Siremon | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Erinnerungen. Siebtes Siremon-Fragment

Siremon
November 18, 2011

Die Besuche bei seinen Eltern waren für Kirren seltene und seltsame Erlebnisse. Sie sich jetzt in Erinnerung zu rufen war, als handle es sich um Geschichten, die ihm erzählt worden seien. Er berichtete Sira nach Tilans Fall von jenem letzten Streit mit seinem Vater über jene Cathanie, die Kirrens jüngerer Bruder vor seinem Tod gepflanzt hatte und die der Vater fällen wollte.
„Du bist nie hier, Kirren.“ Die Stimme des Vaters matt und tonlos, als habe er diesen Streit schon so oft geführt. „Du bist nie hier und siehst nicht die Blicke Deiner Mutter auf den Baum.“
„Aber er ist das Einzige, was wir von meinem Bruder haben!“
„Ja, er ist das Einzige, was uns noch an das erinnert, was wir verloren haben. Jeden Tag seit dem Tod Deines Bruders schaut Deine Mutter auf den Baum und sieht ihn wachsen statt ihres Sohnes.“
„Aber was ist dann? Wollt Ihr ihn einfach vergessen?“
„Nein, und das weißt Du, Kirren. Wir werden ihn nicht vergessen, niemals, das verspreche ich Dir.“
„Gut, denn das werde ich auch nicht. Niemals.“

Als Kirren nicht weitersprach, fragte Sira: „Wieso erzählst Du mir das, Kirren?“
„Weil ich seinen Namen vergessen habe.“ Er holte tief Luft. „Ich habe vergessen, wie mein Bruder hieß, ich habe vergessen, wie er gestorben ist. Ich weiß nicht mehr, wie er aussah, ich habe alles vergessen.“
Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander durch den Wald. Dann sagte Sira: „Vielleicht ist es einfach zu lange her. Ich kann mich auch kaum an meine Eltern erinnern; als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war ich noch ein Kind. Ich habe länger ohne sie gelebt als mit ihnen.“
„Aber Du erinnerst Dich an sie. Du weißt, dass sie da waren.“
„Ja, natürlich. Ich weiß noch, wie …“ begann sie, doch Kirren fiel ihr ins Wort: „Ich weiß es nicht. Ich kann mich an den Streit erinnern, an meinen Vater und an die Cathanie, ich sehe sogar die traurigen Blicke meiner Mutter, doch ich weiß nicht, warum ich an dem Baum so gehangen habe.“
„Sagtest Du nicht, dein Bruder hätte …“
„Gesagt habe ich es, aber ich weiß es nicht! Hätte es nicht diesen Streit gegeben, ich wüsste nichts mehr von ihm, verstehst Du nicht? Ich kann mich nicht erinnern, einen Bruder gehabt zu haben.“

Nachdem Marathorn sich versichert hatte, dass Kirren und seine Begleiter weit genug in den Geheimgang vorgedrungen waren, versiegelte er die Tür in der Wand mit dem stärksten Zauber, den er dafür kannte. Er bereute, dass er in seiner Zeit beim Zirkus zwar gelernt hatte, Schließzauber zu brechen, nicht aber, sie zu wirken. Andererseits wäre kaum ein Zauber den Schattenbindern gewachsen. Er hatte es an Kirren gesehen, dessen Erinnerungen sich nach dem Angriff der Schattenbinder zusehends auflösten; jene Erinnerungen, die Marathorn selbst über Jahre hinweg in Kirrens Geist gewoben hatte, um ihn vor der Wahrheit und seinen Verfolgern zu schützen.
Während er jenen letzten Zauber vorbereitete, der die Akademie auslöschen und einen Großteil der Soldaten des Ersten Mannes sowie der Schattenbinder vernichten würde, hoffte er, dass Kirren auf seine Warnung hören und sich verstecken würde. Kirrens Mutter zu erwähnen, war – eine leise Stimme in seinem Hinterkopf sagte ihm das – gefährlich, fahrlässig gewesen, denn der Junge würde nun nach ihr suchen, wenn sie nicht dort war, wo er glaubte, aufgewachsen zu sein.
Andererseits war Kirren nicht alleine, Arket würde auf ihn aufpassen, Arket, der schon früh Marathorn mit dem Vorwurf konfrontiert hatte, Kirrens Erinnerungen zu manipulieren, Arket, der für Kirren wie ein Bruder war, Arket würde Kirren vor Gefahr bewahren. Ja, Arket würde Kirren schützen.

