40 | Das Ende | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

40 | Das Ende

Yelda
Dezember 6, 2010

Die Energie aller Welten erstarb und für einen endlos scheinenden Augenblick stand alle Bewegung still. Ich sah mich selbst und die drei Jenseitigen verbunden durch einen irrlichternden Strom aus Kraft, der gefroren war in der Zeit, ein Strom, der aus der jenseitigen Welt selbst stammte und durch meinen Körper brach und sich verzweigend Saphir, Rubin und Korund an mich band, uns vier zu einer Einheit machte, aber auch durch ihre Körper hindurchfloss bis zu den nahen Ausläufern der Dunkelheit, wo sie in silbriger Gischt ineinander übergingen.
Und dann endete dieser Moment und die Zeit kehrte mit einem Schlag zurück, die Drei wurden von dem Strom mitgerissen in die Dunkelheit, die ihrerseits höher und weiter anstieg und sich wie eine Springflut über uns erhob und uns und den Riss in der Wirklichkeit unter sich begrub. Ich nahm nichts mehr wahr außer der Gewissheit, dass ich noch etwas wahrnahm, dass ich doch nicht verschwunden war in dem Aufeinanderprallen der Welten, doch fühlte ich auch, dass die Drei immer noch mit mir verbunden waren, dass sie immer noch in dieser Welt waren, die weder dies- noch jenseits war. Wir waren in einem Raum dazwischen, der überall und nirgends war.

Und dann schwand das Dunkel. Als die Flut sich zurückzog, brachte sich mein Bewusstsein zurück ans Licht des Tages und ich sah, dass die Stadt Tharb nicht mehr existierte. Ich kniete auf Gras vor einem Baum, und hinter dem Baum stand ein Turm aus weißem Stein, der in der zurückkehrenden Helligkeit und vor dem zurückweichenden Schatten zu gleißen schien. Ich stand auf und sah mich um, betrachtete den grünen Hügel, auf dem außer dem Turm neben dem Baum noch zwei weitere weiße Türme standen, die sich dem Himmel entgegenstreckten wie Arme, die den Himmel stützen wollen.
Keine zehn Schritte von mir entfernt sah ich drei menschliche Gestalten, und noch ein Stück weiter weg eine weitere Gruppe. Ich ging zu den Dreien, von denen ich wusste, es handelte sich um Saphir, Rubin und Korund. Wie ich trugen auch sie keine Kleidung mehr, sie waren wie ich nicht viel mehr als ihre Körper. Ich wusste es, bevor ich es spürte: dass die Welle abgeebbt war, dass sie unsere Kraft mit sich davon getragen hatte. Wir waren weder sterblich noch unsterblich, wir waren reine Existenz.

„Was ist geschehen?“ fragte Eine.
„Was ist dieser Ort?“ fragte Eine.
„Wer bin ich?“ fragte Einer.
„Ihr seid an einem sicheren Ort.“
„Wer bist Du?“
„Ich bin Yelda. Dies ist Tharb oder war es. Ein Schatten kam und ging.“
Sie sahen mich stumm an. Eine setzte sich wieder ins Gras und blickte in den blauen Himmel. Einer ging zum Baum und legte seine Hand auf den Stamm, schweigend, die Augen geschlossen. Die Dritte sah mir nach, als ich zu der zweiten Gruppe ging. Es waren die Männer und Frauen, die ich im Tempel der Stillen Götter beim Plündern gestört hatte. Sie waren zu sechst und sie sprachen schnell und leise miteinander. Sie waren nicht nackt wie ich und die Drei, sondern trugen die gleiche schmutzige Kleidung, die sie getragen hatten, bevor das Dunkel gekommen und gegangen war.

Sie gingen. Sie verließen die Stadt, denn es gab dort nichts mehr für sie. Alles war fort, die Türme waren nur hohle Felsnadeln, die den Boden durchbrochen hatten. Es gab nichts mehr außer Gras, den Türmen und uns fünf. Ja, fünf, denn Remde war ebenfalls noch hier. Er war in den Buchturm geflohen, als die Flut kam, und er hatte als einziges seine Kraft behalten. Doch er konnte mit ihr nichts anderes anfangen als Trugbilder zu erschaffen. Er verbrachte Tage und Nächte und Wochen und Monate in den Türmen, während Rubin, Saphir und Korund über das Gras schritten und in die Luft starrten. Denn von allem, was vorher war, hatten sie keine Erinnerung mehr. Sie wussten nicht mehr, was geschehen war, sie hatten vergessen, wer sie vor dem Dunkel gewesen waren. Sie hatten sich so sehr verloren, wie ich gewesen war, als ich das erste Mal erwachte. Später zogen sie sich in den einstigen Turm der Folterer zurück, der keine Spuren mehr vom Blut der Misshandelten und Geschändeten trug, sondern so rein und gleißend war wie der Buchturm und der Turm an der Mauer. Ich lebte im Buchturm und sah in die Ebene, die sich mit der Zeit mehr und mehr wandelte. Denn alle Magie, die wir fünf gerufen hatten, war nicht etwa verebbt, sie war über das Land um Tharb gezogen und hatte alles verändert: Bäume standen nicht mehr still, sondern wanderten durch die Ebene, fliehende Schatten und flüsterndes Licht durchzogen die magisch belebte Landschaft. Wesen, die weder ganz von dieser, noch von jener Welt waren, lebten in Eintracht mit farbwechselnden Pferden und haushohen Hummeln.
Oft suchte ich nach Spuren der Welt vor dem Schatten, doch außer dem Fluss und den langsam verfallenden Häusern der Äußeren Stadt von Tharb war nichts mehr zu erkennen. Die Menschen waren geflohen und fort, vielleicht hatte sie auch der Schatten oder die Magie berührt und verändert. Der Zauber wirkte auch fort, denn selbst wie ein Tier zog er durch die Ebene und veränderte immer wieder alles, was er berührte. Ich spürte, das war das einzige, was von meiner Kraft geblieben war, das Lauern der Kraft in der Erde und spürte, dass diese Kraft immer noch und viel mehr als zuvor die Erde durchzog, dass sie in allem wohnte, und alles, mit dem sie verbunden war, befähigte, sich ihrer zu bedienen. Und so formte sich die Welt neu und immer wieder neu um den Felsen von Tharb, der über Jahrhunderte so blieb, wie ich ihn erschaffen hatte: als grünen Hügel mit drei Weißen Türmen, die sich in die Höhe streckten wie Arme, die den Himmel stützten.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
mit Erkenntnisgewinn.
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