Evin. Sechstes Siremon-Fragment | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Evin. Sechstes Siremon-Fragment

Siremon
November 15, 2011

Je näher mir Siremon kam, desto mehr wurde mir bewusst, wie wenig ich von meiner eigenen Welt kannte. Tage, Wochen und Monate saß ich am Computer, und je weiter ich mich von meinen Mitmenschen, von meiner Heimatstadt, von meiner Arbeit entfernte, desto schwieriger wurde es schließlich auch, sich auf Siremon zurechtzufinden.
Ich verließ Tilan, verirrte mich im Wilden Land, das die dortigen Menschen Ti-Kaan nennen. Evins Volk lebt dort in den Wäldern rund um die Drachenberge, wo ihre einzige befestigte Stätte liegt: Risalk, der Ort der Versammlung. Die Schattenbinder ihres Volkes lernen dort ihre Gabe zu kontrollieren, sie lernen zu kämpfen, sie lernen zu töten. Sie lernen all dies, um in einem Kampf überleben zu können, den schon ihre Vorfahren geführt hatten, der ihre Eltern das Leben gekostet hatte, ein Kampf so natürlich wie atmen und singen, jagen und essen. Der Kampf gegen die Drachenmenschen grenzte Evins Brüder und Schwestern von ihren Feinden ab, Feinden, die einst ihre Brüder und Schwestern gewesen waren.

„Hier seid Ihr.“
„Evin! Du hast mich erschreckt.“
„Ich habe Euch überall gesucht. Warum seid Ihr nicht in Euren Gemächern?“
„Meine Gemächer?“ Sira schnaubte. „Ich habe genug von diesen Zeltplanen. Warum hast Du mir nicht gesagt, dass Dein Volk auch Mauern und Hallen baut?“
„Diese Mauern sind nicht Euer, sie sind meines Volkes. Ihr seid ohne Recht hier.“
„Natürlich. Ich habe nirgends und auf nichts Rechte. Ich habe es so satt, mich verstecken zu müssen, selbst da, wo ich nicht gesucht und gesehen werde.“
Als Evin nichts erwiderte, sondern sich nur zum Ausgang der Halle wandte, fügte Sira hinzu: „Die Mauern erinnern mich an zuhause, weißt Du? In den letzten Jahren habe ich nur Bäume und Büsche gesehen, nur Pflanzen und nichts, das auf Menschen hindeutet. Dieses Leben im Wald ist so erschöpfend wie es üppig ist.“
Evin blieb noch einmal stehen. „Wir werden in die Stadt gehen, Prinzessin. Der Rat sagt, wir werden gehen. Kommt nun.“
Bevor Sira folgte, drehte sie sich noch einmal um. Die Mauern der Halle hatten keine Fenster, so dass Licht nur durch den Torbogen und die Ritzen und Spalten zwischen den Steinen fiel. Der Schatten, den sie selbst warf, reichte fast bis zu dem Bild, das sie betrachtet hatte, bevor Evin sie gefunden hatte. Es zeigte einen Baum, hoch und ausladend, und Sira fragte sich, wie dieses Volk, das keine anderen Farben zu kennen schien als die Grün- und Brauntöne des Waldes, dieses Bild gemalt hatte: einen Baum mit silbern glänzendem Stamm und goldenen Blättern.

Auf meiner Reise durch die Welt, die ich fand und gleichzeitig erfand, lernte ich viel über die Welt, die ich mit jedem weiteren Schritt voran hinter mir ließ. In allem, das ich auf Siremon sah, ahnte ich eine Entsprechung und einen Ursprung in unserer Welt. Wir Menschen sind so begrenzt in unserer Vorstellungskraft, dass wir nichts grundsätzlich neues erfinden, sondern immer nur vorhandenes nachahmen und verändern können. Das Endergebnis mag an nichts erinnern, was man schon gesehen hätte, und doch liegt allem Neuen immer etwas Altes zugrunde. In allem, was wir an Neuem ersehnen, liegt immer auch die Erinnerung an etwas Verlorenes, Vergangenes.

Evin hatte Risalk nicht wieder betreten wollen, doch ihr Eid dem Rat gegenüber, die Verpflichtung ihrem Volk gegenüber zwang sie dazu. Nach dem Ende ihrer Ausbildung zur Schattenbinderin hatte sie geschworen, den Wegen des Baumes zu folgen, wissend, ja erwartend, dass es ihr Leben kosten könnte, den Kampf ihrer Vorfahren aufzunehmen. Sie hatte niemals geahnt, jene Schattenbinder, mit denen sie aufgewachsen war, zu überleben, älter zu werden, sich zu verlieben und diese Liebe wieder zu verlieren. Sie hatte niemals geahnt, dass es etwas schmerzhafteres geben konnte als das alles auslöschende Brennen der Schattengabe in ihrem Inneren. Sie hatte so oft den Tod im Kampf mit den Drachenmenschen gesucht, um nicht mehr daran denken zu müssen, was vergangen war. Doch sie hatte nie aufgeben, nie sich unterwerfen wollen, ihr Eid wog schwerer als ihr Schmerz und so zögerte sie auch nicht, diese menschliche Prinzessin, von deren Wohl auf verschlungenen Wegen auch das Wohl und die Freiheit ihres eigenen Volkes abhängen sollte, mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu schützen.
Sie hatte Angst gehabt vor dem Wiedersehen, hatte gehofft, dass sie die Konfrontation umgehen konnte, doch als sie schließlich in Risalk ankamen, war sie erst enttäuscht, dann wütend, später wie taub gewesen angesichts der Offenbarung des Rates, dass menschliche Angreifer die erste Tochter, die eine Schattenbinderin in den letzten Jahrhunderten geboren hatte; dass diese Angreifer ihre Tochter, die sie seit ihrer Geburt vor zehn Jahren nicht gesehen hatte, entführt hatten.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
mit Erkenntnisgewinn.
Impressum

Und nein,
ich will Eure Cookies nicht.
Datenschutzerklärung

Anderswann