15 | Von der Quelle | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

15 | Von der Quelle

Yelda
November 11, 2010
Die nächsten Tage verliefen in beruhigender Eintönigkeit. Terno leitete uns von einem sicheren Ort zum nächsten. Nachdem wir den Felsen verlassen hatten, rasteten wir unter den ausladenden Ästen eines himmelhohen Baums, auf einer erhöht liegenden Lichtung und an einer kleinen Quelle. Von dort entsprang ein Bach, dessen schlängelndem Fluss eine sanft abfallende Ebene hinab wir folgten.

„Für einige Zeit können wir dem Fluss folgen“, sagte Terno. „Auf geraume Länge ist er selbst ein sicherer Ort, so dass wir keine Sorge tragen brauchen, entdeckt zu werden.“
Direkt am Wasser zu gehen, löste auch das Trinkproblem. Auf dem bisherigen Weg hatte mir Terno zwar essbare Früchte, Beeren und Samen zeigen können, doch Wasser fanden wir nur sporadisch. Das Wasser des Flusses war kalt und floss rasch, doch es stillte meinen Durst, der jetzt, da ich langsam lernte, mich vom Kraftfluss abzuschotten, jeden Tag deutlicher für mich spürbar war.
Während wir liefen, zeigte mir Terno verschiedene Pflanzen und Tiere und nannte mir die Namen, die die Menschen ihnen gegeben hatten. So erfuhr ich nicht nur die Namen der Bäume, die ich als meine Familie gesehen hatte, sondern auch, dass sie nicht einzigartig waren, sondern dass es in dieser Welt noch unzählige Buchen, Cathanien, Birken und Eichen standen.

Noch immer gelangte ich nicht mit meinem Geist an den Ursprung der Kraft, und auch wenn Terno mir versicherte, ich würde Fortschritte machen, fühlte ich mich doch kein Stück näher als auf dem Felsen im Moor. Terno sagte, ich könne das Erwachen der menschlichen Bedürfnisse Hunger und Durst als Gradmesser für meinen Erfolg sehen, doch so recht überzeugend fand ich das nicht.
Ich träumte nicht in diesen Tagen. Terno sah auch das als gutes Zeichen, wie er auch gut fand, dass ich am Ende jedes Tages, wenn wir über eine weite Strecke gelaufen waren, noch bis zur Erschöpfung versuchte, meinen Geist in die Landschaft um mich herum versinken zu lassen. Ich wusste, dass er mich beobachtete, dass er meine Verbindung zum Ursprung der Kraft überprüfte, und was er sah, schien ihn darin zu bestätigen, dass ich besser wurde. Ich wurde vor allem aber immer erschöpfter, immer schwächer. Je weiter ich mich von der Kraft entfernte, umso mehr kehrten auch die Schmerzen meines Körpers zurück. Wenn ich morgens erwachte, fühlten sich meine Glieder steif und taub an, und ich musste mich recken und strecken, bevor wir aufbrechen konnten. Vor allem aber, und das rief in mir einen nie gekannten Zorn hervor, musste ich Terno, je weiter wir kamen, immer öfter um eine Pause bitten, da mich Hunger und Durst manchmal so sehr plagten, dass ich mich kaum noch darauf konzentrieren konnte, weiterzugehen. Immer öfter saßen wir also am Fluss, der mittlerweile sich mittlerweile so tief und breit in die Landschaft gegraben hatte, dass eine Überquerung unmöglich schien.
In einer dieser Pausen fragte ich Terno, ob wir noch verfolgt würden.
„Sie haben nicht aufgegeben, wenn Du das meinst.“
„Aber sind sie uns noch nahe?“
„Nein, aber das spielt auch keine Rolle.“
Ich sah ihn fragend an, sagte aber nichts.
„Falls die Drei wüssten, wo wir sind, könnten sie selbst große Distanzen schneller zurücklegen als Du. Entfernungen sind für meine Art nicht, was sie für Menschen oder Dich sind. Erinnere Dich: Wir stammen von jenem anderen Ort. Wir können jederzeit an einem anderen Ort in die Wirklichkeit treten.“
„Könnte ich das auch, wenn ich nicht an diesen Körper gebunden wäre?“
„Nein. Du bist Teil dieser Welt, ob Dein Leib sterblich ist oder nicht.“
„Das heißt, ich bin immer auf die Wege und Weisen der Menschen angewiesen? Ich kann nicht Kraft meiner Gedanken größere Strecken zurücklegen, ohne so erschöpft zu sein, wie ich es bin?“
„Das heißt es. Aber ich beneide Dich auch darum. Wir wissen nicht, wie es sich anfühlt zu träumen, zu schlafen, müde oder hungrig zu sein.“
„Wärst Du gerne sterblich?“
„Die Frage habe ich mir noch nie gestellt, denn es gäbe keine sinnvolle Antwort darauf. Es wird mir nie möglich sein. Ich werde ewig ein Teil der Kraft sein, ich werde ewig bestehen.“
„Es sei denn, die Kraft erlischt.“
„Das wird nie geschehen.“
„Warum nicht?“
„Es wäre das Ende der Welt.“

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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