Der nicht so steile Hang | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Der nicht so steile Hang

Von der Front
Januar 16, 2017

Da liegt ein Kind von wohl drei Jahren im Schnee, der blaue Schneeanzug ist weißpaniert, der Hang ist definitiv nicht steil genug, um dort hinabzurollen. Mehr also eine Böschung, und das Kind liegt quer zum nicht so starken Gefälle auf dem Rücken, die Arme neben dem Körper, doch nicht nahe genug, um tatsächlich über den rechten, also abwärts liegenden Arm hinweg kippen zu können. Es holt Schwung, indem es den linken Arm nach rechts wirft, die Schulter hinterherzieht, fast nach oben wirft, dann kippt auch endlich die Hüfte, doch der rechte Arm ist zu weit vom Körper fort, das Kind kippt immer noch nicht über den Arm, sondern nur darauf, so dass es nun mit dem Gesicht im Schnee und nicht nur auf dem rechten, sondern jetzt auch auf dem linken Arm liegt, der beim Abstoßen mit der Schulter lediglich nach rechts gefallen war. Da liegt also ein Kind von wohl drei Jahren im Schnee, der blaue Schneeanzug ist weißpaniert, Gesicht und Arme auf dem Boden, der Rücken dem Himmel zu, der sich kalt und fern über den nicht so steilen Hang spannt. Mehr also eine Böschung, an deren oberen Ende ein Mann steht und ruft: "Theo!" Ich ahne, dass er der Vater ist, denn außer uns dreien ist niemand hier. So also ruft der Mann: "Theo! Ich will heim! Kommst Du bitte!" Das Kind aber liegt nur rum, das Gesicht im Schnee, verblüffend regungslos. Und als ich eben noch schwanke zwischen dem Impuls, das Kind zum Atmen umzudrehen, und der Erinnerung daran, wie es sich anfühlt, das Gesicht in Schnee zu drücken, das leichte Brennen des Eises auf der Haut zu spüren und die knisternde Schärfe kristallisierten Frosts und die feuchte Wärme des eigenen Atems ... Als ich also noch schwanke, da ruft der Vater wieder "Theo!" und das Kind explodiert in einer kleinen Wolke aus Schnee, wirft die Arme in die Luft, der kleine Körper hebt sich und kippt ein Stück weiter den Hang hinab und bleibt wieder auf dem Rücken liegen, den Blick auf das weite Blau geheftet, Schneeflocken an den Wimpern, das Gesicht gerötet. Und während Theo in ein Kichern ausbricht, das selbst mein gefrorenes Herz erwärmt, geht der Vater ein paar Schritte von der Kante fort und setzt sich auf die Bank, die dort steht. Als er mich grinsen sieht, guckt er bös.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
mit Erkenntnisgewinn.
Impressum

Und nein,
ich will Eure Cookies nicht.
Datenschutzerklärung

Anderswann