Evin. Sechstes Siremon-Fragment

Siremon
November 15, 2011

Je näher mir Siremon kam, desto mehr wurde mir bewusst, wie wenig ich von meiner eigenen Welt kannte. Tage, Wochen und Monate saß ich am Computer, und je weiter ich mich von meinen Mitmenschen, von meiner Heimatstadt, von meiner Arbeit entfernte, desto schwieriger wurde es schließlich auch, sich auf Siremon zurechtzufinden.
Ich verließ Tilan, verirrte mich im Wilden Land, das die dortigen Menschen Ti-Kaan nennen. Evins Volk lebt dort in den Wäldern rund um die Drachenberge, wo ihre einzige befestigte Stätte liegt: Risalk, der Ort der Versammlung. Die Schattenbinder ihres Volkes lernen dort ihre Gabe zu kontrollieren, sie lernen zu kämpfen, sie lernen zu töten. Sie lernen all dies, um in einem Kampf überleben zu können, den schon ihre Vorfahren geführt hatten, der ihre Eltern das Leben gekostet hatte, ein Kampf so natürlich wie atmen und singen, jagen und essen. Der Kampf gegen die Drachenmenschen grenzte Evins Brüder und Schwestern von ihren Feinden ab, Feinden, die einst ihre Brüder und Schwestern gewesen waren.

„Hier seid Ihr.“
„Evin! Du hast mich erschreckt.“
„Ich habe Euch überall gesucht. Warum seid Ihr nicht in Euren Gemächern?“
„Meine Gemächer?“ Sira schnaubte. „Ich habe genug von diesen Zeltplanen. Warum hast Du mir nicht gesagt, dass Dein Volk auch Mauern und Hallen baut?“
„Diese Mauern sind nicht Euer, sie sind meines Volkes. Ihr seid ohne Recht hier.“
„Natürlich. Ich habe nirgends und auf nichts Rechte. Ich habe es so satt, mich verstecken zu müssen, selbst da, wo ich nicht gesucht und gesehen werde.“
Als Evin nichts erwiderte, sondern sich nur zum Ausgang der Halle wandte, fügte Sira hinzu: „Die Mauern erinnern mich an zuhause, weißt Du? In den letzten Jahren habe ich nur Bäume und Büsche gesehen, nur Pflanzen und nichts, das auf Menschen hindeutet. Dieses Leben im Wald ist so erschöpfend wie es üppig ist.“
Evin blieb noch einmal stehen. „Wir werden in die Stadt gehen, Prinzessin. Der Rat sagt, wir werden gehen. Kommt nun.“
Bevor Sira folgte, drehte sie sich noch einmal um. Die Mauern der Halle hatten keine Fenster, so dass Licht nur durch den Torbogen und die Ritzen und Spalten zwischen den Steinen fiel. Der Schatten, den sie selbst warf, reichte fast bis zu dem Bild, das sie betrachtet hatte, bevor Evin sie gefunden hatte. Es zeigte einen Baum, hoch und ausladend, und Sira fragte sich, wie dieses Volk, das keine anderen Farben zu kennen schien als die Grün- und Brauntöne des Waldes, dieses Bild gemalt hatte: einen Baum mit silbern glänzendem Stamm und goldenen Blättern.

Auf meiner Reise durch die Welt, die ich fand und gleichzeitig erfand, lernte ich viel über die Welt, die ich mit jedem weiteren Schritt voran hinter mir ließ. In allem, das ich auf Siremon sah, ahnte ich eine Entsprechung und einen Ursprung in unserer Welt. Wir Menschen sind so begrenzt in unserer Vorstellungskraft, dass wir nichts grundsätzlich neues erfinden, sondern immer nur vorhandenes nachahmen und verändern können. Das Endergebnis mag an nichts erinnern, was man schon gesehen hätte, und doch liegt allem Neuen immer etwas Altes zugrunde. In allem, was wir an Neuem ersehnen, liegt immer auch die Erinnerung an etwas Verlorenes, Vergangenes.

