Nichts. Alles. | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Nichts. Alles.

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Oktober 18, 2020

Auf der Innenseite des Spiegels starrte Franz Kalo reglos in die Finsternis. In seiner Laufbahn als Anomalist des Amts zur Holistischen Erforschung Unbekannter Länder und Erden hatte er ja schon viele Verstecke, Gefängnisse und Müllhalden hinter Spiegeln gefunden, aber noch nie …
Ein Schwarzes Loch?
Das HEULE-Team hatte bei den Tests keine Surrealitäten entdeckt. Allerdings verwendete die Analyse nur magische und unmagische Objekte belebter und unbelebter Art. Womöglich reagierte der Spiegel nur auf bewusste Subjekte. Um wenigstens irgendwas zu tun, prüfte er den Schutzschleier – natürlich intakt, sonst wäre Franz längst tot – und den Ariadnefaden, seine Verbindung zum Labor.
„Franz? Ich empfange dich nur dunkel. Siehst du was?“
„Ein Schwarzes Loch.“
„Bist du dir sicher?“
„Rotierendes Zeug um einen Haufen Nichts. Ich bin kein Experte, aber das entspricht meiner Vorstellung von einem Schwarzem Loch.“
„Könnte es eine Illusion sein?“
„Wollte ich eben checken.“
„Gut. Ich geb’s der Chefin weiter.“
Franz schloss die Augen, öffnete seinen Geist und griff mit seinem Bewusstsein aus. Viel Leere, dazwischen Materie, darunter das vertikale Ziehen eines wirbelnden Abgrunds. Überwältigende Grundstrahlung, die künstlich nicht zu erzeugen war. Außer man kompilierte die Energie des Schwarzen Lochs selbst in die zu erzeugende Illusion, was allerdings nur mit umgestülptem Gehirn funktionierte.
Mit einem Komprimierungsgedanken schuf Franz einen kleinen Nimbusköder, den der unterschwellige Sog sofort mit sich riss. Franz spürte dem Köder nach auf seinem weiten Bogen um das Gravitationszentrum herum und in einer rasant enger werdenden Spirale weiter hinab, bis …
„Wer? Ach, verdammt!“
Überrascht ließ Franz den Köder los.
„Sandra?“
„Ja? Die Chefin sagt, wir holen dich raus, wenn es keine Illusion ist.“
„Keine Illusion, aber da ist einer drin.“
„Mist.“
„Großer Mist. Ich werde ihn retten müssen.“
„Nix musst du!“
„Irgendwer muss aber doch.“
„Franz, das ist Selbstmord.“
„Wenn ich ihn nicht rette, ist es Mord. Womit kann ich wohl besser leben?“
„Warte, die Chefin …“
„Keine Zeit, der ist zu weit drin. Außerdem könnt Ihr mich mit dem Faden jederzeit zurückholen.“
„Franz, du bleibst, wo du bist. Das ist ein Befehl.“
Doch Franz hatte schon einen Schritt voran gemacht. Kaum hatte er den stabilisierenden Portalnimbus des Spiegels verlassen, wurde er mitgerissen. Die Gravitation zog stärker an ihm als gedacht, die Sorge, einen suizidalen Fehler begangen zu haben, verblasste aber angesichts des Panoramas, das sich vor ihm entfaltete: ein halbes Universum vollgestopft mit irisierenden Gasnebeln, zwinkernden Sternenhaufen und schimmernden Galaxien. Franz hatte natürlich schon oft von der Erde und auch von Planeten mit geringerer Lichtverschmutzung aus in den Himmel geblickt, aber selbst restlichtverstärkende Magie oder Astralprojektion hatten nie die gleiche Ehrfurcht in ihm entfachen können. Franz würde womöglich von einem Abgrund aus Lichtlosigkeit zermahlt werden, vorher allerdings hatte er das leuchtende Antlitz des Unendlichen geschaut.
Eine ferne Stimme schrie in seinen Geist: „Franz, du … Ariadnefaden hat gleich maximale … noch weiter … wir dich!“
Ein Ruck, den Franz seltsam zeitverzögert vom Knöchel bis in den Atlas in allen Gelenken spürte, und ein Ende des Sturzes.
