Textualitäten | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Drachentod

Textualitäten
Dezember 22, 2022

Kaum hatte Ulvar den Drachen erblickt, stürmte er auch schon los. Seine Rüstung, ein über Jahrhunderte weitergegebenes Erbe des Königshauses, spiegelte das Grün der Lichtung, das Braun der Bäume, die Flammen in den Kronen und den Qualm in der Luft. In der Rechten führte Ulvar Weißdorn, die Palladiumklinge seiner Vorväter, ein Langschwert, das normal gebaute Männer vielleicht gerade so mit zwei Händen führen könnten, und in der Linken den Spiegelschild, den der Legende nach niemand geringerer als Nothor Basiliskentöter gefertigt und getragen hatte, als er mit dem Sieg über den letzten Schlangenkönig den Grundstein für sein Königtum legte.

Ulvar rannte zwischen den Klauen seines Gegners hindurch, wich einem Schwanzschlag aus, einem zweiten und dritten und sprang dann - ohne dabei langsamer zu werden - auf Schwarzfeuers Rücken. Pfirsichblüte hatte Ulvar geraten, nach der verletzlichen Stelle direkt am Schädelansatz des Drachen zu suchen: ein gezielter Stich, und der Kampf wäre im Nu vorbei.

Und tatsächlich schien Ulvar an seinem Ziel angekommen: zwischen den wild schlagenden Flügeln des Drachens sein Gleichgewicht haltend lupfte er das Schwert kurz an, griff um, drehte Weißdorn mit dem Heft gen Himmel und hieb die Spitze zwischen die Schuppen.

Über Schwarzfeuers Gebrüll meinte Pfirsichblüte ein leises Ploing zu hören, als sich die Klinge leicht bog und dann aus Ulvars Griff seitlich ins Gebüsch sprang; er merkte sich die Stelle, um später dort zu suchen, wandte sich dann aber rasch wieder dem Kampf zu. Ulvar hatte den Schild fallen gelassen, um sich mit der Linken auf dem Rücken des bockenden Drachen festzuhalten. In der Rechten hielt Ulvar jetzt ein weiteres Schwert, kürzer als Weißdorn und für den Hünen sicherlich das Äquivalent eines Apfelmessers, für normalgroße Menschen aber immer noch eine Waffe beachtlicher Größe. Das musste Blauzahn sein, die Zweitklinge des Königshauses, älter noch als Weißdorn, übernommen von den exilierten Nachkommen der vorigen Dynastie. Pfirsichblüte hatte einmal gewusst, in welcher Generation die beiden Häuser sich vereinigt hatten, für jetzt schob er den Gedanken aber beiseite. Wenn das Schwert wirklich Blauzahn war, musste der Knauf versehen worden sein mit einem Saphir in der Größe von Pfirsichblütes Hand. Unfassbar, mit welchem Arsenal Prinz Ulvar gekommen war, um Schwarzfeuer, den letzten Drachen der südlichen Ebene zu besiegen und damit den Königsfrieden auch über die Verfluchten Lande hinaus auszudehnen.

Ulvar hieb Blauzahn nun mit beiden Händen auf Schwarzfeuers Rücken, doch die Schuppen wollten nicht brechen. Der Drache wand und bog sich, brüllte und schrie, schlug mit den Flügeln, spie Feuer in die Luft und schien seinerseits nicht in der Lage, den Recken abzuschütteln. Und dann ging ein Ruck durch Schwarzfeuers Leib, eine Welle beginnend vom Schwanz über den unteren Rücken bis zum Nacken. Die Flügel erschlafften und schlugen zu Boden, den Kopf reckte Schwarzfeuer ein letztes Mal in den Himmel, die Augen rollten zurück, eine Wolke aus Dampf entstieg noch seinen Nüstern, dann fiel auch der Schädel auf die Erde: ein Schlag, den auch Pfirsichblüte in seiner sicheren Entfernung noch spürte. Und Ulvar richtete sich langsam auf, fast ungläubig, doch noch den Drachen besiegt zu haben, an dem schon so viele Helden vor ihm gescheitert waren. In einer - wie Pfirsichblüte fand - lächerlichen Geste stand Ulvar auf, streckte seinen ganzen Körper, die Linke seitlich an die Hüfte gesetzt, die Rechte mit Blauzahn in die Luft gereckt und stieß einen Jubelschrei aus.

Dann rollte sich Schwarzfeuer auf den Rücken und begrub Ulvar unter sich.

"Du hast es schon wieder getan." Schwarzfeuer klang entschieden maulig, aber Pfirsichblüte beschloss, diesen Tonfall nicht mit einer schuldhaften Reaktion zu belohnen. Statt dessen sagte er: "Was soll ich getan haben?"

"Du hast schon wieder behauptet, ich hätte eine Schwachstelle am Rücken."

"Vielleicht ist er selbst drauf gekommen." Pfirsichblüte wandte sich wieder dem Gebüsch zu. Irgendwo hier im Unterholz musste Weißdorn gelandet sein, aber es war schon recht dunkel. Pfirsichblüte überlegte, ob er Schwarzfeuer um ein wenig Licht bitten sollte, aber in dieser Stimmung würde er sicherlich den halben Wald abfackeln.

"Pfft."

Pfirsichblüte machte ein Gesicht, von dem er glaubte, es würde ehrliche Betroffenheit ausstrahlen und drehte sich um. "Was heißt denn da Pfft? Ulvar kommt … kam aus einer Familie berühmter Drachentöter, da war bestimmt ein Drache mit schwachem Nacken dabei."

"Schwacher Nacken? Was soll das denn sein? Osteoporose für Saurier?" Schwarzfeuer schnaubte rauchlos. "Jedenfalls habe ich dir gesagt, dass ich das hasse, und dass du das bitte lassen sollst."

