Hallo Wahl | ANDERSWOLF

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Hallo Wahl

Von der Front
September 17, 2013

Ursprünglich sollte der Text so beginnen: “Ich bin konservativ.” Tatsächlich bin ich aber wohl einfach nur ein bisschen spießig, koche Marmelade und backe Torten, mag höfliche Menschen, habe hübsche Vorhänge und bin ein verkappter Hauswart, wenn es um Fahrräder im Hausflur oder ungetrennten Müll geht. Wahrscheinlich bin ich nicht wirklich konservativ, denn heute konservativ sein heißt offensichtlich, populistische Klientelpolitik zu machen, veraltete Rollen- und Familienbilder zu vertreten, den energetischen Strukturwandel Deutschlands zu verstolpern, die Weiterentwicklung Europas zu verlangsamen, vor allem aber so satt von den Früchten der vergangenen Ernte zu sein, dass man vergisst, die Saat für das nächste Wachstum auszubringen. Konservativ sein heißt nicht mehr: “Spare in der Zeit, dann hast Du in der Not.”

Deutschland geht es subjektiv und im Durchschnitt gut. Vielen Menschen geht es gut, einigen, das sagt selbst die Kanzlerin, die ja sonst lieber andere für sich sprechen lässt, geht es sogar besser als vor vier oder acht Jahren. Dass es vielen Menschen auch schlechter geht, das sagt sie nicht. Ihre Sprechpuppen verweisen, angesprochen auf die Überbelastung gerade unterer Einkommensgruppen, immer noch auf die Schröder-Regierung, die Schuld an der Misere dieser Menschen trage. Dass dazwischen zwei unionsgeführte Legislaturperioden liegen, zählt nicht. Manchmal scheint es, die Kanzlerin habe Ungerechtigkeiten, die unter Rot-Grün entstanden sind, als Drohkulisse aufrechterhalten, um zu suggerieren: mit Mutti wär das nicht passiert.

Tatsächlich dürfte das stimmen. In Zeiten, da unfundierten Annahmen Relevanz beigemessen wird wie dem Säure-Basen-Haushalt oder gefühlten Temperaturen, ist es recht und billig zu behaupten: Die Kanzlerin hat nicht regiert, nur reagiert. Das wäre in der Agenda-Zeit wahrscheinlich nicht anders gewesen. Ihre Politik der kleinen Schritte, die man anfangs noch als vorsichtiges Navigieren im Nebel interpretieren konnte, verkam immer mehr zum Trippeln eines Parkinson-Kranken. Und nicht nur medizinisch Interessierte wissen, was am Ende dieser furchtbaren Krankheit steht: Bewegungsunfähigkeit.
Aber ich will Angela Merkel gar nicht vorwerfen, dass sie den Riesen, zu dem Deutschland geworden ist, nicht mehr vorwärtsbewegen kann. Die Zeit, in der sie Kanzlerin geworden und geblieben ist, ist keine leichte. Die Menschen in Deutschland und Europa wünschen sich Stabilität und Sicherheit. Dass dabei natürlich auch sicherheitspolitische Exzesse und gesellschaftliche Betonage vorkommen, ist im Grunde erwartbar. Und von außen betrachtet ist es natürlich leicht zu sagen: “Diese visionslose Frau muss weg.”

Ob es einer der Herausforderer besser machen kann, weiß ich nicht. Ich ahne allerdings, dass irgendwer irgendwas machen muss. Das kann vielleicht auch Frau Merkel sein. Wenn sie denn mal will, denn aus ihrer Sicht muss sie ja nicht: Deutschland steht wirtschaftlich auf den ersten Blick gut da. Die Steuereinnahmen sprudeln angeblich wie blöd. Der Riese Deutschland zieht die gesamte Euro-Zone mit, wohin auch immer. Wahrscheinlich steigt sogar die Geburtenrate wieder, ein Blick in mein näheres Umfeld legt diesen Schluss zumindest nah.

Der schlimmste Feind des Erfolgs allerdings ist der Erfolg. Man tendiert dazu, sich auszuruhen nach den Strapazen, man hat sich ja eine Pause verdient. Dummerweise ist das genauso verführerisch wie falsch. Das Bergsteigen lehrt: wenn Du einen Gipfel erreicht hast, musst Du entweder oben verhungern oder aber wieder absteigen und Dir einen neuen Berg suchen. Es gibt kein Ende der Anstrengung, keine Pause. Deutschland aber sitzt seit vier Jahren rum und sieht dem Rest von Europa beim Untergang zu. Als ob der wachsende Höhenunterschied zu den Nachbarn allein schon als Aufstieg gälte.