Evin hatte Risalk nicht wieder betreten wollen, doch ihr Eid dem Rat gegenüber, die Verpflichtung ihrem Volk gegenüber zwang sie dazu. Nach dem Ende ihrer Ausbildung zur Schattenbinderin hatte sie geschworen, den Wegen des Baumes zu folgen, wissend, ja erwartend, dass es ihr Leben kosten könnte, den Kampf ihrer Vorfahren aufzunehmen. Sie hatte niemals geahnt, jene Schattenbinder, mit denen sie aufgewachsen war, zu überleben, älter zu werden, sich zu verlieben und diese Liebe wieder zu verlieren. Sie hatte niemals geahnt, dass es etwas schmerzhafteres geben konnte als das alles auslöschende Brennen der Schattengabe in ihrem Inneren. Sie hatte so oft den Tod im Kampf mit den Drachenmenschen gesucht, um nicht mehr daran denken zu müssen, was vergangen war. Doch sie hatte nie aufgeben, nie sich unterwerfen wollen, ihr Eid wog schwerer als ihr Schmerz und so zögerte sie auch nicht, diese menschliche Prinzessin, von deren Wohl auf verschlungenen Wegen auch das Wohl und die Freiheit ihres eigenen Volkes abhängen sollte, mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu schützen.
Sie hatte Angst gehabt vor dem Wiedersehen, hatte gehofft, dass sie die Konfrontation umgehen konnte, doch als sie schließlich in Risalk ankamen, war sie erst enttäuscht, dann wütend, später wie taub gewesen angesichts der Offenbarung des Rates, dass menschliche Angreifer die erste Tochter, die eine Schattenbinderin in den letzten Jahrhunderten geboren hatte; dass diese Angreifer ihre Tochter, die sie seit ihrer Geburt vor zehn Jahren nicht gesehen hatte, entführt hatten.

Das Feuer. Fünftes Siremon-Fragment

Siremon
November 11, 2011

Kirrens letzter Sommer in Tilan endete mit einem Feuer.

Kirrens letzter Sommer auf Tikaan endete mit dem Feuer.

Kirrens letzter Sommer auf Siremon begann mit einem Feuer.

Wie ich beginnen wollte: ich wusste es nicht. Ich sah Kirren im Halblicht der Kerze am Fenster stehen, hinabblicken auf die vorbeigehenden Menschen, die, in dunkle Mäntel gekleidet, zum Platz der Freiheit gingen. Sein eigener Mantel lag auf dem Bett, er hatte noch Zeit, auf ihn wartete nichts, niemand. Das Feuer würde auch ohne ihn entzündet werden, er wusste es noch nicht, doch er würde nie am Platz der Freiheit ankommen, er würde nicht sehen, wie Arket aus einer einzelnen Flamme einen himmelfüllenden Drachen aus reinem Feuer erschaffen würde.
Den Angriff der Schattenbinder allerdings, der alle Magie in Tilan für einen Moment verschwinden und den Flammendrachen über der Menge taumeln ließ, spürte Kirren am eigenen Leib, denn er brach einen Zauber, so kraftvoll aus Kirrens eigener Essenz gewoben, dass er erst durch seinen Tod gebannt werden sollte. Und tatsächlich starb ein Stück von Kirren bei diesem Angriff: die Kindheit in Ris, der Unfall des jüngsten Bruders im Moor, die ewigen Streitereien mit den Zwillingen, das lange, langsame Verblassen der Mutter; ausgelöscht wie Kerzenlicht durch das Bild eines Baumes, der vielfach gespalten im Stamm vor ihm aufragte, und ein Gesicht vor ihm, die Haare grau, die Augen brennend wie die Mittagssonne und Lippen, rissig wie geborstenes Holz, die unablässig flüsterten: „Komm, komm zurück. Komm.“

Kirren hatte diese Beschwörung mit Arket geübt, so oft geübt und doch wollte die Flamme nicht erscheinen. Er stand im Dunkel einer schmalen Gasse, in die er Sira gefolgt war und ihrer Beschützerin? Entführerin? Egal, was sie war, sie konnte auf jeden Fall besser sehen als Kirren, darum brauchte er das kleine Licht, das er mit Arkets Hilfe schon einmal beschworen hatte. Er stellte sich vor, wie eine kleine Flamme seiner ausgestreckten Handfläche entspränge, ohne die Haut zu verletzen. Stellte sich die sanfte Wärme vor, das lustige Flackern, das rotgoldene Leuchten, das die Gasse ausreichend erhellen würde, dass Kirren sich orientieren konnte. Dann ließ er seine Kraft fließen, so vorsichtig als heile er ein Blütenblatt. Tatsächlich begann sich die Luft über seiner Hand zu erwärmen, und als er ein wenig mehr Kraft fließen ließ, glaubte er sogar ein blasses Leuchten wahrzunehmen. Doch dann überrollte ihn eine Welle absoluter Schwärze, durch die er die Kontrolle über seine Magie verlor. Für einen Augenblick wurde die Gasse aus seinem Bewusstsein gelöscht.
Als er wieder zu sich kam, lag er auf dem angenehm kühlen Pflaster der Gasse. An seinem Mantel leckten kleine Flammen, durch die Wände der Häuser fraßen sich Schlangen aus Feuer, das Brechen der Balken ging im Brüllen des Brandes unter.