"Aber …"

"Nichts aber, Pfirsichblüte." Der Drache schwenkte seinen Kopf ins Unterholz, so dass seine riesigen goldfarbenen Augen Pfirsichblüte direkt anleuchteten. "Erstens laufen die Kämpfe dann immer gleich ab, und das beginnt mich zu langweilen, und zweitens haben meine Schuppen beim letzten Mal noch nach zwei Wochen gejuckt. Such dir wenigstens eine andere" - Schwarzfeuer hob kurz die Vorderklauen und malte mit Zeige- und Mittelkralle Striche in die Luft - "'verwundbare Stelle' aus."

"Wieso jucken die Schuppen? Ich dachte, sie sind unkaputtbar."

"Lass dir mal mit einem Schwert auf den Rücken schlagen und bekomme kein schwaches Schlagtrauma davon. Es sind auch nicht so sehr die Schuppen als die Muskulatur darunter. Und du weißt ganz genau, dass ich mich am Rücken so schlecht selbst kratzen kann."

Pfirsichblüte wandte sich wieder dem Boden zu. Im Umdrehen sagte er: "Wenn du mal endlich deine Mobilitätsübungen machen würdest, die ich dir schon vor Jahren empfohlen habe, wärst du vielleicht etwas flexibler."

"Pfirsichblüte!" Schwarzfeuers Empörung ließ das Licht aus seinen Augen noch heller strahlen.

"Ich mein ja nur. Und jetzt: schau mal bitte auf diesen Strauch, ich glaube da ist … Ha! Gefunden!" Zufrieden hob Pfirsichblüte den Zweihänder aus Palladium aus dem Dreck.

Der Narr, der den Riesen geblendet hatte

Textualitäten
März 31, 2022

An jenem wie an jedem anderen Morgen stand Outis auf, wusch sich an dem Bach, trocknete seinen Leib und band sich den Schurz um die Hüfte. Er holte sich ein Stück Brot und trank einige Schlucke vom süßen Wasser, bevor er zu den Tieren ging. 
Die Wachteln musste er suchen: sie versteckten sich gerne im Unterholz. Mit einigen Bröseln des harten Brotes jedoch konnte er sie hervorlocken. Die größte und wohl älteste Wachtel, vielleicht auch die Mutter der übrigen neun, pickte ihm eine große Krume direkt aus den Fingern, danach schmiegte sie ihren Kopf in seine Hand. Outis hatte sie Gedächtnis genannt in der Hoffnung, dass wie sie auch seine Erinnerungen sich einmal locken ließen und zu ihm zurückkehrten. 
Eine Weile saß er zwischen den gurrenden Vögeln und streichelte ihre Köpfchen, bis sich die Ziege näherte, der er den Namen Vergessen gegeben hatte. Sie musste er nie suchen, sie fand ihn an jedem Tag ohne sein Zutun. Vergessen meckerte leise, stupste seine Hand mit den Nüstern an, bis er den Rest des Brotes freigab, das sie mit Knuspern und Knirschen zerbiss und dann schluckte. Wieder stupste sie ihn an, erst sanft, dann fordernder, doch Outis sagte: „Ich habe nichts mehr.“ Da ließ sie von ihm ab und trottete wieder fort.
„Ich habe nichts mehr“, wiederholte Outis und sah den Wachteln nach, die wieder im Unterholz verschwanden, um dort nach Würmchen, Gräsern und Samen zu picken. Dann stand er auf und ging wie an jedem anderen Morgen ans Ufer, um in der Sonne zu sitzen und das Meer zu betrachten. 

Seit Wochen, Monaten oder Jahren schon war Outis nun hier zu Gast bei Hirte und Jägerin und ihrer stets vor ihm verborgenen Mutter. In seiner Zeit hier hatte er letztere noch nicht gesehen, weilte sie doch beständig in dem kleinen Hain aus Zypressen, Weiden und Erlen, den zu betreten er bislang vermieden hatte. Dort buk sie das Brot, und sie molk auch die Ziege und verarbeitete die Milch zu Käse, den ihre Kinder ihm brachten, zusammen mit Obst, Gemüse, Oliven und Wein. Sie hatte ihm auch ein Tuch gewebt, das er abends um sich legte, wenn Hirte ihn besuchen kam und ihn seine Lieder zu singen lehrte. Manchmal setzte sich auch Jägerin zu ihnen und unterhielt sie mit Geschichten. Die meisten Abende aber verbrachte Outis allein an seinem kleinen Feuer und folgte dem schläfrigen Mäander seiner Gedanken. 
Am Abend jenes Tages setzten sich Hirte und Jägerin zu Outis. Jägerin erzählte von einem Narren, der einen Riesen zu blenden versucht hatte, dann wob Hirte auf der Lyra eine in sich verschlungene Melodie. Outis hört eine Weile zu, dann sagte er: „Ich kann mich an Sterne erinnern und an den Mond. Die Nächte früher sind nie so dunkel gewesen.“ 
Tatsächlich hatte er in all seiner Zeit hier noch keinen einzigen Stern gesehen, der Himmel wurde nach Sonnenuntergang stets so finster wie das Innere seines Kopfes. Outis hatte das nicht hinterfragt, hatte es als weitere Selbstverständlichkeit hingenommen, doch nachdem er früher am Tag die fremde Küste gesehen hatte, waren ihm alle Selbstverständlichkeiten abhandengekommen. Ihm war zumute gewesen, als habe ein Boot den Berg einer Welle erklommen und sei dann am höchsten Punkt über den Kamm gekippt, um wieder hinab zu sinken ins Wellental. Angesichts des Festlands auf der anderen Seite des Meeresarms hatte er erkannt, dass der Boden unter seinen Füßen weder fest noch Land war.