„Franz rede mit mir du warst plötzlich weg der Faden ist komplett gespannt was ist passiert?!“
„Ich bin näher ran.“
„Wir holen dich raus. Sofort. Keinen Unfug mehr.“
„Aber der Typ stirbt!“
„Nix, der Ereignishorizont bremst ihn aus, wir können ihn mit ein bisschen Zeitmagie jederzeit einholen.“
„Oh.“
„Fühlst du dich jetzt so dumm, wie du dich fühlen solltest?“
„Ja.“
„Gut. Jetzt halt still, wir … oh. Was …“
Einen Augenblick, bevor die telepathische Berührung abbrach, spürte Franz die Splitterwellen des implodierenden Spiegels. Ein Unruck, eine Welle aus Sturzgefühl und ein Vorbeiwischen roten Leuchtens, das sich in die Länge und wieder zusammenzog, schlenkerte, schlaufte und sich schließlich an Franzens Wade, Oberschenkel und Hüfte aufwickelte. Der Ariadnefaden war gerissen, der Spiegel zerstört, Franz Kalo verloren.
Einige Sekunden lang fiel Franz ohne Gedanken dem Nichts entgegen.
Dann einige weitere Sekunden.
Hier ein zerborstener Planet, dessen Bruchstücke ebenfalls auf das Loch in der Realität zusteuerten.
Und weiter fiel Franz, ohne dass ein Gedanke zu ihm aufzuschließen vermocht hätte.
Hier eine Sonne, deren Plasma wie Dotter aus einem pochierten und angegabelten Ei auslief.
Franz fiel, fiel, fiel.
Verloren.
Fallend.
Fort.
Wäre er gefragt worden, hätte Franz behauptet: Die Panik hielt nur kurz.
Niemand da, der hätte fragen können.
Franz fiel.
Der Blick ins All ermüdete.
Das Starren auf den zerwürgten Sternenmüll wurde lästig.
Franz, fallend, schloss die Augen, fiel weiter.
Öffnete die Augen wieder, sah einen Mann fallen.
Oh.
Er selbst mochte verloren sein, doch es gab einen Menschen zu retten, und wer wäre besser dafür geeignet gewesen als Franz Kalo, Top-Anomalist und mehrfach ausgezeichneter HEULEr.
Mit arkanem Schub warf Franz sich voran, erhöhte seine Sturzfallfluggeschwindigkeit und überholte dabei Asteroiden, Kometen und mindestens zwei Dutzend Satelliten verschiedener Komplexität. Kurz streifte er auch den Gedanken, wer wohl zu welchem Zweck den Spiegel erschaffen haben könnte. Wozu diente ein Direktzugang zu einem Schwarzen Loch außer zur Entsorgung größerer Mengen Atommülls?
Durch absolute Stille und Kälte raste Franz auf langer Bogenbahn. Den Anderen hatte er aus den Augen verloren, also weitete er wieder seine Wahrnehmung und fühlte ihre Bugwelle vor ihm gegen das Aufwirbeln des Schwarzen Lochs branden. Ihm antwortete ein lebendiges Dunkel, eine Energie, seiner eigenen ähnlich und doch nicht gleich, archaisch, unüberwindlich, unbeherrschbar und doch ohne Bewusstsein, Willen oder Absicht. Was immer er da berührt hatte, fasste ihn an, zog rücksichtslos an seiner Essenz und ließ genauso schnell, wie es ihn durchstoben hatte, wieder von ihm ab. Im Zurückweichen zog die Entität Franz‘ Geist mit sich, so dass er für einen Moment den anderen magisch umhüllten Fremdkörper im Gewirbel erkennen konnte: näher am Ereignishorizont, der ihn töten oder nur für immer aufhalten würde.
Franz gab sich einen Schubs gegen die Trägheit der herumströmenden Masse und steuerte, als er freie Sicht hatte, quer zum Wirbel direkt ins Zentrum und auf den Anderen zu.