Das dritte Feuer zerstörte die Akademie. Die Truppen des Ersten Mannes waren noch während der Zeremonie des Neuen Feuers ausgeschwärmt, um die Magier auszuräuchern. Erst später würde Kirren von Evin erfahren, dass die Stadtgarden Schattenbinder dazu benutzt hatten, die Schutzbanne der Akademie niederzuwerfen und jede magische Gegenwehr im Keim zu ersticken.
Als Kirren durch die vertrauten Gänge schlich und seine Mitschüler und Lehrer tot oder sterbend fand, konnte er nur um sie weinen, denn er konnte keine Kraft mehr in sich spüren, sie zu heilen. Immer wieder brandete die Erinnerung die Vision und diese Augen und diese Stimme und diese Worte gegen sein Bewusstsein und drohte ihn zu überwältigen. Und dann so plötzlich, dass er dachte, er müsse sich verlaufen haben, stand er vor Marathorns Gemächern. Die Tür hing schief in den Angeln, davor lag ein toter Soldat, dessen Gesicht nur mehr eine schwarz verlaufene Masse war. Seltsam betäubt nahm Kirren das war, als ginge es ihn nichts an, er ging nur an dem Leichnam vorbei und sah durch die Tür in den langen Gang zum Arbeitszimmer seines Mentors. Dort kämpften zwei Soldaten gegen züngelnde Flammen, die sich auf die Männer stürzten und sich wieder zurückzogen, um kurz die Form eines Menschen anzunehmen, bevor sie erneut zuschlugen. Noch hinter den Kämpfern versuchten zwei Soldaten die Tür zu Marathorns Arbeitszimmer aufzubrechen und daneben stand ein Kind, das Kirren ansah mit einem so leeren, fernen Blick, dass ihm klar wurde, dass der Tod Fremder nicht das Schlimmste war, das diese Augen je gesehen hatte.

Als sie in Evins Versteck angkommen waren, heilte Kirren die schlimmsten von Arkets Verbrennungen, die er sich beim Kampf gegen die Soldaten zugezogen hatte. Sein Freund hatte die Augen geschlossen und sagte auch nichts, so dass Kirren mit seinen Gedanken alleine war. So vieles war passiert: Sira, der tote Soldat, die brennende Gasse, die Vision des Baumes, das Blutbad in der Akademie, der Kampf, Marathorns Opfer, die Flucht, doch alles verwehte wie Rauch angesichts von Marathorns Worten, Marathorns Warnung angesichts Kirrens Vision: „Geh nicht dorthin, Junge, versteck Dich vor Yal. Vergiss, was Du gesehen hast, oder alles, was Deine Mutter für Dich geopfert hat, war umsonst.“

Arket. Viertes Siremon-Fragment

Siremon
November 8, 2011

In einer der frühesten Fassungen der Geschichte war Arket noch Kirrens jüngerer Bruder, und sie beide lebten in einem kleinen Dorf abseits von Tilan, jener Stadt, in der später alles beginnen sollte. Arket war damals noch fast unsichtbar, unfassbar für mich, doch war mir die Bindung zwischen den beiden so deutlich, dass ich sie auch später nie lösen konnte. Selbst in einer der späteren Fassungen, da Arket und Kirren einander zu besiegen suchten, blieb immer noch klar, dass sie in der Vergangenheit Freunde und Vertraute gewesen waren. Vielleicht, das wurde mir später klar, muss das so sein, wenn man aufwächst, dem Vertrauten entwächst: man löst sich von allem, was die eigene Kindheit bedeutete, was einen mit jener verlorenen Zeit verband, um erkennen zu können, dass sie wirklich verloren ist.