Am Abend jenes Tages also sagte er zu Hirte und Jägerin: „Ich habe heute Land gesehen, zu weit entfernt, um hinüber zu schwimmen, aber doch Land. Ich mag mir selbst ein Niemand sein, aber ich weiß mit der Gewissheit eines Lebenden um das Schlagen des eigenen Herzens, dass es dieses Land gestern dort nicht gab.“
Hirte und Jägerin sahen Outis an mit ihren strahlenden Augen, die nicht vom Licht der Flammen glänzten, sondern von innen heraus, als brenne in ihnen ein ganz eigenes Feuer, silbern bei Jägerin und golden die Augen von Hirte. Wäre dieses Strahlen nicht gewesen, Outis hätte die beiden für die schönsten aller Menschen halten können: jung und kraftvoll, makellos mit seidenglatter Haut und schimmerndem Haar; diese Augen aber, mit denen die beiden ihn ansahen, verrieten ihre Unmenschlichkeit: Sie waren Götter, die ihn zu sich genommen hatten, um ihn mit der Leere in seinen Erinnerungen zu quälen. 
„Den halben Tag habe ich nach Erklärungen gesucht. Das Land kann nicht über Nacht aus dem Meer aufgestiegen sein, also müssen wir uns bewegt haben. Doch wie? Sind wir etwa nicht auf einer Insel, fragte ich mich und fand: Nein, denn das hier“, er schlug auf den Boden, der nun, da Outis um die Nichtinseligkeit wusste, für ihn spürbar zurückfederte, „ist keine Erde, und doch wachsen Blumen und Büsche und Bäume darauf. Ich kann in einem glatten Kreis an der Meereskante entlanggehen, doch nirgends eine Bucht, nirgends eine Anse, nichts, das den Saum des Ufers durchbricht. Unter der Wasseroberfläche aber habe ich große eingewölbte Flächen entdeckt, wie Bootsrümpfe, doch ohne Planken, Spanten oder Mastschuh.“ 
Mehr um diese Kehlung sich selbst zu verdeutlichen als dem Hirten und der Jägerin, legte er die Hände an der Seite der kleinen Finger aneinander, als wolle er Wasser schöpfen, doch als ihm auffiel, wie sehr diese Geste einer Bitte um Mildtätigkeit glich, ließ er die Hände fallen und hob stattdessen die Augen, um sich mit dem Mut des Verzweifelten den glühenden Blicken der Götter zu stellen. 
„Ich bin zu einem Schluss gekommen, zu einer Erkenntnis so einfach wie widersinnig: Das hier“, er schlug erneut auf den Boden, „ist eine Blüte, groß genug, um einen kleinen Wald zu tragen. Und ich sehe keine Sterne und keinen Mond, weil sich diese Blüte abends schließt und so die Nacht vor meinen Augen verbirgt.“ 

Hirte sagte leise zu seiner Schwester: „Ich sagte doch, er ist schlauer als du denkst.“
Und Jägerin sagte ebenso leise zu ihrem Bruder: „Doch ist er schlau genug, um zu verstehen?“