Voran, voran und schneller voran. Bald war Franz nur noch einige Sturzminuten von dem Fremden entfernt, der eben den Kopf zur Seite drehte. Auch Franz sah hinauf in den Himmel über dem Schwarzen Loch und war erneut ergriffen: So viele Sterne, und er, Franz Kalo, dagegen so klein.
Immerhin nicht allein. Bald könnte er Ehrfurcht und Sterbensangst mit jemandem teilen, und vielleicht könnten sie gemeinsam einen Ausweg aus diesem Desaster finden. Vielleicht wusste der Fremde mehr, verfügte über Antworten, verstand, was das überhaupt alles sollte.
Franz konnte ihn nun besser erkennen, seine Rückseite zumindest, fiel er doch mit dem Gesicht voran, den Blick wieder gerichtet auf die Unausweichlichkeit des Ereignishorizonts. Tatsächlich handelte es sich um einen Mann, ähnlich seiner eigenen Statur, mit einem Anzug, der wie Franzens maßgeschneidert wirkte, in einem ebenfalls abendgrauen Stoff mit morgensterniger Durchwirkung. Rettete er hier etwa einen Kollegen? Hatte die Chefin ihn deswegen …
Etwas berührte ihn. Ein kleines Ding komprimierter Magie.
„Wer?“ telepathierte er instinktiv, bevor er den Nimbusköder erkannte. „Ach, verdammt!“
Nein, so dumm konnte er nicht sein.
Ein Spiegel, verdammt noch mal.
Ein verdammter Spiegel!
Wie hatte er so dumm sein können?
Der Mann vor ihm in dem HEULEr-Anzug mit einer Spur von Rot, die sich wie eine gezwirnte Narbe vom rechten Knöchel über das Knie hinauf zur Hüfte zog, dieser Mann …
Franz Kalo verfolgte sich selbst.
„Fühlst du dich jetzt noch dümmer, als du dich fühlen solltest?“ telepathierte er nach vorne und erschrak, als er denselben Gedanken von hinter sich empfing. Seine eigene Stimme echote ihm über das schweigende Weltall hinweg zu. Natürlich befand er sich nicht nur vor, sondern auch hinter sich, als wäre er zwischen zwei Spiegel getreten, die einander und auch alles zwischen ihnen ungezählt und unzählbar wiederholten.
Dem Impuls, sich selbst an der Schulter zu berühren, folgte eine schwindelnde Synchronizität, die ihn an Berichte Zeitreisender erinnerte, die eine Begegnung mit sich selbst im Glücksfall mit einer mehrwöchigen Migräne bezahlt hatten. Berichte über glücklose Zeitreisende wurden in der Regel von anderen verfasst, und deren Ausführungen ließen Franz das Schlimmste fürchten für die Zweidimensionalität des Ereignishorizonts, die ihn in sich selbst pressen würde. Um der Aussicht auf seinen Hinterkopf und den anstehenden Schmerz zu entgehen, wandte er den Blick ab.
Natürlich.
Natürlich stand er auch neben sich. Und auch über und unter sich, auf allen Seiten und in alle Richtungen rund um das Allverschlingende, in gruseliger Gleichzeitigkeit den Kopf mal in die eine, mal die andere Richtung drehend, auf allen Gesichtern den gleichen Ausdruck von Entsetzen und Resignation.
Franz schloss die Augen und hielt die Luft an, um nicht länger seinen Atem im Nacken zu spüren.
Ihm fiel nichts ein.
Nicht zu atmen war auch keine Lösung.
Was hatte er der Anziehungskraft des Abgrundes entgegenzusetzen?
Zu atmen allein würde auch nicht ausreichen.
Gab es keinen Ausweg?
Gab es einen Ausweg?
Vielleicht nur kleine Atemzüge?
Musste er kapitulieren?
Wenn er so weitermachte, würde er hyperventilieren.
War das die gleiche Panik, die ihn schon vorher befallen hatte?
War das ein Echo der Panik, die ihn vorher befallen hatte?
Was hatte er da getan?
Oh.
Ja.
Nichts.
Es gab nichts zu tun.
Franz Kalo würde sterben.
