Yal. Drittes Siremon-Fragment | ANDERSWOLF

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[cries in Gen-X]

Yal. Drittes Siremon-Fragment

Siremon
November 4, 2011

Betrat man nach Herekats Fall den Garten der sterbenden Göttin, konnte man Yals Schreie hören, die mal schneidend hell an einen hochfliegenden, klagenden Adler, mal tief und heiser an ein großes, aber tödlich verwundetes Tier denken ließen. Manchmal murmelte Yal nur leise Worte, dann wandelte ihr Geist auf jenen anderen Pfaden, die den Garten mit den Kraftknoten in der Steppe von Rhaton, im Schlund und in den Drachenbergen verbanden.
Neskarian ging in diesen wenigen Stunden, die er nicht als Yals Stimme diente, auf den sichtbaren Wegen durch den Garten, betrachtete Schmetterlinge und Blüten, Vögel und Eichhörnchen. Dann konnte man auch seine wahre, eigene Stimme hören, wenn er Lieder sang, die ihn an die Zeit erinnerten, bevor die Menschen Yals Garten betreten und sie zu einer Gefangenen in ihrem eigenen Reich gemacht hatten.

Ich erfuhr nie den Namen des Mannes, der Yal töten sollte. Mal nannte ich ihn Hauptmann, mal Schwertträger, dabei war er weder das eine noch das andere. Dieser einfache Soldat, der das Schwert seines toten Vorgesetzten genommen und sich damit vom Schlachtfeld gestohlen hatte, fand sich auf der Suche nach Sicherheit vor einem silbern leuchtenden Baum mit goldenen Blättern wieder, wo eine Frau stand, deren weißblondes Haar über ihren nackten Körper bis zum Boden fiel. Der Soldat zögerte nicht, denn Zögern hatte schon den Hauptmann das Leben gekostet, also beschleunigte er seine Schritte so sehr, dass er fast rannte. Sie musste ihn gehört haben: sie wandte sich um, und hätte der Soldat die Entscheidung nicht schon getroffen, er wäre nicht mehr dazu fähig gewesen, sie anzugreifen. So schön war sie, ihre Haut wie sonnendurchfluteter Nebel, ihre Augen golden wie Herbstlicht, ihr Blick traurig, nicht erfüllt von Angst oder Zorn.
Das Schwert durchfuhr ihre Brust wie Wasser, er spürte den Widerstand, als die Klinge Borke, Bast und Holz durchdrang, und für einen Moment erfüllte ihn ungläubige Freude über diesen Angriff, der so leicht, so schnell geglückt war. Dann schrie Yal zum ersten Mal und der Geist des Soldaten erlosch, als sein Körper in den Flammen ihrer entfesselten Macht verbrannte wie sommertrockenes Stroh.

Neskarian selbst führte Kirren durch Yals Garten. „Du bist groß gewachsen, Mensch, und doch erkenne ich in Dir das Kind wieder, das ich vor Jahren zu Yal brachte.“ Neskarian blieb stehen und sah einem Schmetterling nach, der ihren Weg gekreuzt hatte und dann zu einem nahen Blauregen geflogen war. Dann sah er wieder zu Kirren. „Es ist gut, dass Du zurückgekehrt bist.“
„Ich werde nicht bleiben.“
„Natürlich nicht.“
„Ich muss zurück zu meinen Freunden. Sie sind in schrecklicher Gefahr. Dieser Dreigesichtige …“
„‚Dieser Dreigesichtige‘ ist gefährlicher, als Du ahnst. Doch deine Anwesenheit hier ist die erste von vielen Niederlagen, die er erleiden wird.“
Neskarian ging so plötzlich weiter, dass Kirren zurückfiel und erst aufholte, als der Sin kurz darauf wieder stehenblieb. Seine Frage, welchen Verlust es für den Dreigesichtigen darstellte, nicht gegen einen Heiler kämpfen zu müssen, der seine magischen Kräfte nicht mehr kontrollieren konnte, erstarb auf seinen Lippen, als er den Baum sah, den er aus seinen Träumen kannte.

Manchmal schien mir Kirrens Geschichte in den letzen Jahren so nah, so echt, dass ich seine Träume selbst durchlebte. Auch wenn ich nicht mehr schlief, verfolgte mich das Bild des Herekat durch die schlaftrunkenen Minuten unter der Dusche, und wenn ich im Morgengrauen durch den Park zur Arbeit ging, erwartete ich zu sehen, was Kirren gesehen hatte: die schwarze und rissige Rinde eines vielfach im Stamm gespaltenen Baumes, dessen Äste teils wie Klauen nach dem Himmel griffen und teils auf der Erde lagen inmitten blutroten Laubs. Und davor sähe ich eine Gestalt mit grauer Haut, das lange, bleiche Haar reichte bis zum Boden und verhüllte doch nicht die umschatteten, gelb leuchtenden Augen oder das Gesicht, rissig wie Borke. Und dann fiele mein Blick nach unten zu dem Griff des Schwertes, das Yals Körper an diesen gestorbenen und wiederbelebten Baum fesselte, der sie in den letzten dreihundert Jahren so umfasst hatte, dass sie selbst wie ein verdrehter Ast dem schwarzen Stamm entwuchs.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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