„Was ich nicht verstehe, ist: Warum? Ich zweifle nicht daran, dass Ihr in Eurer Göttlichkeit auch eine Blume von der Größe eines Kriegsschiffes erschaffen könntet; doch warum bin ich hier? Was habe ich Euch getan?“ Und da erfasste Outis ein Schrecken. „Oder bin ich doch schon gestorben und glaube nur, mein Herz schlagen zu spüren?“
Da erhob sich Hirte, umrundete das Feuer und hielt Outis die Hand hin, um ihm aufzuhelfen. Ohne nachzudenken, ergriff Outis die Hand des Gottes. Erst zu spät fiel ihm ein, dass er, der Sterbliche, noch nie den Unsterblichen berührt hatte, und Entsetzen lähmte ihn. Doch Hirte, dessen Hand sich anfühlte wie die eines zwar starken, aber dennoch gewöhnlichen jungen Mannes, zog ihn ohne Mühe auf die Beine. Und dann war da auch schon Jägerin, die seine andere Hand nahm, mit festem, weniger freundlichem Griff. Nebeneinander standen sie vor ihm, hinter ihnen das auflodernde Feuer, das Outis' Blick auf sich zog, so dass er die Götter vor ihm kaum noch ausmachen konnte. Ihre Stimmen jedoch schmolzen ihm durch Haar und Haut und Knochen und Mark direkt in seine Gedanken.
„Zwar bist du dem Tode nah“, sagte Jägerin. Und Hirte sagte: „Doch dein Leben ist noch nicht vorbei.“
Und hinter ihnen und hinter dem Feuer, das noch einmal aufbrannte und dann in sich zusammenfiel, sagte eine Frau, die niemand anderes als die lang verborgene Mutter der göttlichen Zwillinge sein konnte: „Noch bist du fern der letzten Ufer, noch ist dein Werk nicht ganz getan.“ 
Outis‘ Sicht war noch geblendet von den Flammen und doch erfasste sein Geist im Dämmerlicht der glimmenden Kohlen die Gestalt dieser Frau: sie hielt sich aufrecht mit dem Stolz einer Königin, ihre Hände jedoch hatte sie in einer Geste des Willkommens geöffnet. Ein Teil von Outis' Geist ahnte, dass diese Frau schön sein musste, ihr Gesicht allerdings war, als trauerte sie, hinter einem schwarzen Schleier verborgen. Als sie sprach, war ihre Stimme honigsanft: „Du bist aus freien Stücken unser Gast, und es steht dir frei, uns zu verlassen, wann immer du willst.“
„Warum aber kann ich mich nicht daran erinnern?“ Outis hatte Schwierigkeiten zu sprechen, nicht nur der Erhabenheit eines vermeintlichen Sakrilegs wegen, sondern auch, weil es ihn alle Kraft kostete, nicht in Tränen auszubrechen. „Habe ich Euch etwa ums Vergessen gebeten?“
„Ja, mein Kind“, antwortete die Verschleierte, „ja, das hast du.“
Und dann war sie bei ihm und schloss ihn in ihre Arme und er weinte, wie er lange nicht geweint hatte. Alles in ihm krampfte sich um sein heftig schlagendes Herz, sein ganzer Körper bebte unter dem Ansturm einer Verzweiflung, die er bis eben noch nicht in sich gekannt hatte. Bilder stiegen in ihm auf: Wunden an seinem Leib, an seinen Händen fremdes Blut, Körper, über die er hinwegstieg, seine Waffe schwingend, schreiend, fluchend, weinend. Er sah sich selbst töten, wahllos auf Lebende, Sterbende und Tote einschlagend, um sich herum Dutzende Soldaten, die im abgehackten Flackern einer brennenden Stadt fliehenden Männern, Frauen und Kindern nachjagten. Er stand inmitten von Leichen, und er hörte sich lachen, und er erkannte den Wahnsinn darin, und er verstand, warum er hatte vergessen wollen, und dann er erinnerte sich an mehr.
„Ihr wart dort“, sagte er, seine Stimme nur noch ein Flüstern. „Ich habe Euch gesehen. Ich habe gegen Euch gekämpft.“
„Ja“, sagte die Frau hinter dem Schleier, „wir waren dort und wurden Zeugen deines Mordens.“
Outis entwand sich der ebenso tröstenden wie schrecklichen Umarmung. „Und doch habt Ihr mich hier aufgenommen und mir die Seligkeit des Vergessens geschenkt?“
„Wir haben dir eine Zuflucht gegeben, als du uns darum batest, aber nicht wir haben deine Erinnerungen genommen. Das hast du selbst getan. Du wolltest dich vergessen.“ Die Verschleierte trat beiseite, so dass er hinter ihr einen abgeflachten Hügel sehen konnte, auf dem der Körper eines Mannes lag, durchscheinend wie aus mattem Licht gewebt. Outis erkannte, als er nähertrat, sein eigenes Gesicht auf diesem Mann: hager mit schütterem, von grauen Strähnen durchzogenem Bart, über einer durchfurchten Stirn langes, schwarzes Haar mit Silberfäden darin. Der Mann, der Outis' Züge trug, schien zu schlafen, doch was er träumte, quälte ihn sichtlich. 
„Du warst ein flaches Boot auf einem tiefen Meer, überladen mit Reue. Sie drohte, dich ins Nichtsein hinabzuziehen. Ein Rest von Weisheit rettete dich: All das vergossene Blut sollte nicht für nichts gewesen sein. So entkamst du dem Tod, so entkam dir die Welt. Sieben Jahre sind vergangen ohne dich.“
„Werde ich zurückkehren?“ Outis deutete unbestimmt auf den zitternden Mann. „Muss ich dieses Leben wieder aufnehmen? Kann ich es überhaupt? Sollte ich es wollen?“
„Es ist das Glück der Sterblichen, nichts über ihr Schicksal zu wissen. Wir werden dir nichts befehlen, wir werden dir nichts raten. Du wirst tun, was du willst.“
„Aber Ihr seid Götter!“ rief Outis aus und bereute sofort seinen Ausbruch. Ruhiger sagte er: „Ihr besitzt die Macht über Leben und Tod, Ihr habt gewiss auch Macht über mich.“
„Es ist wahr, wir verfügen über mehr Kenntnisse und Möglichkeiten als die Sterblichen. Doch auch uns sind Grenzen gesetzt. Auch wir beugen uns einem Schicksal. Wir tragen die Last der Unsterblichkeit und die Bürde von Wissen, Wahrheit und Erinnerung.“
Und die Jägerin, die in dem Moment, in dem sie sprach, neben Outis trat, sagte: „Wir können töten, und jedes Leben, das wir nehmen, ist unauslöschlich in unsere Seele eingeschrieben.“
Und der Hirte, der bis eben noch nicht wieder neben Outis gestanden hatte, sagte: „Wir können heilen, und jene Leben, die wir retten, sind unentwirrbar mit unserer Seele verbunden.“
Und die Frau mit dem Schleier sagte: „Richteten wir über dich, machte es das Leid, das du verschuldet hast, geringer? Nähme es den Trauernden ihr Leid? Wäre die Welt ein besserer Ort?“
„Nein“, sagte Outis, das Wort bitter in seinem Mund und bitterer noch seine Gedanken. Doch sagen konnte er nur: „Nein.“ Und dann: „Ich will zurückkehren.“
Und alle drei, Hirte, Jägerin und verschleierte Frau, sagten zugleich: „So sei es.“

Da erlosch das Glühen der Glut und hoch über ihnen brach ein Licht durch einen Spalt in der Finsternis. Outis blickte hinauf in einen achtzackigen Stern aus hellblauem Himmel, dessen Kanten sich rasch verlängerten und bis auf den Horizont herabsanken, während die Lichtlosigkeit mehr und mehr ausblich und nur das Licht eines Morgens zurückließ, als die Blütenblätter unter der Wasserlinie verschwanden. Und auch die Bäume, Sträucher und Blumen waren fort. 

Outis stand im Zentrum einer kreisrunden Ebene, die bewachsen war mit weißblühendem Klee und gelbdoldigem Kraut. Neben ihm standen Hirte und Jägerin, vom Tageslicht durchschienen. Ihre Mutter war nicht mehr zu sehen. Zwischen ihnen sprudelte eine Quelle aus vier Öffnungen einer niedrigen Aufwölbung. 
Erinnerungen stürzten auf Outis ein: die Jahre des Kriegs, das Taktieren, das Gemetzel, die Opfer davor und danach. Aber auch an das Leben, das er früher geführt hatte, erinnerte er sich, als König an einem eigenen Hof mit einer ihn liebenden Frau und einem kleinen Sohn. Und dann auch an den Moment kurz vor seinem Vergessen, an den Schatten einer Frau mit einem Schleier, die zu ihm von der Macht der vier Quellen gesprochen hatte. Die erste bringe den Tod, hatte sie gesagt, und die zweite das Vergessen und die dritte … Doch Outis war schon auf die Knie gefallen, hatte die Hände wie eine Schale ins Wasser getaucht und getrunken. Geschöpft und getrunken, geschöpft und getrunken. Geschöpft und …
All diese Gedanken türmten sich wie Felsen auf die Ruhe in seinem Inneren. Kurz stach ihn die Sehnsucht nach dem Stupsen einer Ziege und dem Gurren der Wachteln. Alles war so einfach gewesen, so konsequenzenlos unwichtig. 
Doch Outis bat nicht um die Gnade erneuten Vergessens, sondern ging in Begleitung der geisterhaften Zwillinge zur Meereskante, wo er sein Boot an einer speerartig aufragenden Blütenzunge befestigt fand. Hirte reichte ihm einen Wasserschlauch und Jägerin einen Sack mit Proviant. Outis bedankte sich wortlos, kletterte in das Boot, setzte das Segel und überließ sich dem Westwind.