Er holte tief Luft und atmete langsam wieder aus.
Als Franz die Augen wieder öffnete, war er allein vor dem Schwarzen Loch, dessen Mahlstrom weniger sicht- als spürbar ein Lichtstrom fassungsloser Kraft entsprang, ein weltenzerfetzendes Monstrum purer Schönheit, durchwoben von Funken und Strahlen, umwabert von Halos und Aureolen. Die flammende Säule war bislang unerkennbar gewesen, überstrahlt von den Sternennebeln und Sonnenklumpen, doch jetzt, am Ende des Seins gab es nur Finsternis und darin einen wirbelnden Strahl aus eiskaltem Feuer. Was immer den Ereignishorizont überschritten hatte in den letzten Milliarden Jahren, war zermahlen worden und wurde als reine Energie wieder hinausgespien ins Universum. Irgendwann, irgendwo würde das Rasen enden, der Strom sich auffächern und neue Sonnen und Planeten gebären. Das war nicht Nichts, das war Alles.
Nun, was blieb?
Teleportation sicher nicht. Die Distanz zum nächsten Planeten überschritt garantiert seine Reserven. Außerdem hatte ihn seine letzte Transmaterialisation zu einer viertägigen Existenz als Essenzwolke verdammt. Impulsschübe fort vom Ereignishorizont wurden gierig aus ihm herausgezogen, mit einem Zupfen, Ziehen, Saugen, einer aufdringlichen Berührung wie jener, als er nach sich selbst ausgegriffen hatte.
„Per aspera ad astra”, sagte seine Chefin gerne.
Kassandras Version davon war: „Wenn’s nicht vorangeht, geh voran.“
Was hatte Franz schon zu verlieren?
Nichts.
Alles.
Er gab sich einen Schubs. Und einen zweiten, dritten, er kämpfte an gegen die Unruhelosigkeit, Trägheit, Unbeweglichkeit. Ein gedämpftes Beben nur, ein geschwächtes Echo, das in ihn hinein verhallte. Vielleicht umgekehrt, nach innen, sich nicht nichtend. Wieder eine Barriere, zugleich auch etwas wie ein Summen von außerhalb. Das große Leuchten antwortete ihm, reagierte auf seinen Wunsch nach Freiheit. Vielleicht barg es doch eine Art Bewusstsein, ein Mehr, vielleicht lag unter der reinen Kraft der Schöpfung ein Wille.
Erneut konzentrierte Franz seine Magie und spürte das Tasten eines Fühlers aus Sehnsucht. Franz streckte sich nach diesem Unwesen und verband sich mit dem sanften Schnurren, das sich sofort in das orgiastische Jubeln eines milchstraßengroßen Drachens exponenzierte.
Franz begriff einen Augenblick zu spät.
Franz Kalo war nicht mehr.
Als er sich mit dem träge ausgreifenden Plasma verbunden hatte, war sein Schutzschleier zerborsten. Alle Gase seinen Lungenbläschen entzogen, das Restlicht seinen Pupillen entflohen, alle Bindungen seiner Molekülstruktur aufgelöst. Haare, Haut, Fett, Sehnen, Muskeln, Organe, Knochen, alles, was Franz Kalo ausgemacht hatte: im Bruchteil eines Augenblicks zerstoben. Im Sonnenkernfeuer des Stroms zerbrannte sein Selbst, das wie flüssiges Gas splitterig durch die Aggregationszustände seines Nichtvorhandenseins hindurchsublimierte, nirgends mehr war und überall, zerstrichen auf der Leinwand eines gleichgültigen Universums, kollabiert in der einen, extrapoliert in der anderen unzeitlichen Sekunde.
Zurück blieb nur ein aschegrauer Anzug mit einer Spur mattroter Fadigkeit.
Mehr nicht war Kalo Franz.
„Franz?“
Franz blinzelte sich zurück ins Licht.
„Franz, alles startklar. Sobald du bereit bist, kann's losgehen.“
Franz Kalo starrte reglos in die Finsternis auf der Innenseite des Spiegels.

[Fortsetzung: Der Fall Franz Kalo]

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