Gesellschaft, Gewalt, Hölle, Hoffnung | ANDERSWOLF

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Gesellschaft, Gewalt, Hölle, Hoffnung

Von der Front
Januar 8, 2014

Heute ist in der ZEIT ein Interview mit dem einstigen Nationalspieler Thomas Hitzlsperger erschienen, in dem er sich als homosexuell outet. Zwar erst knapp nach dem Ende seiner Zeit als Profi-Fußballer, aber immerhin. Dass er es überhaupt tut, ist begrüßenswert und ermutigt vielleicht auch Andere, die fälschlicherweise der Ansicht sind, im Profisport müsse man seine sexuelle Orientierung verstecken. Denn diese Menschen, die sich ständig im Wettstreit mit anderen befinden, fechten damit noch einen Kampf mit sich selbst aus. Einen Kampf, der so viele Kräfte bindet, dass man sich kaum vorstellen mag, was diese Menschen erreichen könnten, wenn sie nicht ständig Kraft dabei vergeudeten, nicht sie selbst zu sein.
Leider sind einige der Sorgen homosexueller Profisportler berechtigt. Es gibt immer noch körperliche und verbale Gewalt, die sich gegen nicht-heterosexuelle Menschen richtet und die ein Ausreißen aus einer Norm bestraft, die willkürlich geschaffen wurde. Es gibt diese Gewalt ebenso wie die Überzeugung, Schwule und Lesben kämen in die Hölle.

Diese Hölle gibt es wirklich, doch ist sie kein jenseitiger Ort der Qual, sondern ein Ort zwischen den Menschen. Wer Glück hat, geht hindurch und erstarkt. Wer Pech hat, verliert sich und trägt die Narben für immer in sich. Jeder, der einmal sein Selbst- und Weltbild verloren hat, kennt diese Hölle und weiß, welch schmerzhafter und qualvoller Prozess Selbsterforschung sein kann.
Oft kommt diese Qual von innen, von der Schwierigkeit, sich selbst wiederzufinden in einer Welt, deren willkürlicher Norm man nicht mehr entspricht. Plötzlich werde ich, der ich mich immer als Teil der Gesellschaft sah, zum Außenseiter gemacht. Wohlgemerkt: ich werde zum Außenseiter gemacht, ich wähle diesen Zustand nicht selbst oder bewusst. Ich trage in den Augen der Gesellschaft plötzlich eine Andersartigkeit an mir, die es abzulehnen gilt und mit der ich mich auseinandersetzen muss. Im günstigen, also seltensten Fall kann ich sie akzeptieren, kann mich also selbst annehmen und sagen “Ist eben so” und unbesorgt weiterleben.
Im ungünstigsten, weit häufigeren Fall kann ich mich nicht akzeptieren, kann nicht ertragen, dass ich nicht mehr der Norm entspreche oder der Gesellschaft angehöre. Wie könnte ich dann anders als mich und meine offensichtliche Fehlerhaftigkeit zu hassen? Wie könnte ich dann anders als gegen mich zu kämpfen, mich zu zerreißen, im schlimmsten Fall: mich zu zerstören?
Das ist die Hölle, in die Homosexuelle kommen, und diese Mischung aus Unsicherheit, Angst, Selbsthass, und Hoffnungslosigkeit ist weit schlimmer als alle körperliche Gewalt. Es wäre Aufgabe der Gesellschaft zu verhindern, dass diese Hölle sich in einer Seele auftut. Tatsächlich aber weitet sie sich jedes Mal, wenn beispielsweise Politiker (wie kürzlich Norbert Blüm) von “traditionellen Werten” und damit gegen eine Gleichstellung sprechen. Jedes Mal, wenn sich ein Mensch aus Angst vor Entdeckung seiner Geheimnisse für ein Leben in Angst entscheidet, wird die Hölle stärker. Jedes Mal, wenn ein schwuler Jugendlicher keinen anderen Ausweg aus seiner Hoffnungslosigkeit sieht als den Freitod, hat die Hölle gewonnen.

Was diese “traditionellen Werte” angeht: die Keimzelle der Gesellschaft ist nicht die Familie. Die Keimzelle jeder Gesellschaft ist Mitgefühl und das Anerkennen, dass alle Teilnehmer der Gesellschaft unabhängig von Geschlecht, Sexualität, Glaube, Hautfarbe oder Alter Menschen sind und dass sie alle die gleichen Rechte haben. Der amerikanische Autor und Regisseur Joss Whedon gilt vielen als Feminist, weil er anders als andere Autoren und Regisseure in seinen Serien Frauen nicht nur nicht schwächer, sondern im Gegenteil oft stärker als Männer porträtiert. Tatsächlich lehnt er diese Einstufung als Feminist für sich selbst ab, denn er sagt: “Entweder glaubt man daran, dass Frauen Menschen sind, oder man glaubt es nicht.” Und so ist es auch bei der Inklusion von Andersheiten. Entweder glaubt man, dass Homosexuelle Menschen sind, oder man glaubt es nicht. Es gibt keinen Mittelweg, keinen “fuzzy middle ground”, wie Joss Whedon es nennt.
Jeder Politiker, der sich der kompletten Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften mit ungleichgeschlechtlichen verweigert, verweigert Homosexuellen das Recht, Mensch zu sein. Oder, allgemeiner: Jeder, der sich der Gleichstellung von Andersheiten mit der Mehrheit verweigert, verweigert Menschen das Recht, Mensch zu sein. Jeder, der von “traditionellen Werten” spricht und die Bevorzugung der heterosexuellen weißen männlichen Oberschicht meint, befördert Diskriminierung, Gewalt und Unmenschlichkeit. Jeder Mensch, der anderen Menschen die Anerkennung ihrer Menschlichkeit verweigert, befördert den Zerfall der Gesellschaft und die Bildung von Parallel- und Schattengemeinschaften.

Das können wir uns aber nicht mehr leisten. Wir stehen als Weltgesellschaft vor ungeheuren Aufgaben. Der Klimawandel, die Endlichkeit der Rohstoffe, das Feuer im Nahen Osten, die wachsende Ungerechtigkeit innerhalb und zwischen Gesellschaften, Staaten und Kontinenten: das sind die wahren Herausforderungen, dafür brauchen wir unsere Kraft. Wir können es uns nicht leisten, auch nur einen einzigen Menschen zu verlieren an den Hass und die Hölle.

Ich setze Hoffnung auf Menschen wie Thomas Hitzlsperger oder Tom Daley, der neulich sagte, dass er seit geraumer Zeit eine Beziehung mit einem Mann führe. Ich hoffe auf Menschen wie Lily Tomlin, die kürzlich ihre Partnerin geheiratet hat, und auf die neue Umweltministerin Barbara Hendricks. Ich hoffe auf Menschen, die offen schwul, lesbisch, bi, trans oder asexuell sind, und ich hoffe, dass es irgendwann überflüssig ist, sich für irgendein Label entscheiden zu müssen. Ich hoffe auf Menschen, die es sich nicht nehmen lassen wollen, Mensch zu sein.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
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