Der Fall Franz Kalo

Textualitäten
Oktober 12, 2021

„Vielen Dank für Ihren Bericht, Herr Kalo. Fragen?“ Ewa Pandora ließ ihren Blick über die Runde schweifen. „Das scheint nicht der Fall zu sein. Nächster Punkt: die Neuorganisation der Ablage. Sie kennen die Probleme, die wir damit haben. Herr Kalo, ist noch was?“

Franz Kalo hatte sich noch nicht wieder gesetzt. Der Gedanke, der ihm eben noch auf der Zunge gelegen hatte, klebte ihm nun am Gaumen. Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder, sagte schließlich: „Oblate.“

Ewa Pandora sah Franz Kalo an, den Kopf leicht geneigt, die Augen ein wenig zusammengezogen. Franz Kalo versuchte, ihren Blick zu erwidern, musste aber ein Lid schließen, um zu verhindern, dass ihm der rechte Apfel aus der Höhle glitt; und weil das den ganzen Raum in eine Schieflage brachte, senkte er auch das linke Lid. Doch statt beruhigender Dunkelheit füllte nur wieder die auslaufende Sonne sein Bewusstsein.

„Frau Geirönul, könnten Sie Herrn Kalo bitte helfen? Vielleicht möchte er sich hinlegen.“

Franz Kalo, der eben fast noch in den Teppich versickert wäre, spürte eine Hand an seinem Ellbogen und eine Hand auf seiner Schulter und eine Hand in seiner eigenen. Es dauerte einen Moment, bis er erkannte, dass auch die dritte Hand seine eigene war.

„Komm, Franz“, sagte eine leise Stimme an seiner Seite, „ich bringe dich raus.“

Mit geschlossenen Augen ließ Franz Kalo sich führen, konzentrierte sich darauf, keinen seiner Füße zu verlieren, während er gleichzeitig versuchte, nicht der allverschlingenden Gravitation in seinem Kopf zu erliegen. Hinter der ohrenbetäubenden Stille des Vakuums meinte er das leise Flüstern der Anwesenden zu hören und dann Ewa Pandora, die die Aufmerksamkeit wieder auf drängendere Themen lenkte: „In den Dossiers, die Sie vor sich liegen haben, finden Sie die Vorschläge von Professor Schrödingers Institut. Wie Sie sehen werden, könnten wir mit seinen Negentropie-Maßnahmen unsere Workflows deutlich …“

Während Hilda Geirönul Franz Kalo vorsichtig über den Flur leitete, verdrängte das leise Schlurfen über Kurzflor Ewa Pandoras Stimme.

„Hier nach rechts, Franz, noch ein paar Schritte, dann … ja, hier, setz dich, ich helfe dir, dich hinzulegen.“

„Danke.“ Franz Kalo spürte dem Wort nach, drückte die Zunge gegen den Gaumen, um die bitteren Reste des Ks herunterschlucken zu können und leckte sich dann die E-Spuren von den Lippen.

„Was ist denn los mit dir, Franz?“ Franz Kalo wusste nicht, wie laut Hilda Geirönul gesprochen hatte, ob sie überhaupt gesprochen hatte, ob er zu allem anderen Übel nun auch noch Gedanken spüren konnte: Ihre Worte hatten seinen ganzen Körper beben lassen, eine Vibration, die bis in seinen kleinen Zeh nachhallte. Hoffentlich fiel er nicht doch noch auseinander. Er musste sich zusammenreißen.

„Der Spiegel. “

„Aber eben in der Besprechung hast du doch …“

„Pandora.“

„Willst du sagen, sie hat dich gezwungen, deinen Bericht zu fälschen?“

„Nahegelegt. Sagte, ich könnte nichts beweisen. Recht hat sie.“

„Was denn beweisen?“

Franz Kalo atmete langsam ein und langsam wieder aus, um sich zu fassen. Im Spiegel hatte ihm das zwar nicht geholfen, aber da war er immerhin auf ein Schwarzes Loch zugefallen. Jetzt lag er nur auf einem Sofa und die größte Gefahr für ihn bestand darin, durch die Polster zu rutschen. Vorsichtig öffnete er erst ein Auge, dann das zweite. Über sich sah er Hilda Geirönuls Kopf, ihre Augen geweitet, und fast meinte Franz Kalo, darin kleine Supernoven blitzen zu sehen.

