17 | Aufbruch | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

17 | Aufbruch

Yelda
November 14, 2010
Ich überlegte, was ich tun sollte. Ich konnte hierbleiben und hoffen, dass Terno irgendwann zurückkommen würde. Er würde mich nur hier finden und nur hier erwarten. Sobald ich den Fluss verließ, würde er mich nicht mehr finden können, so lange ich meine Kraft verbarg. Und das würde ich tun, denn ich hatte Angst vor dem, was passieren würde, wenn ich mich nicht konzentrierte. Ich hatte den dunklen Ort, an den meine Kraft gebunden war, schon einmal gesehen, war in ihm erwacht und wollte ihm nie wieder begegnen. Das Dunkel damals und die Lebensferne, die Ferne von allem hatte mir so sehr Angst gemacht, schon bevor ich gewusst hatte, dass ich sie selbst über mich gebracht hatte.

Andererseits jedoch konnte ich nicht hierbleiben. Ich ahnte, dass ich auf mich allein gestellt meinen Körper unterversorgen würde, und er sich dann wieder an der alten Quelle seiner Stärke bedienen würde. Die Drei lagen immer noch auf der Lauer und warteten genau darauf. Das durfte nicht geschehen. Ich musste jemanden finden, der mich lehren könnte, zu überleben und, viel wichtiger, meine Kraft endlich wirklich zu beherrschen. Ich musste einen jener Menschen suchen, die den Strömen von Kraft und Leben nachforschten, ich musste einen jener Menschen finden, die sich Terno zufolge Zauberer nannten.

Ich beschloss, am nächsten Morgen aufzubrechen und dem Lauf des Flusses zu folgen. Terno hatte einmal über die Menschen gesagt, dass sie gerne am Wasser lebten und sich doch gleichzeitig so sehr davor fürchteten, dass sie alles taten, um es nicht berühren zu müssen. Ich hatte Terno gefragt, woher er so viel über die Menschen wisse, und er hatte es mit reiner Neugier für alles Kleine begründet, doch ich bin heute mehr als damals davon überzeugt, dass er die Menschen um ihre Kleinheit beneidete, und dass alles, was er für mich vor und nach dem Fluss tat, dem Ziel folgte, ihn näher an die Menschen zu bringen, die er gleichzeitig verspottete und beneidete.
Ich schlief wenig in dieser Nacht, denn trotz Ternos Behauptung, das Strömen des Wassers würde den Strom der Kraft verwirbeln und mich so verbergen, selbst wenn er nicht anwesend wäre, misstraute ich meinen eigenen aufgewühlten Gedanken und meiner eigentlichen Sehnsucht, Terno wiederzufinden. Nicht so sehr, weil ich in Terno einen Führer und Erklärer gefunden hatte, sondern weil ich nicht alleine sein wollte, ohne zu wissen, wer ich war, warum ich in dieser Welt war und wohin ich gehen sollte, um wenigstens auf eine meiner Fragen eine Antwort zu erhalten. Um mich wachzuhalten, dachte ich an Remde, daran, dass die Drei ihn in ihrer Gewalt hatten, denn dass sie ihn getötet hatten wie die anderen Menschen seines Dorfs, wollte ich nicht glauben. Ich konnte nicht glauben, dass jener Mensch, der mir vom ersten Augenblick, da er mich gesehen hatte, nur Freundlichkeit entgegengebracht hatte und immer für mich dagewesen war, nun verschwunden sein könnte, dass seine Kraft in die Welt gehen würde wie der Staub, den der Wind aufwirbelt und verweht.
Ein Laut weckte mich, ein leises Flüstern über dem Wasser, dessen stetes Rauschen mich gegen meinen Willen doch noch in den Schlaf gelockt hatte. Stimmen, die gleichzeitig nah und fern waren, formten Worte, die laut genug waren, gehört, aber zu leise waren, um verstanden zu werden.
Ich widerstand der Versuchung, mich aus der Verzweiflung einer Verlassenen heraus zu erkennen zu geben. Ich schwieg, ich lauschte.
Mandu hatte mich gelehrt auf die Geräusche der Welt zu hören, auf die kleinen und großen Geräusche, auf das auf und ab des Lebens und alles andere, mich vor allem und die Gedanken, die Ängste, die Unsicherheit, das Wollen und Wünschen, das Hoffen und Bangen, einfach zurückzustellen, um zu hören, wie die Welt wirklich sprach, wie die Wirklichkeit klang und wie sie zu mir sprach. Jetzt nutzte ich diese Fähigkeit, deren eigentlichen Sinn ich damals nicht verstanden hatte und erst durch Ternos Erklärung wirklich zu schätzen wusste, um meine aufgewühlten Gedanken und die ebenso unruhigen Wellen des Wassers aus meiner Wahrnehmung auszublenden und auf das zu hören, was dahinter lag. Ich konzentrierte mich nur noch auf die Worte, die irgendwo im Dunkeln gesprochen wurden, denn ich wusste, sie würden mir eine Antwort auf zumindest eine Frage geben: wohin ich mich wenden konnte, um in die Gesellschaft von sprechenden, denkenden Wesen zu gelangen.

