Egal. Eigentlich. | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Egal. Eigentlich.

Morpheon
September 2, 2010

Die Wände sind wieder bleich, ungeschminkt, freigerückt von allen Möbeln. Wie Schatten von Scherenschnitten liegen ihre Umrisse noch auf der Farbe, kaum zu erkennen und doch nicht zu übersehen. Das Haus ist leer und doch erinnert es sich an das Leben, das es barg. Die letzten Schritte sind schon lange auf dem Boden verhallt, die letzten Türen wurden schon lange geschlossen, das letzte Lachen, das letzte Weinen sind schon seit Jahren verstummt.

Und doch erinnerte alles in diesem Haus an die Großeltern, die hier gelebt, geliebt, geboren hatten und zuletzt gestorben waren. Ihr Sohn, der Vater, hatte das Haus behalten, aber nicht beziehen wollen. Die Erinnerung an das Leben, das er hier begonnen und immer gehasst hatte, war noch immer, Jahrzehnte später, ein größerer Schatten als es die Liebe seiner Eltern, die sie ohne Zweifel für ihn verspürt hatten, jemals hatte sein können.
Der Sohn entschied sich, das Haus zu behalten, doch kehrte er nicht wieder zurück, bevor auch er, Jahre vor seinem Tod verstummt und eingeschlossen in sich, starb.
Der Enkel öffnete die Tür, setzte Spuren in den Staub und barg alte Vogelnester von Schränken, öffnete von Erinnerungen berstende Alben, spürte das Seidenpapier unter seiner Berührung zerstauben, atmete den Geruch nicht des Todes, sondern des Vergessen-Seins ein, bis er gegen Tränen ankämpfend wieder durch die Tür ins Freie stolperte, nach Atem ringend, nach Erinnerung an die fremden Menschen suchend. Nie hatte er hier gelebt, nie hatte er hier Stimmen gehört außer seiner eigenen und der des Nachbarn, mit dem er kurz vor Betreten des Hauses noch gesprochen hatte. Wie schade es sei, dass Jahre über nichts mit dem Haus geschehen sei, wie schade und fast schändlich, dass in der direkten Nachbarschaft der Garten verwilderte, das Haus sich im Schatten der immer höher strebenden Bäume verlor, wie traurig es sei, dass die Familie heute nichts mehr zähle und dass der Sohn, dessen Pflicht es gewesen sei, zurückzukehren und sich zu kümmern, es nie für nötig befunden hätte, wenigstens die Hecke zu schneiden.
Der Enkel hatte ihn vor dem Gartentor stehengelassen, das sich vor Rost knirschend nur schwer öffnen ließ, ging über den unter Gräsern liegenden Kiesweg zur Tür und öffnete sie mit dem Schlüssel des Vaters. D. stand auf dem Anhänger, nur der Name des Ortes, nicht ein Zeichen dafür, dass hier geliebte, verwandte Menschen gelebt hatten.
Die Schatten brachte der Enkel wie die staubigen Bücher aus dem Haus, legte sie auf die Steine der Terrasse, wo die Sonne die Vergangenheit ausbleichen sollte, legte sie neben die aufgerollten Teppiche, die dunklen Ölgemälde und das Teeservice mit den tanzenden Vögeln, das er als einziges wiedererkannte als Teil der Erbschaft seines Vaters.
Er öffnete keines mehr der Bücher und auch keine Alben und sah keine Fremden mehr, die sein Blut in sich trugen. Er leerte das Haus und entfernte die Spinnweben wie die Staubmäuse, kehrte die Wände ab, wusch die Fenster und wischte die Böden.

Bleich sind sie nun, die Wände, weiß und frei von aller Vergangenheit. Das Haus wartet auf seine Zukunft, eine neue Familie packt in der Fremde ihre Habseligkeiten, um dorthin zu ziehen, wo noch vor Wochen eine ganze Welt von Erinnerungen darauf gewartet hatte, entdeckt und entfernt zu werden.
Bleich sind die Wände und nichts erinnert mehr an anderes als daran, dass ein Haus unter hohen Bäumen in einem verwunschenen Garten steht und auf neue Seelen wartet.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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