Es ist Zeit, endlich etwas zu tun. Wenn wir momentan das Geld dazu haben, umso besser. Jetzt muss investiert werden in die Zukunft Deutschlands, der übliche Dreiklang drängt sich auf: Bildung, Infrastruktur, Energiepolitik. Man muss aber noch nicht mal lange suchen, um weitere Felder zu finden. Der Föderalismus könnte mal dringend reformiert werden, das unsinnige Ehegattensplitting, das zynische Betreuungsgeld, die Vielzahl an absurden Subventionen und Steuererleichterungen könnten alle dazu herangezogen werden, um allen Kindern eine kostenlose Ausbildung von der Kita bis zur Uni zu ermöglichen. Europa ist eine offene Wunde, die politische Union aus nationalpopulistischen Gründen zu verzögern fühlt sich an wie Verrat an den Traumatisierten zweier Kriege. Dem immer deutlicher zutage tretenden Gesellschaftsversagen muss begegnet, die systematische Dämonisierung und Demoralisierung Arbeitsloser durch gezielte Förderung ersetzt werden. Soziale Berufe brauchen bessere Entlohnung, überhaupt könnte mal eine Debatte angestoßen werden über Werte in diesem Land und darüber, welche Leistung warum wie bezahlt wird.

In Gesprächen komme ich, das ist derzeit ja nicht überraschend, gerne darauf zu sprechen, dass ja bald Wahl ist. Ab und an treffe ich auf Nichtwähler. Also nicht Menschen, die noch überlegen, was und wen sie wählen, sondern Menschen, die allen Ernstes sagen: “Ich gehe nicht wählen.” Auf die Frage nach dem Warum kommen dann Dinge wie Politikverdrossenheit oder allgemeiner gesellschaftlicher Frust zur Sprache: “Es ändert sich ja doch nichts.”
Mit dieser Einstellung ganz sicher nicht.

Das Schöne an der Demokratie ist ja, dass jeder sich einbringen darf. Das weniger Schöne ist, dass es irgendwie auch jeder muss. Demokratie heißt im Wesentlichen ja Herrschaft des Volkes, und selbst wenn wir eine repräsentative Demokratie haben, wir also Stellvertreter wählen, die für uns und über uns entscheiden, heißt das ja nicht, dass das Volk aus seiner Verantwortung entlassen ist, sich selbst zu regieren. Im Gegenteil wählen wir uns ja keine Tyrannen, sondern Bürger, gegen die wir im Zweifelsfall auch aufbegehren dürfen, wenn sie uns einen unsinnigen Durchgangsbahnhof unter eine Provinzhauptstadt setzen wollen oder den größten nachrichtendienstlichen Skandal seit der Gründung des BND durch NS-Relikte mit zwei mageren Sätzen als beendet erklären.

Wenn mir dann also jemand sagt, er gehe nicht wählen, weil alle Politiker verlogene Karrieristen seien, werde ich einigermaßen ungehalten. Nicht weil die charakterliche Beschreibung des Berufspolitikers mich echauffierte, das mag oder mag nicht zutreffen. Nein, ich rege mich auf, weil der Mensch vor mir offensichtlich nicht verstanden hat, worum es bei Wahlen geht: der Souverän entscheidet über seine Zukunft. Das Volk, dem alle Wähler (und irgendwie wohl auch Nichtwähler) angehören, entscheidet sich für einen Weg. Dass bei 80,5 Millionen Menschen Uneinigkeit über die Richtung herrscht, ist klar, deswegen wird ja abgestimmt.
Diese Uneinigkeit beruhigt mich ein bisschen, denn es beugt dem Anschein vor, die gegenwärtige Politik sei so alternativlos wie von der Kanzlerin suggeriert. Auf andere jedoch kann es beängstigend wirken oder überfordernd, wenn sie mit 38 Parteien konfrontiert werden, die sich vielleicht nur in Nuancen unterscheiden, die man aber in den 500 Seiten starken Wahlprogrammen erst mal mühsam suchen muss.

