12 | Terno | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

12 | Terno

Yelda
November 9, 2010

Wir rannten, und während wir rannten, überschlugen sich die Gedanken in meinem Kopf. Ich hatte meine Kraft mit der Mandus gemessen – und gewonnen! Ich hatte Remdes Leben gefährdet – und ihn beinahe getötet. Der Fremde kannte meinen Namen – und schien nicht daran zu zweifeln, dass ich ihn kannte. Und wirklich kam er mir vage bekannt vor, wie jemand, den ich gekannt hatte, und der sich in der Zeit, die wir uns nicht gesehen hatten, sehr stark verändert hatte. Das wiederum erschien mir seltsam, denn die einzigen Menschen, die ich jemals kennengelernt hatte, lebten in diesem Dorf. Noch zumindest, denn wenn der Fremde recht hatte, dann würde bald ein Schatten über das Dorf hereinbrechen und alles vernichten. Ich spürte, dass er recht damit hatte, und so hatte ich nicht lange gezögert, mit dem Fremden zu fliehen. Remde würde überleben, das zählte jetzt, da er bei meiner Auseinandersetzung mit Mandu verletzt worden war. Natürlich wäre ich lieber geblieben oder hätte ihn mit mir genommen, doch ich spürte, dass das nicht möglich war. Nicht nur, weil wir mit dem verletzten Remde nicht schnell genug gewesen wären, sondern auch, weil Remde nicht zu mir gehörte. Und nicht zu dem Fremden, der mir vertraut schien wie ein Teil meiner Selbst.

Die Nacht näherte sich der Morgendämmerung, als wir anhielten. Schon vor einiger Zeit hatte ich die Orientierung verloren, wichtig war, dass wir das Dorf so weit wie möglich hinter uns ließen. Ich vertraute der Führung des Fremden so wie ich Remdes Führung vertraut hatte. Beim Gedanken an ihn ergriff mich für einen Moment Bedauern und Scham, dass ich ihn verletzt hatte, doch dann sagte ich mir, dass die Schuld bei Mandu lag, die mich hätte freigeben können, die sich und Remde hätte unversehrt lassen können.
Der Fremde hatte sich auf einen umgestürzten Baum gesetzt und beobachtete mich.
„Du kennst meinen Namen“, sagte ich. „Wer bist du?“
„Erkennst du mich nicht?“
„Nein. Aber ich glaube, ich sollte es. Ich weiß, dass ich dir näher war, als ich es Remde oder Mandu jemals hätte sein können.“
„Mandu war ein machtvolles Wesen.“
„Ist sie tot?“
„Besiegt, aber nicht tot. Du hast gezeigt, dass du stärker sein kannst als sie, doch die alte Mandu ist zäh.“
„Kanntest du sie?“
„Ja, vor langer Zeit sind wir uns schon einmal begegnet. Aber das ist eine Geschichte, die ein andermal erzählt werden soll. Jetzt müssen wir über dich sprechen.“
„Und über dich. Wie ist dein Name? Ich kann Dich nicht grüner Fremder nennen.“
„Warum nicht? Ich hatte schon absonderlichere Namen.“ Ich konnte sein Lächeln spüren. „Nenn mich Terno.“
„Ist dies dein wahrer Name?“
„So sehr wie der deine Yelda ist. Namen sind nur Laute, die nichts mit den Wesen zu tun haben, die sie tragen. Ein Name, eine Wolke, ein Sonnenstrahl. Das Sein ist mehr als ein Name.“
„Du bist kein Mensch.“
„So wie du kein Mensch bist.“
„Ich bin sterblich, weil Mandu mich essen und trinken ließ.“
„Dein Körper ist darum sterblich. Dein Wesen allerdings ist es nicht. Dein Wesen steht immer noch außerhalb der Regeln dieser Welt.“
„So wie deines?“
„Mein Körper ist nur eine Hülle, die ich wähle, wenn ich in dieser Welt erscheinen muss. Mein Wesen aber bleibt außerhalb und unterliegt nicht den Regeln der belebten Welt.“
„Bin ich wie du?“
„Nein.“ Etwas hinter mir schien seine Aufmerksamkeit erregt zu haben. Ich drehte mich um, doch sah ich nichts. Terno stand auf. „Lass uns weitergehen. Wir können auch unterwegs sprechen.“
„Was hast du gesehen?“ fragte ich, als ich ihm folgte.
„Ich habe etwas gespürt, das uns folgt.“
„Ist es der Schatten? Mandu sprach von ihm, ich wurde von ihm in einer Vision verschlungen.“ Als er nicht gleich antwortete, fügte ich hinzu: „Du hast ihn am See erwähnt.“
„Was uns folgt, ist nicht der Schatten. Du hast recht, ich habe ihn erwähnt, auch wenn ich ihn nicht fürchte. Doch die Leben dieser Menschen bedrohte er, und darum mussten wir fliehen.“
„Warum folgt er mir? Was habe ich ihm getan?“
„Nicht ihm hast du etwas getan. Es ist die Welt, die du verletzt, wenn du deine Kraft einsetzt.“
„Ich verletze die Welt?“
„Du brichst ihre Regeln, du veränderst die Wirklichkeit. Wenn du einen Stein in eine Pfütze wirfst, veränderst du die Pfütze, Wellen breiten sich auf, Schlamm wird aufgewühlt. Keine Handlung bleibt ohne Folgen.“
„Ich habe eine Hummel geheilt.“
„Ich habe es gespürt. Die Hummel ist nicht mehr. Und nichts mehr, was um sie war.“
„Der entlebte Ort?“
„Ein Teil der Welt, der unter den Schatten gefallen ist.“
„Meinetwegen. Weil ich meine Kraft eingesetzt habe?“
„Es ist etwas geschehen, das nicht hätte geschehen dürfen. Die Verbindung deines Wesens mit der Welt war nicht, wie sie hätte sein sollen.“
„Und darum verlebt alles, was ich mit meiner Kraft berühre?“
„Die Wirklichkeit sucht sich selbst zu heilen, wenn du sie verändert hast. Sie verliert dabei allerdings sich selbst.“
„Aber Mandu hat den Schatten ferngehalten, als ich das erste Mal meine Kraft eingesetzt habe. Und du sagtest, ich könne das Dorf retten, wenn ich es verließe. Hast du mich angelogen?“
„Du bist der Fokus, die Wirklichkeit braucht dich als Fixpunkt, doch wenn du dich außerhalb der Welt befindest, verliert die Wirklichkeit das Ziel.“
„Aber dies ist der gleiche Wald, durch den ich schon einmal ging. Er ist nicht außerhalb der Welt.“
„Der Wald ist Teil der Welt. So lange du aber bei mir bist, bist du nicht Teil der Welt. Unsere Körper sind es, doch unser Wesen befindet sich nicht in dieser Welt.“
„Und warum gehen wir dann noch weiter? Warum hätten wir dann nicht im Dorf bleiben können?“
„Weil der Schatten nicht das einzige ist, das uns folgt.“
„Uns?“
„Weitere Wesen, die sind wie ich, suchen auch nach dir. Es ist wichtiger als alles andere, dass sie dich nicht finden.“
„Warum?“
„Sie wollen deine Vernichtung.“
„Aber du hast gesagt, nur mein Körper sei sterblich. Warum sollte ich sie also fürchten?“
„Weil ihnen dein Tod nicht genug ist. Sie wollen deine gesamte Existenz, dein Wesen auslöschen.“
„Wieso? Wegen des Schattens?“
„Ich kann es nicht sagen. Besser ist es, ihnen gar nicht erst die Möglichkeit zu geben.“
„Müssen wir also immer weiter fliehen?“
„Wir haben bald einen Ort erreicht, an dem sie uns nicht finden können, dort können wir anhalten und unsere weiteren Schritte planen.“
„Das klingt gut. Ich glaube, mein Körper möchte schlafen.“
„Du hast recht. Ich habe vergessen, dass ein sterblicher Körper sich erschöpft. Es ist nicht mehr weit.“
„Gut. Lass uns trotzdem schneller gehen.“

