiegen gehört? Klar: heteronormative Sozialisation. Aber mal ehrlich: wieso hat die immer noch Macht über mich? Warum erkenne ich in der Art, wie ich lebe, einen potentiellen Aufhänger für einen Makel? Wie tief geht die Indoktrination, dass manches ungesagt bleiben sollte? 

Da hilft natürlich nicht, wenn wie derzeit sexuelle und geschlechtliche Identität heiß umkämpft ist. Das Selbstbestimmungsgesetz soll trans-Menschen ein Stück ihrer Würde zurückgeben, die Abendlanduntergangshysteriker hingegen sorgen sich ums vermeintlich gefährdete Kindeswohl und unbeschwerte Sauna-Gänge, als ob demnächst Purge-artige Szenen in Wellnesshotels zu erwarten seien. Auch da drücken sich die alten hässlichen Narrative durch, die alles, was nicht heterosexuell ist, mit Pädokriminalität und Exhibitionismus in einen Topf werfen, weil die "normale" heteronormative Gesellschaft sowas niemals machen würde. Als ob nicht die eigentliche Gefahr für das Kindeswohl von der dezidiert unqueeren Mehrheitsgesellschaft bzw. sich daraus rekrutierenden Einzelvertretern ausginge. 

Die allgemeine Debatte um Gender und Gendern ist auch nur wenig erfreulich. Die in den letzten Tagen kurioseste Meldung: Die Tagesschau beugt sich dem mit dem rechten Kampfbegriff der "Zwangsgebühren" hantierenden bayrischen Ministerpräsidenten, der die geschlechtsneutrale Wortwahl "gebärende Person" als Woke-Wahn bezeichnet. Gleichzeitig keimen mit Just-Gay-Gruppen bigotte LGB-Ableger, die die Rechte homosexueller Männer schützen wollen, indem sie sich nach dem Floriansprinzip vom Kampf anderer queerer Gruppen um Gleichbehandlung distanzieren. Sie fürchten, dass die trans-Bewegung all das riskiert, was die Schwulen sich erkämpft haben (als ob die das alleine erreicht hätten und als ob Hyperkonservative einen Unterschied zwischen schwul, queer oder trans machten, wenn sie sich entscheiden müssten, wessen Rechte sie zuerst abschaffen würden). 

Und natürlich beschränkt sich die Hysterie nicht auf Identitätsfragen. Es ist ja grundsätzlich die Angst des Patriarchats um sich selbst, die jeden Diskurs bis zur Kenntlichkeit aufbläht, um nur kurz danach in einem Shitstorm zu implodieren. Jedes ideologische Schlachtfeld ist ja derzeit durch überdeutliche Demarkationslinien getrennt. Hier die Getreuen, dort der Feind. Grautöne scheint es nicht mehr zu geben, ein Dialog unmöglich. Alle Seiten canceln sich gegenseitig, in all dem Geschrei ist es oft nicht mehr auszumachen, wer eigentlich recht hat (soweit das überhaupt geht), in der Regel gibt es zwar wissenschaftlich argumentierende Expertys, aber die will ja nun gar niemand zu Rate ziehen, sie könnten der allgemeinen Kakophonie ja etwas fundiertes entgegensetzen und damit Weltbilder zum Einstürzen bringen. 

Der Wandel hat aber ohnehin schon begonnen, hat immer schon begonnen, war niemals nicht da, auch wenn sich die Bewahrer des Stillstands noch so sehr an eine verblassende Realität klammern. Die Welt, die es früher gab, gibt es nicht mehr, jetzt ist später, ein anderes Jetzt; und mit den Narrativen des Gestern kommen wir da nicht weiter. Egal wie sehr wir es uns vielleicht wünschen. Und entweder erkennen wir das an und lösen uns von den überlebten Gewissheiten, die wir uns über uns selbst und über die Welt erzählen; oder wir fallen aus der Gegenwart in eine Zeit, die die heutige Jugend nicht mehr versteht und wahrscheinlich auch gar nicht verstehen will, denn die undankbare, gedankenlose Jugend verschwendet ja auch keinen Gedanken daran, wie es den Alten geht. Die interessieren sich nur für den dummen Planeten oder TikTok. Nichts dazwischen. Keine Grautöne, keine Nuancen. Nix als Narrative. 

Ein Baumhaus werde ich auch auf absehbare Zeit nicht bauen. Aber dafür kann ich jetzt Gas- und Heizungsrohre verlegen. 

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
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