„Es ist eine einfache Beschwörung. Selbst Du solltest das können.“
„Selbst ich? Wofür hältst du mich, einen Stein?“
„Selbst Du als Heiler solltest eine Flamme beschwören können. Es ist so einfach.“ Arket öffnete seine Faust, so dass Kirren die Flamme sehen konnte, die auf der Handfläche seines Freundes tanzte.
„Wenn Du heilen so einfach findest, kannst Du Dich ja das nächste Mal, wenn Du verprügelt wirst, selbst versorgen.“
Mit einem dumpfen Knall fing Arkets gesamte Hand Feuer, doch sah er nicht hinab, sondern starrte Kirren an. In seinen silbernen Augen spiegelten sich die nun lodernden Flammen. Kirren wusste selbst, dass seine Worte Arket verletzt hatten, und wie so oft kam ihm der Gedanke, dass er für einen Heiler zu gut Wunden reißen konnte. Andererseits hatte Arket dafür, dass er das Heilen zu den niederen Zweigen der Magie zählte, schon viel zu oft der Hilfe dieses niederen Zweiges bedurft, wenn er boshafte Bemerkungen über sein nichtmenschliches Erbe mal wieder nicht ignorieren konnte. Kirren ahnte, dass die Erwähnung der häufigen Angriffe auf ihn schmerzender war als diese selbst.
Doch dann, als Kirren schon befürchtete, Arket schlüge ihm die Flammen ins Gesicht, erlosch das Feuer zwischen ihnen und Arket ließ seine Hand und seinen Blick sinken. Als er wieder aufsah, glänzten seine Augen nicht mehr wie kalter Stahl, sondern schimmerten in dem Himmelblau, das er von seiner Mutter geerbt hatte. „Ich habe mir die Hand verbrannt“, sagte er heiser.
„Lass mal sehen.“
Arket hielt seine Hand wieder in die Höhe. Die Haut war an vielen Stellen vollends verbrannt und das darunter bloßliegende Fleisch glänzte schwarz und rot.
„Das ist gar nicht so schlimm, wie es aussieht.“ Kirren formte mit seinen Händen eine Kugel um Arkets Hand und öffnete sich der Kraft, die in ihm wie eine silberne Pflanze wurzelte. Dann konzentrierte er sich auf den Zauber, der das Gewebe kühlen und nähren, ihm die Erinnerung an Leben wiedergeben würde, und ließ dann seine Magie fließen. Leise fügte er hinzu: „Es ist ein ganz einfacher Zauber. Selbst Du solltest das können.“

Diese Freundschaft wollte ich nicht zerstören, ich musste. Wenn ich die Geschichte vorantreiben wollte, wenn ich wollte, dass Kirren sich seinem Schicksal stellt, dann musste ich ihn aus dem Schatten herausbringen, den der Halbmensch warf. Ich weiß nicht, ob ich Arket dazu wirklich hätte vernichten müssen, oder ob er auch an Kirrens Seite hätte kämpfen können. Ich habe es nie versucht.
So wie die Freundschaft zwischen dem Jungen ohne Erinnerung und dem Jungen mit zu viel Erinnerung keiner Alternative Raum ließ, sah ich auch keine Möglichkeit, Arket vor sich selbst zu retten. Das Feuer, das in Arkets Seele brannte, würde ihn mit der Zeit verzehren und wenig zurücklassen, das selbst ein Heiler mit göttlichen Kräften hätte retten können. Das einzige, was ich für Arket tun konnte: ich gab ihm Zeit, verlängerte sein Leiden an sich selbst weit genug, dass er erkennen konnte, dass hinter seiner Wut eine viel größere Kraft steckte.

Yal. Drittes Siremon-Fragment

Siremon
November 4, 2011

Betrat man nach Herekats Fall den Garten der sterbenden Göttin, konnte man Yals Schreie hören, die mal schneidend hell an einen hochfliegenden, klagenden Adler, mal tief und heiser an ein großes, aber tödlich verwundetes Tier denken ließen. Manchmal murmelte Yal nur leise Worte, dann wandelte ihr Geist auf jenen anderen Pfaden, die den Garten mit den Kraftknoten in der Steppe von Rhaton, im Schlund und in den Drachenbergen verbanden.
Neskarian ging in diesen wenigen Stunden, die er nicht als Yals Stimme diente, auf den sichtbaren Wegen durch den Garten, betrachtete Schmetterlinge und Blüten, Vögel und Eichhörnchen. Dann konnte man auch seine wahre, eigene Stimme hören, wenn er Lieder sang, die ihn an die Zeit erinnerten, bevor die Menschen Yals Garten betreten und sie zu einer Gefangenen in ihrem eigenen Reich gemacht hatten.

