Auf der anderen Seite des Ganges | Remix | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Auf der anderen Seite des Ganges | Remix

Textualitäten
September 21, 2018

Eine Zugfahrt. Draußen die Welt in flirrender Hitze und drinnen ebenso, als gäbe es nichts Trennendes dazwischen. Die Fahrgäste machen sich in ihren Sitzen klein, um einander nicht zu berühren. Mit unseren Blicken aber, die von Mensch zu Mensch springen, betasten wir uns doch. Jene zumindest, die nicht digital versunken sind.

Einer jener, die in ihr Smartphone und nicht aus dem Fenster blicken, ist der junge Mann auf der anderen Seite des Ganges. Wischt über den Bildschirm, tippt auf das Glas, verschlingt, was an Futter sich ihm bietet. Einer jener, denke ich, die nachmittags von der Stadt ausgespuckt, am nächsten Morgen aber wieder geschluckt werden. Tag für Tag, Sommer für Sommer, stets unverdaut.

Eine jener, die mit mir beobachten – die Welt draußen, die Menschen drinnen -, ist die junge Frau mir gegenüber. Wie ich ist sie Reisende, Wandernde, Wundernde. Vermute ich, weil ich nicht den Mut oder den Mund aufbringe, sie zu fragen. Als ob es so schwer wäre, ein Gespräch zu beginnen. Da sind wir uns so nah, und doch so fern, weil mir kein Thema greifbar scheint.

Dann steckt der junge Mann sich die Hand in den Mund.

Zuerst ist es nur der kleine Finger, dessen äußerstes Glied zwischen den Zähnen liegt, dann fährt die Fingerspitze ganz in den Raum zwischen Zähnen und Wangen, wandert über das Zahnfleisch erst der rechten, dann der linken Gesichtshälfte. Dem kleinen Finger folgt der Ringfinger, der über die Innenseite der Zähne streicht. Der Mittelfinger schiebt sich über die ganze Länge und Breite der Zunge, der Zeigefinger tastet den Gaumen ab. Als solle auch noch die Beschaffenheit der Speiseröhre untersucht werden, steckt schließlich die ganze Hand bis über das Daumengrundgelenk im Mund des jungen Mannes, der – wie von seiner Hand getrennt – gänzlich ungerührt erscheint.

Die Iatmul am mittleren Sepik glauben, ein Krokodil habe alles Leben in seinem Rachen erschaffen. Im Himmel erkennen die Iatmul seinen Oberkiefer, seinem Unterkiefer entstammen Berge und Erde. Ein Junge – glauben die Iatmul – werde von einem Krokodil gefressen und als Mann wieder hervorgewürgt. Als Zeichen der Reife schneiden sie sich rituelle Wunden in den Körper, Narben wie von Zähnen.

Die Miene der jungen Frau mir gegenüber ist verzerrt von Entsetzen, ich erkenne das Weiße rund um ihre Pupillen, hinter ihren Lippen sehe ich Zähne und Zunge. Ihr Atem geht flach und schnell, ein Keuchen weicht Schlucken und Würgen. Dann reißt sie sich los, wendet sich ab, presst das Gesicht ans Glas, die Augen hält sie geschlossen.

Ich hefte ich den Blick auf den Boden. Ich fühle den Schweiß auf meiner Haut. Ich atme Hitze ein. Ich atme Hitze aus. Ich denke nicht nach über einen Menschen, der sich so sehr selbst berührt, dass andere Menschen davon würgen müssen. Ich denke an die Narben, die wir auf unserer Haut und unerreichbar in unserer Seele tragen. Dann – irgendwann – hält der Zug.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
mit Erkenntnisgewinn.
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