„Der Spiegel ist ein Portal.“

„Das wussten wir doch schon.“

„Aber nicht, wohin es führt. Ein Schwarzes Loch.“

„Der Spiegel ist ein Schwarzes Loch?“

„Nicht der Spiegel, dahinter. Ich konnte die Entfernung nicht abschätzen, ich bin zu schnell hineingefallen.“

Er verschwieg, was vorher geschehen war. Wie schildert man auch die Begegnung mit sich selbst am Ereignishorizont, das Gefühl sich – beziehungsweise einem zeit- und räumlich leicht verschobenen Selbst – in den Rücken zu fallen oder eigentlich: Rücken an Bauch, Zwerchfell an Zwerchfell, Fuß an Fuß und Hand an Hand und Kopf an Kopf miteinander zu verschmelzen, eins mit sich selbst zu werden ohne vorher gewusst zu haben, wie uneins man mit sich sein konnte. Und dann erst die Gedanken! Sprunghaft waren sie schon immer gewesen, hatten asymmetrisch in seinem Kopf gestanden, anomalisch selbst für einen wie ihn; doch in der autophagischen Synthese seines cerebralen Cortex und aller darin entstandenen Gedanken – dem Aufeinanderprallen nur subtil sich unterscheidender Echokammern, einem Urknall der Verkenntnis gewissermaßen – war Franz Kalo erst bewusst geworden, wie wenig Selbst-Bewusstsein er bislang besessen hatte.

„Aber im Versuchsprotokoll steht, du hättest den Spiegel nicht einmal berührt.“

„Ja. Das steht da.“

„Wie soll das zusammengehen? Nicht, dass ich dich loswerden wollte, aber wenn du wirklich in ein Schwarzes Loch geraten wärst, könntest du mir doch jetzt nicht die Bürocouch vollheulen.“

„Ich sag ja, keine Beweise. Was auch immer mich zurückgebracht hat, hat auch die Zeit zurückgedreht. Ich bin durch das Glas getreten und zurückgekehrt, um mich daran zu hindern, durch das Glas zu treten. Wenn ich aber nicht durch das Glas trete, kann ich doch nicht wissen, dass ich nicht durch das Glas treten sollte.“ Er seufzte. „Ich bin eine Realitätsvariable geworden, ein Paradoxon. Mir ist etwas geschehen, das mir nicht geschehen ist. Aber ich erinnere mich, Hilda, ich kann es immer noch fühlen, wie der Jet mich zerfetzt und Atom für Atom ins Multiversum schießt.“

„Tut es weh?“

„Manchmal. Manchmal fühlt es sich auch nur an, als würden Teile von mir verglasen oder stückweise abbrechen. Und manchmal habe ich einfach nur Angst, gar nicht da zu sein.“

Hilda Geirönul nahm Franz Kalos Hand in ihre.

„Du bist da. Hier, meine ich.“ Sie lächelte ihn an. „Ich sehe dich. Ich spüre dich. Ich glaube dir.“

„Was kann ich nur tun?“

„Nichts.“ Das Gesicht von Ewa Pandora schob sich neben Hilda Geirönul in sein Blickfeld. „Wir legen den Fall zu den Akten.“

[Fortsetzung von Nichts. Alles.]

Über Menschen

Textualitäten
Mai 25, 2021

Vor etwas über einem Jahr lese ich auf reddit von einem Iraker, der nach Kanada flüchten will, wo er in der Ölindustrie arbeiten und dank der LSBTI*-freundlichen Gesetzgebung seinen Partner nachholen könnte. Im Irak wird Homosexualität offiziell "nur" mit Gefängnis bestraft, Morde an Schwulen werden aber nicht geahndet. Alles, was mit Homosexualität assoziiert werden kann, zum Beispiel eine HIV-Infektion, gleicht einem Todesurteil. Der Partner des Mannes ist vor Kurzem positiv auf HIV getestet worden; die Familie hat davon erfahren und ihn beinahe gelyncht. Nun sind beide auf der Flucht im eigenen Land, stets in Angst vor Entdeckung und in Sorge vor dem Ausbruch von AIDS. Mit Medikamenten aus dem Ausland halten sie die Infektion in Schach, aber die Beschaffung ist teuer und schwierig und erhöht ihr Risiko aufzufliegen.

Bei allem Mitgefühl, das ich empfinde, muss ich an das Gilgamesch-Epos denken; immerhin stammen die Männer aus dem Irak, dessen Gebiet auch das einstige Sumer umfasst, dessen berühmtester König Gilgamesch war. Im Epos sucht Gilgamesch nach dem Tod seines Gefährten Enkidu ein Mittel gegen die eigene Sterblichkeit und findet auf einer Insel inmitten der Wasser des Todes seinen Urahn, der ihm nicht nur die Geschichte der Großen Flut erzählt, sondern auch von der Pflanze der ewigen Jugend. Gilgamesch erringt die Pflanze, verliert sie jedoch an eine Schlange. Derart gescheitert kann er nur darauf hoffen, dass wenigstens sein Name ihn überleben wird.

Die Überlagerung individuellen Leids mit der mythischen Tragödie abstrahiert jene, deren Leben tatsächlich in Gefahr ist und nicht nur eine Geschichte; aber was soll ich tun? Ich kann nur Mitleid empfinden und tröstende Worte spenden. Ansonsten bleiben mir ohnehin nur Annahmen: Gibt es diesen Mann wirklich? Stimmt seine Geschichte? Oder ist das - auf reddit nicht abwegig - nicht nur eine mitleidheischende Erfindung? Ich blicke durch ein kleines Fenster in ein großes Leben, dessen Details ich nicht erkenne und nur mit Annahmen füllen kann.

Aber eigentlich ist eh gerade Corona, die Welt ist stehengeblieben, sonst hätte ich gar keine Zeit für reddit; und weil es da jede Menge Geschichten gibt, habe ich den Irak rasch wieder vergessen. Alles geht unter in der Flut der Schicksale. Andere Männer aus anderen homophoben Ländern, vor allem aber Pandemiegeschichten, in denen Existenzen oder ganze Leben von einer Krankheit bedroht werden, die anders als HIV/AIDS alle Menschen trifft und nicht scheinbar nur jene, die Randgruppen angehören oder sich in Subkulturen bewegen.

