Leg noch nicht auf | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Leg noch nicht auf

Von der Front
Dezember 3, 2013

Im Februar 2012 rief sie mich an. Nachdem wir eine halbe Stunde über das letzte halbe Jahr der Funkstille zwischen uns gesprochen hatten, sagte sie: Wolfgang, leg noch nicht auf. Ich brauche Deine Hilfe.

Kennengelernt habe ich sie 2005 in einem Seminarhotel, sie arbeitete dort als Putzfrau, ich war Praktikant. Sie habe eine Tochter in meinem Alter, erzählte sie mir an einem meiner ersten Tage und, als sei auch ich ihr Kind, schloß sie mich in ihr Herz. Wenn ich ihr morgens auf dem Weg vom Hotelzimmer zu meinem Büro über den Weg lief, sprachen wir immer kurz miteinander oder winkten uns zumindest zu. Ich freute mich immer schon darauf, denn ihre gute Laune war so ansteckend, dass ich den ganzen drögen Arbeitstag davon zehren konnte. Als nach drei Monaten mein Praktikum endete, verweigerte sie mir einen Abschied, damit ich gezwungen sei, wiederzukommen.

Tatsächlich kehrte ich erst drei Jahre später zurück. Nach meinem Studium stellte mich das Seminarhotel für ein Jahr ein. Es war, als wäre ich nie fort gewesen. Da ich jetzt kein Zimmer mehr im Hotel hatte, kam sie jeden Tag zu einem kleinen Schwatz in mein Büro, bevor sie nach Hause ging.
Natürlich haben wir keine tiefschürfenden Gespräche geführt, meistens redeten wir über die Arbeit oder das Wetter. Und dann wieder gab es Momente wie diesen: Kolleginnen hatten über sie, die allen half, die für alle ein freundliches Wort und ein Lächeln hatte, gesagt, sie sei faul und nachlässig, lästere andauernd und mische sich überall ein. Als ich sie fand, kniete sie neben dem laufenden Staubsauger auf dem Boden, sie zitterte und konnte kaum aufhören zu weinen.
Ich beruhigte sie, so gut ich konnte. Doch obwohl sie bald danach wieder zu ihrer alten Fröhlichkeit und Stärke zurückgefunden zu haben schien, ahnte ich, dass ihre Kraft nur scheinbar war und die Freundlichkeit, mit der sie den Kolleginnen begegnete, nicht mehr echt. Vor allem aber und bis heute erschütterte mich ihre plötzliche Schwäche, eine so überfordernde Kraftlosigkeit, dass sie auch mich ergriff. Ich habe schon immer Angst vor der Schwäche Anderer gehabt, teils natürlich, weil sie mich zur Stärke zwingt, vor allem aber, weil sie mein naives Bild der Anderen zerstört, sie seien so eindimensional, dass sie immer freundlich, immer fröhlich, immer lustig, immer nett sein könnten. Es ist wohl eine besondere (und verbreitete) Form der Egozentrik, anderen Menschen keine Tiefe zubilligen zu wollen, um sich nicht mit ihnen oder ihren Problemen und Gedanken auseinandersetzen zu müssen. Es ist vor allem eine Egozentrik, deren Kosten sehr hoch sind, da man erst im Rückblick erkennt, wie viel man versäumt hat.

Am meinem letzten Arbeitstag habe ich sie lange gesucht. Wieder wollte sie mir den Abschied verweigern, doch ich wusste, ich würde nicht zurückkommen. Sie war gleichzeitig traurig und wütend, und obwohl ich ihr versprach, wir würden uns regelmäßig treffen, wussten wir beide, dass das den endgültigen Abschied nur hinauszögerte.
Wir gingen noch ein paar Mal zusammen essen, bevor der Kontakt abriss. Das geschieht mir manchmal, und ich schäme mich dafür. Dass ich Menschen, an denen mir liegt, nicht aus der Ferne sagen kann, wie sehr sie mir fehlen. Dass ich mir wünschte, wir könnten uns häufiger sehen. Dass ich an sie denke, selbst wenn wir uns gar nicht sehen. Dass ich darauf vertrauen muss, dass es anderen Menschen ebenso geht: dass auch sie sich nicht melden und es furchtbar finden.

