Der kleine, der hoffentlich entscheidende Unterschied | ANDERSWOLF

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Der kleine, der hoffentlich entscheidende Unterschied

Von der Front
Februar 24, 2025

Zur Wahrheit gehört natürlich: ich fürchte selbst den Tag, an dem ich mich selbst priorisiere. 

Wie viel von den Dingen, die ich nicht mache, weil ich Angst habe, was die Menschen denken könnten (ja, immer noch und immer wieder), könnte ich machen? Wie viele Bücher im Jahr schreiben (geschweige denn lesen), wie viele Gärten umgraben, wie viele Mäntel nähen, wie viele Podcasts aufnehmen, wie viel Theater machen? 

Die Antwort ist natürlich: nie genug. 

Die Zeit ist zu knapp, der Tag, das Jahr, das Leben zu kurz. Ich kann niemals all das erledigen, was ich noch alles auf der langen To-Do-Liste habe, erst recht nicht, wenn ich 40 Stunden mit einer Arbeit verbringe, die mich keinem meiner Ziele näher bringt. 

Die Wahrheit ist: es muss alles warten - und das in einer Zeit, die Warten kaum noch zulässt. Nicht meinetwegen, nicht meines endlichen Lebens wegen, sondern weil jetzt der Zeitpunkt ist, nicht zu verstummen, nicht zu resignieren, nicht zu verschwinden. Die Zeit, die ich als ohnehin schon als lähmend genug empfunden habe in den letzten Jahrzehnten, wird nach gestern noch zäher werden. Ein Großteil der Menschen in Deutschland glaubt, sie könnten den Fortschritten, den Veränderungen hinterherschleichen, weil sie hoffen, dadurch ihre eigene innere Unruhe zu besänftigen. Doch was ist diese besänftigte Unruhe?

Um mit dem Marquis von Posa zu sprechen:

Die Ruhe eines Kirchhofs! Und Sie hoffen,
Zu endigen, was Sie begannen? hoffen,
(...) Den allgemeinen Frühling aufzuhalten,
Der die Gestalt der Welt verjüngt?

Es ist die Hoffnung, die Welt möge, könne, würde sich nicht ändern, ließe sich anhalten.
Als ob. 

Nicht, dass ich diesen Wunsch nicht nachvollziehen könnte; nicht, dass ich mir nicht auch manchmal wünschte, ich könnte die Panik vor der immer rascher verfließenden Zukunft mit naivem Festhalten an der schön längst zerronnenen Vergangenheit betäuben; nicht, dass ich nicht auch manchmal das Paradies der Verantwortungslosigkeit vermisste.

Allein: es nutzt nichts, die Welt bleibt ja nicht stehen, dreht sich einfach weiter, und niemand hält inne, um sich dem Weh eines Einzelmenschen zu widmen. Die Zukunft wartet nicht, bis wir bereit sind.
Wartet erst recht nicht, bis ich bereit bin. 

Was also tun? 

Das einzig richtige: nicht erstarren, nicht verharren, trotz Angst und Sehnsucht nach vermeintlicher Sicherheit etwas tun. Wenigstens anfangen, einen kleinen Schritt, ein erstes Aufbäumen gegen die Salzsäuligkeit der Welt. Und: nicht in Angst nur existieren, sondern in den kleinen Fluchtfreuden des Alltags leben und jede Freude auskosten, jedes Gefühl fühlen und alle Wärme in der Welt in sich aufsaugen - und weitergeben. 

Die Antwort kann und darf nämlich nicht sein, in einer Welt, die sich immer mehr verhärtet, auch sich zu verschließen vor den Anderen und ihren Gefühlen. Abgrenzung, denken viele, das Nicht-Anerkennen der Menschlichkeit anderer, sagen manche, Konzentration auf das Ego und egoistische Entscheidungen, erwarten einige, könne sie, uns, irgendwen retten. 

Um das Internet fehlzuzitieren:

In einer Welt, die scharf und schneidend ist, kann die Lösung nicht sein, sich eine undurchdringlichere Haut zuzulegen. In einer solchen Welt muss es unsere Aufgabe sein, diese Welt zu einem weicheren, schöneren, besseren Ort für uns alle zu machen. 

Und ja, das mag naiv klingen, unmöglich vielleicht. 

Es ist aber auch unmöglich, die Vergangenheit festzuhalten; es ist naiv, die Zukunft verhindern zu wollen. Wenn ich also nur die Wahl habe zwischen zwei Unwahrscheinlichkeiten, dann entscheide ich mich für die, die weniger Schaden an meinem Herzen, an meiner Seele und den Menschen in meiner eigenen Gegenwart anrichtet. Und ich kann hoffen, dass die Zuversicht, das Wohlwollen, die Empathie und meine aktivistische Liebe vielleicht ebenso ansteckend sein können wie der egoistische Hass, an dem die Gesellschaft krankt. Ich will wider alle Erfahrung hoffen, dass das genug ist. Dass es wenigstens einen kleinen Unterschied macht. Vielleicht und hoffentlich: den entscheidenden.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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