Loslassen | ANDERSWOLF

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Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Loslassen

Usus operi
Oktober 22, 2014

Als ich noch Teil einer Industrie zur Erschaffung schlechten Gewissens war, betrieb ich unter anderem Ernährungsberatung. Nicht nur begleitete ich Mütter bei der Umstellung ihrer Einjährigen vom Stillen mit Beikost zur normalen Ernährung, nicht nur beriet ich Sportler in Fitnessstudios, vor allem aber klärte ich Herz- und Herzinfarktpatienten darüber auf, was sie sich und ihrem Körper alles angetan hatten. Teil meiner Aufgabe war dabei nicht nur, eine Sensibilität für Qualität und Quantität von Lebensmitteln zu schaffen, sondern auch ein Gefühl für gesunde Lebensführung zu wecken, die aus dem harmonischen Dreiklang Ernährung, Bewegung, Entspannung besteht. Während Essen keinem Patienten schwer zu fallen schien, gab es beim Sport doch einige psychische und physische Hindernisse. Entspannung dagegen? Ein Fremdwort.

Entspannung gilt nicht viel in einer Leistungsgesellschaft. Entsprechend haben die Unentspannten für sowas keine Zeit. Hier ein Meeting, da ein Termin, Pausen sind für Luschen und selbst auf dem Klo kann man noch schnell eine Whatsapp-Nachricht schreiben. Und selbst bei jenen, die Entspannung betreiben, scheint sie oft auch kompetitiven Charakter zu haben, so sehr brüsten sich viele Entspannte mit ihren Fortschritten bei Pilates, Yoga und Tai Chi.
Dabei ist richtige Entspannung nicht nur hochgradig egozentrisch in ihrer Wettbewerbsverweigerung, sondern auch essentiell für Körper und Geist. Wir brauchen Ruhephasen, um uns zu erholen, um Kraft zu schöpfen für neue Aufgaben. Oder wie ich es gerne den arbeitswütigen Patienten mit auf den Weg gegeben habe: nur wer loslassen kann, kann auch zupacken.

Warum aber schreibe ich das? Weil der schlechteste Patient der Arzt ist. Seit Wochen oder seit Monaten, vielleicht und wahrscheinlich sogar seit Jahren gönne ich mir keine richtige Pause. Ständig muss ich denken, ständig schwanke ich zwischen Input und Output. Wenn ich nicht lese oder schreibe, sondern beispielsweise staubsauge (was so selten passiert, dass ich es eigentlich angemessen zelebrieren und genießen müsste), höre ich parallel ein Hörbuch oder einen Podcast. Beim Autofahren, in Konzerten, bei Spaziergängen springt mein hyperaktives Gehirn von einer Assoziation zur nächsten, gebiert Ideen im Sekundentakt. Ich kann nachts nicht einschlafen, weil ich in Gedanken Dinge entwerfe, die niemals gebaut werden können, denn wer sollte das tun? Ich habe dafür keine Zeit. Keine sieben Stunden später sitze ich schon wieder am Schreibtisch.

Ich habe, das bemerke ich langsam, ein Problem. Ich kann mich kaum noch konzentrieren, dass ich diesen Text geschrieben habe, ohne dazwischen dreimal aufzustehen, grenzt an ein Wunder. Doch selbst während des Schreibens driften meine Gedanken ab, verlieren sich in Erinnerung und Planung, in Angst und Hoffnung. Die Selbstzensur hindere mich, schrieb ich am Freitag. Es ist immer noch wahr. Könnte ich mich genug konzentrieren, ich müsste nicht an die Angst denken, gäbe der Zensur keinen Raum.
Das, was ich den von ihren Herzen Ausgebremsten gesagt habe, gilt auch für mich: ich muss lernen, nichts zu tun. Dinge geschehen zu lassen. Ich bin zwischen all meinen Projekten so ausgebrannt, dass ich kaum noch Kraft habe, sie zu beenden, geschweige denn für einen weiteren Schritt. Natürlich komme ich also auch nicht voran. Was also tun? Nichts, wirklich einmal nichts.

Ich kann das nicht. Ich versuche es. Selbst hier, im Nichtstun entdecke ich plötzlich etwas Leistbares, das ich aber gleichzeitig nicht leisten kann.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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