Im Februar 2012 sagte sie zu mir: Wolfgang, leg noch nicht auf.
In ihrer rechten Brust war ein ungewöhnlich aggressiver Tumor gefunden worden.
Ich brauche Deine Hilfe.
Ich spürte die Angst wieder aufkommen. Die Angst davor, diese Frau, die ich kaum anders als stark und fröhlich gekannt hatte, schwach zu sehen. Ich hatte Angst vor meiner eigenen Schwäche in ihrer Gegenwart. Ohne zu zögern sagte ich: wenn ich helfen kann, helfe ich natürlich.
Was sie noch essen könne, wenn sie in die Chemotherapie ginge, wie sie sich ernähren solle. Der Arzt habe etwas gesagt, aber sie habe nicht zuhören können, nicht zuhören wollen, sie habe nur noch Krebs gehört und Tumor und Chemo und nur noch an den Tod denken können.

Ich besuchte sie kurz danach, ging mit ihr alles durch, beantwortete all ihre Fragen, redete mit ihr aber nicht nur über den Krebs. Das erste Mal, seit wir uns kannten, sprachen wir über vieles andere. Über das Buch, das ich schreiben wollte, das Restaurant, das sie einmal geleitet hatte, über ihre Töchter, die ich nie kennengelernt hatte. Ich bat sie zum Abschied, mich jederzeit anzurufen, wenn sie reden oder spazierengehen oder nur kurz fliehen wolle.
Ich habe sie danach nicht mehr gesprochen. Die Chemo zehrte sie aus, fraß sie auf, erledigte aber auch den Tumor. Kurz nach dem Ende der Therapie ging es ihr wieder besser. Sie kam wieder zu Kräften, fuhr zur Kur und in die Karibik. Ihr Haar, das immer glatt gewesen war, wuchs jetzt lockig und kraus nach. Das alles erfuhr ich durch Dritte und durch Dritte erfuhr ich auch, dass sie offiziell den Krebs besiegt hatte.

Vor vier Wochen war ich bei einer Tagung, die in Süddeutschland stattfinden sollte, dann aber aufgrund des hohen Interesses in das Seminarhotel verlegt worden war, in dem ich erst als Praktikant und dann als Angestellter gearbeitet hatte. Ich freute mich darauf, sie wiederzusehen, stellte mir ihre Überraschung vor, wenn ich plötzlich vor ihr stünde. Tatsächlich lag sie zu diesem Zeitpunkt schon im Sterben. Als Spätfolge der Chemotherapie war sie an einer nicht mehr heilbaren Leukämie erkrankt.
Ich weiß nicht, was man in so einem Moment tut. Verabschiedet man sich mit der Lüge, dass alles gut wird? Dass man sich wiedersehen wird? Was sagt man? Darf man sagen, man wird den Anderen vermissen? Wie tröstet man jemanden, der um seinen nahen Tod weiß? Ich wusste nicht, was zu tun sei. Ich habe nichts getan. Ich habe ihr keinen Brief, keine Karte, keine Blumen, keinen Gruß geschickt. Ich habe nichts getan.

Vielleicht habe ich gehofft, wenn ich ihr den Abschied verweigerte, müsste sie bleiben, müsste wieder gesund werden, um sich von mir zu verabschieden. Vielleicht habe ich gehofft, ich könnte etwas halten, das mir längst entglitten war.

Zwei Wochen später war sie tot.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
mit Erkenntnisgewinn.
Impressum

Und nein,
ich will Eure Cookies nicht.
Datenschutzerklärung

Anderswann