10 | Yelda | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

10 | Yelda

Yelda
November 7, 2010

„Du bist wach. Gut.“
Remde saß neben mir und hielt meine Hand.
Der Schmerz in meinem Körper war leiser geworden, er fühlte sich mehr als vorher an, als gehörte er zu mir wie die Hand, die Remde hielt.
„Du lebst“, sagte ich.
„Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Ich wusste nicht, warum du das Bewusstsein verloren hast. Ich habe eine Erklärung von Mandu verlangt, doch sie wollte mir keine geben.“
„Du warst fort.“
„Mandu hat mich fortgeschickt. Sie meinte, ich könne nichts für dich tun außer warten.“
„Warst du im Wald?“
„Nein, ich habe ein paar Sachen aus meiner Hütte geholt. Vielleicht können wir sie hier brauchen.“
„Ich habe dich gesehen, du warst im Wald, ich habe dich gesucht, dann hat dich Dunkelheit verschluckt.“
„Du hast geträumt.“
„Es war kein Traum, ich weiß, dass es kein Traum war.“
„Ich habe keine Dunkelheit gesehen außer der Nacht, die kam und ging. Du hast im Schlaf geschrien.“
„Ich habe dich gerufen, ich wollte dich warnen.“
„Es war ein Traum, es muss ein Traum gewesen sein, nichts hat mich versehrt.“
„Es war kein Traum.“ Mandus Stimme war überraschend nah. Ich hatte sie nicht gesehen, und auch Remde sah sich überrascht um, denn er hatte sie ebenfalls nicht herankommen hören. „Du hast gesehen, was hätte sein können. Was gewesen wäre, hätte Remde dich nicht zu mir gebracht.“
„Woher weißt du das?“
„Kind, das Dunkel folgt dir wie die Nacht dem Tag, doch auf meiner Insel bist du vor ihm verborgen.“
„Was bedeutet das, geehrte Mandu? Was wisst Ihr?“
„Warum folgt mir das Dunkel?“
„Ich weiß, dass meine Insel nur erreichen kann, was ich einlasse. Euch habe ich eingelassen, weil du, mein Kind, mit Gewalt meine Grenzen erschüttert hast. Hätte ich nicht nachgegeben, das Dunkel hätte uns längst verschlungen.“
„Ich habe niemandem Gewalt angetan!“
„Es lag nicht in deiner Absicht, denn du weißt nicht, wer du bist oder wozu du in der Lage bist. Umso wichtiger ist, dass du bei mir bist, so wenig ich es mir auch wünschen mag.“
„Fürchtest du mich?“
Remde sah mich entsetzt an, doch Mandu lächelte und sagte: „Ich fürchte die Kraft, die in dir wohnt, und den Schatten, der dir folgt, und den Sturm, den du entfesseln kannst. Doch dich fürchte ich nicht, denn du bist ein Kind und kennst dich nicht.“ Sie kniete sich auf meine freie Seite. „Ein weiterer Grund, warum du bei mir sein solltest. Ich kann dich lehren, deine Kraft zu beherrschen, ich kann dir helfen, dem Schatten zu entgehen. Und ich kann dir einen Teil Deines Selbst geben: Deinen wahren Namen.“
„Aber Remde gab mir einen Namen.“
„Remde gab Dir den Namen einer Toten, die Du nicht bist. Du hast einen eigenen, einen wahren Namen. Du heißt Yelda.“
„Yelda? Wer hat mir diesen Namen gegeben?“
„Ich weiß es nicht, wer ihn dir zuerst gab, und auch weiß ich nicht, wer ihn dir in Zukunft noch geben wird. Dein Leben wird sich wiederholen, du wirst dich wieder verirren und wieder gefunden werden, du wirst erneut erkannt und erneut benannt werden.“
„Wer ist Yelda? Wofür steht ihr Name?“
„Woher weißt du, was mich erwartet?“
„Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich diese Zukunft ist, die dich erwartet. Wir alle folgen einem vorgezeichneten Weg, doch wissen wir zu keiner Zeit, an welchen Ort er führt. Ich erkenne in dir alte Geschichten, Überlieferungen, wenn man so will. Sie erzählen von einem strahlenden Wesen, dem die Dunkelheit folgt. Viele haben darin die Sonne, der die Nacht folgt, viele Sommer und Winter, viele sehen Leben und Tod.“
„Ich kenne diese Geschichten nicht.“