Corona raubt der ganzen Welt den Atem, ist eine laute Pandemie, während HIV/AIDS immer noch eine stille Seuche ist. Auch wenn mittlerweile Medikamente entwickelt wurden, die ein symptomfreies Leben ermöglichen und auch die Weitergabe des Virus verhindern. "Mittlerweile" heißt: über 30 Jahre, nachdem HIV/AIDS als Pandemie eingestuft wurde, hat die EU 2016 PrEP zugelassen. Heißt: Ein Ende dieser Pandemie ist noch nicht in Sicht; über HIV wird immer noch zu wenig gesprochen, Scham und/oder Unwissenheit führen dazu, dass sich täglich weltweit immer noch zehn Menschen neu mit HIV anstecken.
Das soll nicht heißen, dass mit den Corona-Infizierten genauso ignorant umgegangen werden soll wie mit den HIV-Infizierten. Es ist leichter, dem HI-Virus zu entgehen, es überträgt sich nicht über Aerosole, sondern über Körperflüssigkeiten. Corona tötet rascher, nach den sechs Wochen, die bei COVID zwischen Infektion und Tod stehen können, bemerkt ein HIV-Patient gerade mal die ersten Symptome. Corona priorisiert zu behandeln ist richtig und wichtig. Hätte die Welt wie bei HIV weggeschaut … ich will es mir gar nicht vorstellen.

Corona ist omnipräsent, ich hänge am Fernseher: neue Zahlen, neue Negativrekorde, neue Eskalationen. Ich lauere auf die nächsten Einschläge, die doch nie näher kommen. Ein entfernter Cousin ist an COVID gestorben, da ist die Pandemie kaum mehr als ein Gerücht, danach sind die Zahlen einfach nur Zahlen, keine Schicksale mehr, nur anonyme Infizierte, namenlose Tote. Der Welt da draußen geht die Luft aus und ich schaue durchs geschlossene Fenster in leere Straßen und lenke mich mit reddit, YouTube und Podcasts von meiner Langeweile ab.

Im September brennt Moria, in Deutschland unterschreiten die Corona-Neuinfektionen noch die 2000er-Grenze, und mein Mann und ich fahren für ein Wochenende an die Mosel. Wir trinken Wein, gehen essen, tragen unsere selbstgenähten Masken und fühlen uns sicher. Im März werden zwei afghanische Jugendliche für den Brand in Moria zu fünf Jahren Haft verurteilt. Lese ich heute, zwei Monate später. Gestern waren wir bei Freunden zum Grillen, bei Nieselregen saßen wir unter dem Vordach, reden darüber, was wir im letzten Jahr, also seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, alles nicht erlebt haben. In der Innenstadt sind die Außentische der Lokale voll besetzt. Pandemie? Welche Pandemie? Moria? Irgendwas mit Feuer. Ach ja, klar: In Moria tötete Gandalf der Graue den Balrog und kehrte als Gandalf der Weiße nach Mittelerde zurück.

Vor knapp vier Wochen stolpere ich auf reddit mal wieder über den Iraker. Sein Partner und er verstecken sich immer noch, sie haben immer noch Angst. Die Medikamente sind immer noch teuer, die Pläne für eine Flucht nach Kanada liegen auf Eis, wegen Corona schotten sich alle Länder ab. Der Iraker und sein Partner haben eine Corona-Infektion mit zweiwöchigem starken Fieber überlebt. Er schreibt, dass er in The Last of Us 2 zwei 60jährige Männer gefunden hat, die zusammen in der Wüste leben; einer sagt: "Früher hatte ich alles und brauchte nichts davon; jetzt brauche ich nur, was ich habe mit diesem Mann." Und der Iraker schreibt, dass er da habe weinen müssen vor Rührung, denn dieser Satz treffe auch auf ihn und seinen Partner zu: sie haben nur einander und doch ist das alles, was wirklich zählt.

Und dann kommt der Wettbewerb, es geht um geöffnete Fenster, an denen vorbeigegangen wird, und ich denke an Schicksale, an denen wir vorübergehen, Geschichten, die wir anschauen und abhaken, an Menschen, die uns begegnen und die wir vergessen. An den Iraker denke ich da gar nicht, sondern will nur einen anfangs gutwilligen Übersetzer in einer Erstaufnahmestation beschreiben, der vor lauter erzähltem Leben irgendwann ganz stumpf wird und werden muss, soll ihn das viele fremde Leid nicht auffressen. Mit diesem Gedanken schlafe ich ein, doch als ich mich morgens an den Schreibtisch setze, wartet da schon eine andere Geschichte und lässt sich mehr oder weniger so aufschreiben, wie sie jetzt da steht.

Erst später, kurz vor dem Einsendeschluss, geht mir auf, was ich getan habe: Mich parasitär an fremden Schicksalen und fremdem Leid bedient nämlich, und das dann auch noch in der Form pauschalisierter Annahme, kenne ich doch keinen einzigen Menschen mit Fluchthintergrund persönlich und selbst die Zustände von Moria nur aus meinem Fenster zur Welt, dem Fernseher. Das Ganze garniert mit dem Kernmythos einer untergegangenen, mir komplett fernen Kultur, die ich faszinierend - oder schlimmer: "exotisch" - finde, über die ich viel gelesen habe, die ich letztlich aber nur aus zweiter, dritter oder zwölfter Hand kenne. Während ich mich gleichzeitig darüber aufrege, dass die ARD-Produktion All you need  das Leben schwuler Männer in Berlin nicht nur oberflächlich und klischeehaft beleuchtet, sondern auch noch in den Hauptrollen nur mit heterosexuellen Männern besetzt.