„Wie lange noch?“
„Vor drei Tagen waren es sechs Tage, vor zwei Tagen noch fünf und gestern vier. Wie viele werden es wohl jetzt noch sein, Hohlkopf?
„Fünf?“
„Bei den Himmeln! Drei! Drei Tage bis zur Stadt. Drei Tage noch, bis ich Dich und Deinen Nichtsnutz von einem Bruder endlich los bin. Was nur habe ich den Göttern getan, dass sie mich so bestrafen?“
„Mutter hat immer gesagt, die Götter sehen alles.“
„Ja, meine Mutter hat das selbe gesagt. Das hat sie nicht daran gehindert, sich hinter Fons Tempel mit einem der Priester zu paaren wie eine läufige Hündin. Bestraft haben sie die Götter jedenfalls bislang noch nicht dafür.“
„Mutter hat gesagt, die Götter bestrafen die, die böse waren. Warst Du böse?“
„Nicht mehr als Könige und Priester. Und trotzdem habe ich Euch zwei Nichtsnutze am Hals.“
„Wie lange noch?“
„Baneh! Er tut es schon wieder! Bring Du ihn zum Schweigen oder ich muss es tun! Baneh!“ Und ein drittes Mal, so laut, dass ich erschrak: „Baneh!“
„Was ist denn los?“ Die dritte Stimme war leise und schleppend. „Was ist denn los? Kann man nich mal nachts in Ruhe schlafen?“
„Nichtsnutz“, zischte der Laute. „Der Hohlkopf hier spielt wieder sein Spiel!“
„Er spielt nich, Antejar. Er ist nur nich schlau wie Du, Antejar. Er meint es ja nich böse.“ Und zu seinem Bruder: „Du meinst es nich böse, oder Bamar?“
„Mutter hat gesagt, sei nicht böse, Bamar. Und ich war niemals böse.“
Antejar schnaubte und Baneh sagte: „Siehst Du, Antejar, er hat es nich böse gemeint.“
„Schaff ihn mir trotzdem vom Hals. Es ist schwer genug ohne ihn, in der Dunkelheit auf Kurs zu bleiben.“
„Wir hätten ankern können, Antejar, glaub mir, wäre besser gewesen.“
„Mein Boot, meine Entscheidung. Je früher wir in Tharb sind, umso früher bin ich Euch los. Wenn ich dafür nachts fahren muss, ist es mir das wert. Kümmer Du Dich um den Holzkopf, und ich kümmere mich um unsere Fahrt.“
„Wird gemacht, Antejar, wird gemacht. Komm, Bamar, ich sing Dir ein Lied vor.“
„Ein Lied! Ja!“
„Singt, aber singt leise.“ Und nach einer kurzen Pause fügte Antejar hinzu: „Und wenn Ihr das Lied vom alten Euter noch einmal singt, schmeiße ich Euch über Bord, egal, wie viel Ihr mir noch zahlen wollt.“

Irgendwann während des Gesprächs waren die Sprecher sichtbar geworden. Unter dem Sternenhimmel, der noch weit von der Dämmerung entfernt schien, konnte ich den Fluss erkennen, der stetig nach Norden strömte, und darauf lag eine Art Floß mit hochgezogenen Rändern, an dessen einem Ende ein Mann saß und am anderen zwei. Der Gesang der beiden war nach dem Gespräch das Einzige, was ich noch hören konnte, bis die drei nicht mehr zu sehen und zu hören waren.
Ich machte mir auch nicht mehr die Mähe, sie weiter mit meinen Gedanken zu verfolgen. Drei Tage auf dem Fluss bis zu einer Stadt. Terno hatte mir gesagt, dass Städte ein Ort wie Remdes Dorf sei, dass dort aber viel mehr Menschen lebten. Ich hatte mir gedacht, dass Terno vorgehabt hatte, die Nähe von Menschen zu suchen, doch wie weit wir tatsächlich schon gekommen waren, hatte ich nicht gewusst.
Andererseits fragte ich mich jetzt aber auch, warum nicht auch Terno und ich ein solches Floß benutzt hatten, denn diese Art des Reisens schien viel weniger anstrengend und auch schneller zu sein. Während ich nur nachgedacht hatte, dass ich den drei Männern würde folgen müssen, waren sie schon fast wieder außer Sicht gelangt.
Ich beschloss, nicht bis zum Morgen zu warten, sondern sofort aufzubrechen, und am Fluss entlang so schnell wie möglich dem Boot zu folgen. Ich ahnte, dass es nicht einfach sein würde, in jener Stadt einen Zauberer zu finden, also würde ich diese drei Männer um Hilfe bitten müssen.
Umso wichtiger war es, dass ich sie nicht aus den Augen verlor. Ich brach auf.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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