Ternos Ort sah kaum anders aus als der restliche Wald, der durch die mittlerweile goldfarbene Dämmerung wie mit Honig überzogen wirkte. Knorrige Bäume, deren verdrehte Äste bis fast an den Boden heranreichten, hatten uns schon die letzte Zeit über begleitet, als wir über sattfeuchten, schweren Boden liefen. Schließlich wurde der Boden weicher, nasser und meine Füße sanken bei jedem Schritt ein wenig ein. Ternos Schritte dagegen hinterließen keine Spur, denn er ging über den Matsch ebenso wie vorher über die trockene Erde. Wir erreichten einen mannshoch aufregenden Felsen, der groß genug war, um zehn oder mehr Menschen darauf bequem liegen zu lassen. Ich wusste sofort, dass dies der Ort war, von dem Terno gesprochen hatte. Denn obwohl der Felsen aussah, als gehörte er zum Wald wie Boden und Bäume, umlief ihn alle Kraft, als sei er nicht in der wirklichen Welt vorhanden. Hätte ich ihn nicht direkt vor mir gesehen, hätte ich gedacht, dass er ähnlich Mandus Baum war, doch dieser war nicht sichtbar gewesen, solange man den schützenden Schleier nicht lüftete.

„Ich helfe dir hinauf“, sagte Terno, der schon ein Stück weit hinaufgeklettert war und mir seine Hand hinhielt. Ich ergriff sie, und er zog mich hoch. In dem Moment, als ich den Felsen berührte, durchzog ein nicht unangenehmes Prickeln meinen Körper, das mich für einen Moment an die Schmerzen denken ließ, die ich bei meinem ersten Erwachen auf Mandus Insel gespürt hatte, doch dann war es ebenso schnell und spurlos vorbeigegangen wie es gekommen war.
„Hier sind wir für einige Zeit sicher.“ Terno sah sich um. „Schlaf, wenn du möchtest.“
Ich wollte. Ich ließ mich in meine Erschöpfung fallen wie einen Stein ins Wasser.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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