„Natürlich kennst du sie nicht, Remde. Es ist eine Geschichte, die Mütter ihren Kindern über den Tod erzählen. Wer hätte sie dir erzählen sollen?“
Remde schwieg, doch ich sah, dass Mandus letzte Worte ihn traurig gemacht hatten.
„Nie hätte ich gedacht, dass eines Tages dieses strahlende Wesen der Überlieferung meine Insel betreten würde. Und ich habe es nicht geglaubt, bis du aus meiner Quelle getrunken hast. Erst da wurde mir klar, wen ich wirklich vor mir hatte.“
„Ist sie denn doch eine Hohe?“
„Keine Hohe, aber ein Wesen weit über den Menschen. Direkt mit der Welt und dem Leben verbunden, darum kannte sie weder Hunger noch Durst, denn sie war nie sterblich.“ In Mandus Gesicht stahl sich ein abwesender, hoffnungsloser Zug ein.
„Sie war nie sterblich?“ Wie Remde das eine Wort betonte, beunruhigte mich fast so sehr wie die Wut, die wieder in seinem Gesicht stand.
„Remde? Was meint sie?“
„Ich glaube, Mandu will sagen, sie hätte dir deine Unsterblichkeit genommen.“
„Was bedeutet das?“
„Es bedeutet, Dein Leben wird irgendwann enden.“
„Aber jedes Leben endet irgendwann. Ein Baum stürzt und stirbt, Rehe und Käfer, Vögel und Füchse, sie alle sind irgendwann nur noch kalte Körper und nähren dann die, die zurückbleiben. Ihre Kraft wird weitergegeben, ihr Leben ist nicht verloren.“
„Bei dir war das anders. Dein Leben war nicht bestimmt zu enden.“
„Das weiß niemand. Dass sie nie sterblich war, heißt nicht, dass sie unsterblich war. So wie die Sonne nicht stirbt oder die Nacht, stand Yelda immer außerhalb der Begriffe von Leben und Tod.“
„Bis sie aus deiner Quelle trank?“
„Es hätte an jeder Quelle geschehen können, doch erst hier, erst nach der Begegnung mit mir, wurde ihr etwas angeboten, was sie nicht kannte. Nie hatte sie Hunger oder Durst, sie existierte außerhalb von allen Notwendigkeiten, die die Menschen kennen. Ihr Körper war nicht darauf angewiesen, sich wie der eines Menschen zu ernähren.“
„Und dadurch, dass sie menschengleich getrunken hat, wurde sie menschlicher?“
„Das weiß ich nicht. Sie hat dadurch auf jeden Fall den Weg verlassen, dem sie bisher gefolgt ist.“
„Remde hat recht.“
„Was?“
„Du hast recht: ich bin sterblich geworden. So weit ich zurückdenken kann, bin ich Teil der Lebenskraft, die alles durchfließt, doch nachdem ich aus Mandus Quelle getrunken habe, spüre ich den Strom nicht mehr, dem ich durch die Welt folgte. Ich kann sehen und hören, doch ich fühle seither weniger das, was um mich ist, als nur mich.“
„Darum auch die Schmerzen.“
„Welche Schmerzen? Warum habe ich nicht mitbekommen, dass Yelda Schmerzen hatte?“
„Ich habe dich fortgeschickt, bevor sie einsetzten. Du solltest nicht sehen, wie sie darunter litt, wieder in die Welt einzutreten.“
„Hast du jetzt noch Schmerzen?“
„Ich spüre sie noch, doch ich weiß, dass sie zum Leben dazugehören. Der Schmerz sagt mir, dass ich einen Körper habe, dass ich in der Welt bin, so wie ich vorher die Kraft des Lebens um mich spürte.“
„Yelda fühlt das, was alle Wesen zu Beginn ihres Lebens spüren.“
„Als wäre sie neugeboren?“
„Ja.“
„Nein, ich bin das erste Mal überhaupt geboren. Das erste Mal in meiner Zeit bin ich sterblich. Doch mich schreckt das nicht. Ich werde mich an die Schmerzen gewöhnen und wenn mein Leben endet, werde ich mich von meinem Körper verabschieden und die Schmerzen loslassen, und ich werde als Teil des Lebensstroms anderen Wesen meine Kraft geben.“
„Dann bist du nicht traurig?“
„Nein. Aber ich denke, ich möchte ein wenig schlafen.“
„Dann schlaf. Wir sind hier, wenn du erwachst.“

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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