Die Liebeskinder und der Sturm | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Die Liebeskinder und der Sturm

Von der Front
November 3, 2011

Neuerdings lenke ich jedes Gespräch, das ich führe, auf den gesellschaftlichen Umbruch, den ich erwarte. Das trägt manchmal seltsame Blüten: beim Haareschneiden regt sich die Friseurin darüber auf, dass so viel deutsches Geld in den griechischen Orkus gepumpt wird. Nicht zuletzt aus Sorge um meine Ohren erwidere ich, unsere gesellschaftliche Fixierung auf Geld könne sowieso mal ein Make-Over vertragen. Da hört sie auf zu schneiden, schaut mich an mit diesem Blick, den ich auch manchmal habe, wenn ich einen halben Scherz mache und sich nachher alle fragen: meint der das ernst? Sie hat also den Kopf leicht schräg gelegt und die Augen ein bisschen verengt und sagt: Hast ja recht, die Welt geht ja eh bald unter, also schon 2011, nicht erst 2012.
Und dann, bevor ich verdaut habe, dass die junge Frau, die mir heute so schnell die Haare schneidet, als müsse sie, um sich selbst vor der Verdammnis retten, so viele Köpfe frisieren wie alle ihre Kolleginnen zusammen; dass also diese junge Frau wirklich an so etwas wie eine Apokalypse, vor allem an eine baldige, glaubt; bevor ich das also verdaut habe und eine schlagfertige Antwort darauf habe, gehen an den Frisierplätzen rechts und links von uns die Föns an, fast zeitgleich und so laut, dass man schreien müsste, um sich noch zu unterhalten. Schreien will ich aber nicht, nicht von Weltuntergängen, nicht beim Friseur, denn genau, wenn ich dann etwas selbst für mich absonderliches mitteilen wollte, gingen die Windmaschinen aus und ich brüllte in die plötzlich eintretende Stille. Das will ich nicht, also schweige ich und warte auf das Ende des Sturms.

Bedenklich ist die Zeit aber doch, in der wir leben. Kein Kompass zeigt mehr nach Norden, unsere Anführer haben den Weg verloren, sie zaudern vor jedem einzelnen Schritt. Der Markt, dieses außer Kontrolle geratene Monster, das Besitz von den Seelen der Menschen ergreift und sie kalt werden lässt in den Herzen, bestimmt den Gang der Politik fort von der Gesellschaft, legt die Saat für Misstrauen und Neid, schürt Angst vor jenen, die sich selbst ängstigen, weil sie alleine gelassen werden. Europa, das große Europa, steht am Scheideweg und keine Richtung scheint mehr richtig. Bald, denke ich, ist die Zeit, da wir, das Volk, uns wirklich entscheiden wollen, ob wir das Miteinander wollen, das Zueinanderstehen auch in den schwierigen, dunklen Zeiten, oder ob wir zurück wollen in die Zeit der Konkurrenz, des Misstrauens, der Missgunst. Es ist nicht weniger als die Entscheidung zwischen Frieden und Unfrieden, im schlimmsten Fall der Weg zum Krieg.
Meine Generation kennt den Krieg nicht mehr, wir sind Friedenskinder, Wohlstandskinder, Liebeskinder. So unterschiedlich unsere Geschichten auch sind, wir alle haben nicht den Hunger und die Angst, den Hass und die Verzweiflung des Krieges gespürt, keiner von uns hat in den Abgrund gesehen, der in den Menschen lauert, der Morden heißt und Überleben dessen mit den geringeren Skrupeln. Wir haben zwar gelernt, dass auch Deutschland im Krieg steht, doch das ist ein fernes Wort, ferner als Griechenland oder der Nahe Osten, ferner als der Arabische Frühling, in dem normale Menschen erst zu Widerständlern, dann zu Revolutionären, dann zu Freiheitskämpfern wurden und letztlich dazu, wovon sie sich befreien wollten: Mördern.

Manchmal denke ich, die Occupy-Bewegung ist gut, denn sie ist friedlich und sie überschreitet gedankliche wie nationale Grenzen, und dann wieder adressiert sie doch die Falschen, denn jene Männer und Frauen, die in den Banktürmen mit irrealen Geldsummen hantieren, machen ja auch nur ihren Job und blenden aus, dass ihre Entscheidungen Menschen das Leben kosten können, so lange es nur nicht das eigene ist; denn die Menschenleben, die verloren gehen, sind noch weniger sichtbar als das Geld, das zur Waffe werden kann. Der Markt hat auch ihre Seelen ergriffen, die Angst vor jedwedem Abstieg ihre Herzen, und sie betäuben ihr Gewissen mit hochdosiertem Luxus weit jeder Genussschwelle. Sie sind die ersten Opfer eines Schattens, der auf die Gesellschaft, auf die Gemeinschaft gefallen ist, der Schneisen aus Schlaglicht zwischen die Menschen schlägt und sie schwarz oder weiß sein lässt und nicht mehr Mitmensch, Mitbürger, Freund.
Wir, die Liebeskinder, haben plötzlich Feindbilder, wir haben die Anderen, die Fremden, jene, die nicht unseren emotionalen, unseren finanziellen, unseren sozialen Status teilen, wir grenzen uns ab von jenen, denen wir unsere Liebe nicht schenken wollen, denen wir unser Mitgefühl vorbehalten wollen. Daran werden wir zerbrechen und unsere Seelen der Kälte ausliefern und unsere Heimat zerstören, unser Europa. Vielleicht aber ist diese Krise, wie jeder Scheitelpunkt auch eine Chance: Was, wenn wir uns entschieden, ehrlich zu sein zu uns selbst, zu einander, dass wir alleine nicht gegen die Gier, die uns zerstört, ankommen können, nicht gegen unseren Neid, der uns von den Anderen abgrenzt, nicht gegen den Zorn, der uns von uns selbst entfernt. Was, wenn wir zugäben, dass wir einander brauchen, um zu überleben?

Und dann lässt der Sturm nach, meine Friseurin erklärt, eine Freundin habe ihr das mit dem Weltuntergang neulich berichtet, unfassbar sei das, dass die Freundin so einen Unsinn tatsächlich glaube. Ja, unfassbar sei das, sage ich und begucke meinen Hinterkopf in dem Spiegel, den die Friseurin mir hinhält.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
mit Erkenntnisgewinn.
Impressum

Und nein,
ich will Eure Cookies nicht.
Datenschutzerklärung

Anderswann