2 | Schlaf und Traum | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

2 | Schlaf und Traum

Yelda
November 2, 2010

Bis ich wusste, was Zeit, was Raum, was ich und was nicht ich war, vergingen Tage und Wochen. Mit der Helligkeit kam Wärme und mit der Dunkelheit Kälte und funkelnde Augen in der Ferne. Der Regen kam und ging, Bienen, Hummeln, Käfer, Spechte, Amseln und Raben, Füchse, Wölfe und Luchse, Rehe, Hirsche und Pferde besuchten mich, als hätten sie von mir gewusst, noch bevor ich meiner selbst bekannt war.

Ich hörte ihre Stimmen und ich verstand. Sie begrüßten mich und empfanden mich als harmlos. Sie hatten keine Angst, doch auch kein weiteres Interesse an mir. Einige Tiere wie die Pferde und die Luchse, kamen nur einmal, die Hummeln dagegen umflogen mich häufig, als hätten sie vergessen, dass ich nichts war, das ihnen Nahrung schenken konnte. Eine bestimmte Hummel lernte ich wiederzuerkennen, sie war etwas kleiner als die anderen und trug kleine Kreise im Muster ihrer Flügel, setzte sich gerne auf meine in der Sonne liegende Hand und putzte sich. Das Gefühl, das sie mir damit verursachte, ein feines Kribbeln, machte mich froh und ich lachte. Ich wollte den Gefallen erwidern und legte einen Finger auf den kleinen samtigen Körper, der kaum breiter war als die Fingerspitze. Ich brach ihr den Flügel, ich spürte ihren Schmerz, bevor ich begriff, was geschehen war und was es für sie bedeutete. Ich wusste, ich hatte ihr Leid zugefügt, doch lag keine Absicht darin, und als ich sie aufgeregt und voller Schmerz auf meiner Hand stolpern sah, wünschte ich mir nichts so sehr, wie ungeschehen zu machen, was ich getan hatte.
Woher ich wusste, dass ich das auch konnte, dass es sogar ein leichtes sein würde, fragte ich mich nicht. Ich barg die Hummel in beiden Händen und erinnerte mich daran, wie sich die Hummel angefühlt hatte, als sie heil und ganz gewesen war, an ihre Freude, an ihren pelzigen Leib. Ich spürte eine Bewegung in mir und eine Bewegung in meiner Hand, die nicht stofflich und fest war wie alles um mich herum, und als ich meine Hände wieder öffnete, putzte sich die kleine Hummel wie gewohnt, sie war ruhig und zufrieden.
Erst als sie davongeflogen war, fand ich auf meiner Hand einen einzelnen Hummelflügel, und ich erkannte, dass ich das Leid, das ich verursacht hatte, nicht rückgängig gemacht hatte. Ich hatte es zwar wieder gutgemacht und die Hummel geheilt, doch hatte ich ihr einen neuen Flügel gegeben.

Diese erste Lektion darin, dass man nicht ungeschehen machen kann, was geschehen ist, dass man die Zeit nicht umkehren und ihren Fluss nicht steuern kann, war nicht genug, und später musste ich unter weit größeren Schmerzen erkennen, dass manches Leid geschehen muss.

Ich erkannte den Schlaf daran, dass ich aus ihm erwachte. Noch vor einem Moment hatte ich in der Sonne gesessen, um mich hatten Wesen gestanden. Sie hatten gesprochen, anders als die Tiere, deren Sprachen einfach sind. Wie ich hatten sie Worte benutzt, um die Welt zu beschreiben, um zu unterscheiden zwischen dem was war und dem was nicht war. Tiere können das nicht, denn alles, was sie beschreiben, sehen und fühlen sie. Tiere wissen nicht von den Dingen, die nicht sind. Diese Wesen wussten das.