Für einen neuen Text ist es da schon zu spät, außerdem mag ich die Geschichte trotz allem. Ich habe meine Figuren liebgewonnen, meine Remixe von Realitäten. Ich habe ihnen meine Vorstellung von Wirklichkeit eingeimpft, sprechende Namen gesucht: Moussa und Harun, die arabischen Varianten von Moses und Aaron; Zaher, den Helfer; İlkin, dessen Name "Erster" bedeutet, weil er sich selbst allem und allen voranstellt. Das Feuer  brannte sich in der xten Bearbeitung plötzlich in den Text. Keine Ahnung, was mit Moussa dabei passiert ist. Zaher sucht ihn kurz, wird ihn wohl mit der Zeit vergessen. Den einen Moment, wirklich mit Moussa Kontakt aufzunehmen, hat er verpasst, ihn vielleicht aktiv verstreichen lassen. Er stellt sich vor, wie es wäre, Moussa eine tröstende Hand hinzustrecken. Doch dann geht Moussa lieber zurück in das Zelt, wo ihn Gewalt erwartet, als weiter neben Zaher auf einem Stein zu sitzen, wo es noch nicht mal Trost gibt. Zu spät erst wird Zaher denken, alles wäre besser gewesen als nichts.

Mit diesem Gedanken rechtfertige ich auch meinen Text und wohl auch, wenn Heterosexuelle Nicht-Heterosexuelle darstellen: Es ist besser als nichts.
1993 hat Tom Hanks' Darstellung eines AIDS-Kranken in Philadelphia die Themen Homosexualität, Homophobie und HIV einem breiteren Publikum nähergebracht. Hätte die Rolle nur mit einem schwulen Schauspieler besetzt werden dürfen, wäre der Film wahrscheinlich überhaupt nicht gedreht worden oder hätte niemals die Reichweite bekommen, die er dank Tom Hanks erst erreicht hat.
Und ohne mich mit Hanks vergleichen zu wollen oder meinen Text mit diesem Film: Ich glaube, es ist besser, einen fehlerhaften Text aus angenommener Perspektive zu schreiben und so vielleicht wenigstens das Fenster zu einer Diskussion zu öffnen, als ein Thema komplett zu ignorieren, das uns sonst nur ins Bewusstsein rückt, wenn Lager brennen. Es wird immer besser gewesen sein als nichts.

Kurz vor dem Absenden streiche ich noch das "und" aus dem Titel und fühle mich superschlau, denn in dieser Geschichte geht es um Menschen und um das Göttliche und das Tierische in uns und wie das Spannungsfeld dazwischen uns erst zu Menschen macht; und es geht (überspitzt dargestellt) ein bisschen darum, wie die westlichen Menschen die geflüchteten Menschen wie Tiere in Lager sperren und wie Götter über Schicksale richten. Dabei sind wir nicht Götter oder Tiere, wir sind Göttertiere: Menschen. Wir alle sind nur Menschen.

Auf der anderen Seite des Ganges | Remix

Textualitäten
September 21, 2018

Eine Zugfahrt. Draußen die Welt in flirrender Hitze und drinnen ebenso, als gäbe es nichts Trennendes dazwischen. Die Fahrgäste machen sich in ihren Sitzen klein, um einander nicht zu berühren. Mit unseren Blicken aber, die von Mensch zu Mensch springen, betasten wir uns doch. Jene zumindest, die nicht digital versunken sind.

Einer jener, die in ihr Smartphone und nicht aus dem Fenster blicken, ist der junge Mann auf der anderen Seite des Ganges. Wischt über den Bildschirm, tippt auf das Glas, verschlingt, was an Futter sich ihm bietet. Einer jener, denke ich, die nachmittags von der Stadt ausgespuckt, am nächsten Morgen aber wieder geschluckt werden. Tag für Tag, Sommer für Sommer, stets unverdaut.

Eine jener, die mit mir beobachten – die Welt draußen, die Menschen drinnen -, ist die junge Frau mir gegenüber. Wie ich ist sie Reisende, Wandernde, Wundernde. Vermute ich, weil ich nicht den Mut oder den Mund aufbringe, sie zu fragen. Als ob es so schwer wäre, ein Gespräch zu beginnen. Da sind wir uns so nah, und doch so fern, weil mir kein Thema greifbar scheint.

Dann steckt der junge Mann sich die Hand in den Mund.

Zuerst ist es nur der kleine Finger, dessen äußerstes Glied zwischen den Zähnen liegt, dann fährt die Fingerspitze ganz in den Raum zwischen Zähnen und Wangen, wandert über das Zahnfleisch erst der rechten, dann der linken Gesichtshälfte. Dem kleinen Finger folgt der Ringfinger, der über die Innenseite der Zähne streicht. Der Mittelfinger schiebt sich über die ganze Länge und Breite der Zunge, der Zeigefinger tastet den Gaumen ab. Als solle auch noch die Beschaffenheit der Speiseröhre untersucht werden, steckt schließlich die ganze Hand bis über das Daumengrundgelenk im Mund des jungen Mannes, der – wie von seiner Hand getrennt – gänzlich ungerührt erscheint.

Die Iatmul am mittleren Sepik glauben, ein Krokodil habe alles Leben in seinem Rachen erschaffen. Im Himmel erkennen die Iatmul seinen Oberkiefer, seinem Unterkiefer entstammen Berge und Erde. Ein Junge – glauben die Iatmul – werde von einem Krokodil gefressen und als Mann wieder hervorgewürgt. Als Zeichen der Reife schneiden sie sich rituelle Wunden in den Körper, Narben wie von Zähnen.

Die Miene der jungen Frau mir gegenüber ist verzerrt von Entsetzen, ich erkenne das Weiße rund um ihre Pupillen, hinter ihren Lippen sehe ich Zähne und Zunge. Ihr Atem geht flach und schnell, ein Keuchen weicht Schlucken und Würgen. Dann reißt sie sich los, wendet sich ab, presst das Gesicht ans Glas, die Augen hält sie geschlossen.

Ich hefte ich den Blick auf den Boden. Ich fühle den Schweiß auf meiner Haut. Ich atme Hitze ein. Ich atme Hitze aus. Ich denke nicht nach über einen Menschen, der sich so sehr selbst berührt, dass andere Menschen davon würgen müssen. Ich denke an die Narben, die wir auf unserer Haut und unerreichbar in unserer Seele tragen. Dann – irgendwann – hält der Zug.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
mit Erkenntnisgewinn.
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