Ich erfuhr nie den Namen des Mannes, der Yal töten sollte. Mal nannte ich ihn Hauptmann, mal Schwertträger, dabei war er weder das eine noch das andere. Dieser einfache Soldat, der das Schwert seines toten Vorgesetzten genommen und sich damit vom Schlachtfeld gestohlen hatte, fand sich auf der Suche nach Sicherheit vor einem silbern leuchtenden Baum mit goldenen Blättern wieder, wo eine Frau stand, deren weißblondes Haar über ihren nackten Körper bis zum Boden fiel. Der Soldat zögerte nicht, denn Zögern hatte schon den Hauptmann das Leben gekostet, also beschleunigte er seine Schritte so sehr, dass er fast rannte. Sie musste ihn gehört haben: sie wandte sich um, und hätte der Soldat die Entscheidung nicht schon getroffen, er wäre nicht mehr dazu fähig gewesen, sie anzugreifen. So schön war sie, ihre Haut wie sonnendurchfluteter Nebel, ihre Augen golden wie Herbstlicht, ihr Blick traurig, nicht erfüllt von Angst oder Zorn.
Das Schwert durchfuhr ihre Brust wie Wasser, er spürte den Widerstand, als die Klinge Borke, Bast und Holz durchdrang, und für einen Moment erfüllte ihn ungläubige Freude über diesen Angriff, der so leicht, so schnell geglückt war. Dann schrie Yal zum ersten Mal und der Geist des Soldaten erlosch, als sein Körper in den Flammen ihrer entfesselten Macht verbrannte wie sommertrockenes Stroh.

Neskarian selbst führte Kirren durch Yals Garten. „Du bist groß gewachsen, Mensch, und doch erkenne ich in Dir das Kind wieder, das ich vor Jahren zu Yal brachte.“ Neskarian blieb stehen und sah einem Schmetterling nach, der ihren Weg gekreuzt hatte und dann zu einem nahen Blauregen geflogen war. Dann sah er wieder zu Kirren. „Es ist gut, dass Du zurückgekehrt bist.“
„Ich werde nicht bleiben.“
„Natürlich nicht.“
„Ich muss zurück zu meinen Freunden. Sie sind in schrecklicher Gefahr. Dieser Dreigesichtige …“
„‚Dieser Dreigesichtige‘ ist gefährlicher, als Du ahnst. Doch deine Anwesenheit hier ist die erste von vielen Niederlagen, die er erleiden wird.“
Neskarian ging so plötzlich weiter, dass Kirren zurückfiel und erst aufholte, als der Sin kurz darauf wieder stehenblieb. Seine Frage, welchen Verlust es für den Dreigesichtigen darstellte, nicht gegen einen Heiler kämpfen zu müssen, der seine magischen Kräfte nicht mehr kontrollieren konnte, erstarb auf seinen Lippen, als er den Baum sah, den er aus seinen Träumen kannte.

Manchmal schien mir Kirrens Geschichte in den letzen Jahren so nah, so echt, dass ich seine Träume selbst durchlebte. Auch wenn ich nicht mehr schlief, verfolgte mich das Bild des Herekat durch die schlaftrunkenen Minuten unter der Dusche, und wenn ich im Morgengrauen durch den Park zur Arbeit ging, erwartete ich zu sehen, was Kirren gesehen hatte: die schwarze und rissige Rinde eines vielfach im Stamm gespaltenen Baumes, dessen Äste teils wie Klauen nach dem Himmel griffen und teils auf der Erde lagen inmitten blutroten Laubs. Und davor sähe ich eine Gestalt mit grauer Haut, das lange, bleiche Haar reichte bis zum Boden und verhüllte doch nicht die umschatteten, gelb leuchtenden Augen oder das Gesicht, rissig wie Borke. Und dann fiele mein Blick nach unten zu dem Griff des Schwertes, das Yals Körper an diesen gestorbenen und wiederbelebten Baum fesselte, der sie in den letzten dreihundert Jahren so umfasst hatte, dass sie selbst wie ein verdrehter Ast dem schwarzen Stamm entwuchs.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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