Man darf den Parteien das durchaus vorhalten, wie man ja der politischen Kaste allgemein vorwerfen kann, dass sie Unverständlichkeiten produziert. Und zwar sowohl in ihren Wünschen als auch ihren Werken. Der Bürger wird von der Politik im Unklaren darüber gehalten, wie Entscheidungen getroffen werden, komplexe Konstrukte wie der ESM werden gar nicht erst versuchsweise erklärt. Man erspart es dem dummen Bürger, der ja schon mit der Auswahl des richtigen Handytarifs überfordert ist und ohne Lebensmittelampel kein gesundes Produkt mehr findet. Oder anders und vielleicht treffender: die Politik erspart sich den dummen Bürger.

Das Drama des aktuellen Wahlkampfes ist, dass noch nie vorher in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sich Wähler und Gewählte weiter voneinander entfernt haben. Das ist ebenso traurig wie beschämend für alle Beteiligten. Doch statt auf das von allen Seiten Erkannte zu reagieren, stehen die Nasen der zur Wahl zugelassenen Parteien wieder in der Fußgängerzone und verteilen Luftballons und Kugelschreiber, als läge die parlamentarische Demokratie nicht gerade auf der Intensivstation. Oder noch schlimmer: sie kommen zum Hausbesuch, um arglosen Menschen Kuhlen ins Sofa zu sitzen. Eine für alle unangenehme Situation.

Ich gebe zu: die Bilanzen der etablierten Parteien sind alle recht mager, zumal eine neutrale Bewertung schwierig bis unmöglich ist. Wirtschaftszahlen sind statistikanfällig, gesellschaftspolitische Pläne so wenig nachvollziehbar wie mein Traum vom Bad im Eierbecher. Demokratische Politik ist konstruktionsbedingt durch Kompromisse verwässert, insofern kann man auch da nicht sagen, welche Wahl die richtige und welche Partei die rechthabende ist. Man kann höchstens versuchen, allzu auffällige Populismen und gefährliche Forderungen sowie gesellschaftliche Anachronismen als Ausschlusskriterien zu benutzen. Forderungen nach einem Austritt aus dem Euro oder einer Maut für Ausländer oder einer Ungleichbehandlung Homosexueller vor dem Gesetz zum Beispiel.

Ich würde mich immer noch gerne als konservativ bezeichnen. Konservativ in einem Sinn, der mich Vorhänge und gerahmte Bilder schön finden und auf gesellschaftliche Stabilität und Achtung universeller Werte hoffen lässt. Ich mag mein kleines spießiges Leben mit Blumen auf dem Balkon.
Trotzdem würde ich gerne sehen, dass wir endlich mal ein tragfähiges Konzept für die nachhaltige Entwicklung unseres Landes und ganz Europas finden. Eines, das über die nächsten vier Jahre und den Karrierehorizont einiger Spitzenpolitiker hinausgeht. Mir wäre auch ein bisschen mehr Transparenz und Ehrlichkeit willkommen. Nicht nur in der Politik, sondern vielleicht auch mal ganz allgemein in öffentlichen Debatten. Ich fände es ganz schön, wenn man mal über Lobbygruppen sprechen würde oder über Waffenexporte oder darüber, dass der Kampf gegen den Terrorismus nur gewonnen werden kann, indem man ihn verliert. Ich fände mal toll, wenn die Bundesländer sich nicht gegenseitig zugrunde richteten, sondern zusammen an einer Reform arbeiteten, die auch dazu führen darf, dass sie weniger wichtig werden. Ich fände ein bisschen weniger Ego in der Politik ganz gut und deutlich mehr Inhalt erstrebenswert.
Vor allem aber fände ich es gut, wenn wir alle uns deutlich weniger beschwerten und endlich mal was täten. Wählen gehen für den Anfang, damit, wer auch immer nach dem 22. September regiert, weiß, wie der Souverän eigentlich regiert werden will. Denn vielleicht ist ja auch die historisch niedrige Wahlbeteiligung 2009 ein Grund für das Zaudern der Bundeskanzlerin, weil sie nicht wusste, ob ein wahlmüdes Volk überhaupt regiert werden möchte. Dieses Jahr muss das anders werden. Jeder, der darf, sollte sagen: “Ich will regiert werden, weise, nachhaltig, verantwortungsbewusst. Ich gebe meine Stimme ab, damit jemand für mich spricht.”

Und wenn die nächste Regierung wieder so ein arbeitsverweigernder Haufen wird, werde ich selbst Politiker werden müssen.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
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