„Sie ist nicht hier.“
„Aber sie war es. Hier haben wir ihre Kraft gespürt.“
„War es wirklich sie? War es ihre Kraft?“
„Könnten wir uns etwa geirrt haben?“
„Nein, was ihre Kraft, was ihr Wesen angeht, können wir uns nicht irren.“
„Sie war hier, und sie wird es wieder sein. Wir werden warten.“
„Wir können nicht warten. Schon jetzt haben wir viel Zeit verloren. Zu viel Zeit.“
„Wir können warten.“
„Wir müssen warten.“
„Wir werden warten.“
„Wie können wir warten? Der Schatten …“
„Der Schatten wird kommen und uns auslöschen, wie es bestimmt ist. Wir können nicht aufhalten, was bestimmt ist.“
„Sie kann den Schatten doch aufhalten, er wird sie doch rufen?“
„Das wird er.“
„Doch sie wird ihn nicht aufhalten.“
„Aber ist es nicht ihre Bestimmung?“
„Sie ist nicht dazu bestimmt, aufzuhalten, was Teil ihres Wesens ist. Sie kann nicht ihren eigenen Schatten vernichten, sie kann sich nicht selbst vernichten.“
„Hat sie es nicht schon einmal versucht?“
„Ja, sie hat es versucht, und ist daran gescheitert. Sie ging verloren und wird wieder gefunden werden. Wir werden warten.“
„Wir werden sie nicht finden. Sie wird uns finden. Darauf müssen wir warten.“
„Auf sie und den Schatten?“
„Erst kommt der Schatten. Dann kommt sie.“
„Sie wird kommen und wir werden sie erwarten.“

Als ich die Augen öffnete, spannte sich die ferne Kälte über mir. Ich saß nicht mehr unter den Bäumen, sondern in weitem Feld auf hartem Grund. Der Boden um mich war hart und schwarz, als hätte die Sonne ihn in zahllosen Tagen verbrannt. Als ich meine Hand auf die Erde legte, konnte ich noch die Hitze des Feuers spüren, das auf ihr gewütet hatte.
Ich konnte, als ich mich umsah, die vier Wesen, die gesprochen hatten, und deren Worte mich so sehr daran erinnerten, wie ich meine Gedanken formte, nicht mehr entdecken. Ich war mir nicht sicher, ob es mich freute oder nicht. Sie hatten nicht unfreundlich geklungen. Sie hatten jemanden verloren, der sich selbst verloren hatte. Wie konnte das sein? Wie konnte sich etwas selbst verlieren? Wie konnte etwas von sich selbst verschwinden?
Ich überlegte, ob ich etwas gefunden hatte, das verloren gegangen war. Hätte ich etwas gefunden, ich könnte es den Wesen geben. Doch alle Dinge waren von selbst zu mir gekommen, die Tiere, die Pflanzen, die Sterne, der Mond und die Sonne, die Nacht und der Tag. Nichts davon schien verloren zu sein, nichts schien nicht an seinem angestammten Platz zu sein. Nur ich nicht. Ich war fern meiner Bäume, fern von Hüterin und Regentrinker, Sämling und Späher. Ich stand auf und ging ein paar Schritte in eine Richtung. Der Boden unter meinen Füßen wurde kälter, je weiter ich kam, doch auch immer weniger hart. Ich beugte mich nach unten, um die Erde mit meinen Fingern zu berühren und fühlte Leben darin, das ich vorher in der schwarzen Erde nicht gespürt hatte. Es war zwar nur schwach, aber es war da, ein schmales Rinnsal von Kraft, das sich unter meinen Fingern wand wie ein Wurm, der sich durch die Dunkelheit bohrt. Ich wusste, was die Erde verbrannt hatte, hatte auch die Lebenskraft des Bodens genommen, irgendwo hinter mir musste ein zerstörerisches Feuer gewütet haben, das nicht nur die Materie der Pflanzen und Tiere genommen hatte, sondern alle Kraft, alles Leben, all ihr sein in sich aufgenommen haben. Vielleicht, dachte ich, war es das, was verschwunden war. Vielleicht war es das, was die vier Stimmen suchten. Oder aber, es war das, was sie fürchteten, der Schatten, der sie verschlingen würde. Doch irgendetwas war mit dem Schatten und dem Verlorenen gewesen, ein Zusammenhang, den ich nicht verstand. Das eine gehörte zum Anderen, war aber nicht das Selbe. Wie zwei Seiten eines Blattes.
Ich ging weiter in die Richtung, die ich eingeschlagen hatte. Wenn das alles vernichtende Feuer, der Schatten hinter mir lagen, dann wollte ich nicht wieder dorthin zurück. Ich sehnte mich nach meinen Bäumen, nach den anderen Pflanzen und nach den Tieren. Ich sehnte mich danach, geborgen und sicher zu sein und spürte da zum ersten Mal, seit ich mich selbst wahrgenommen hatte, etwas anderes als die tiefe Zufriedenheit darüber, in der Welt zu sein. Zum ersten Mal in meinem Dasein war ich beunruhigt und ängstlich. Und fern meiner Bäume war ich nun das erste Mal nicht mehr geborgen, sondern allein.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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