4 | Wer bist du? | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

4 | Wer bist du?

Yelda
November 3, 2010

Irgendwann konnte ich nicht weiter weinen. Die Verzweiflung, die so übergroß gewesen war, hatten meine Tränen aus mir herausgespült, und in mir zwar die Einsamkeit gelassen, aber unter aller Hoffnungslosigkeit doch das Bewusstsein, dass ich nicht alleine war, sondern immer noch den Strom des Lebens hatte, der mich hierher geleitet hatte, der mich auch weiter führen konnte, und der mir vor allem vor Augen führte, dass ich zugehörig war, ein Teil von etwas größerem war. Und ich erinnerte mich wieder an die Hummel, die ich verletzt und geheilt hatte, und wie sehr ich damals die Kraft des Lebens auch in mir gespürt hatte, und dass ich nicht so abgeschnitten von allem war, dass ich verzweifeln musste.
Ich würde meine Bäume wiederfinden, das wusste ich nun, auch wenn es Zeit brauchen würde.

Das Rascheln von Farn, das Flüstern von Blättern, das Brechen von Zweigen riss mich aus meinen Gedanken. Etwas kam auf mich zu. Nichts kleines, mindestens ein Pferd oder Hirsch, den Geräuschen nach zu urteilen. Kein kleineres Tier hätte sich so laut zwischen den Bäumen bewegt, viel zu leicht hätte es Aufmerksamkeit erregt. Es musste ein Tier sein, das keine Angst hatte, das keine Angst haben musste. Es musste riesig sein.
Umso überraschter war ich, als ich erkannte, dass das Wesen, das sich mir näherte, nicht nur nicht größer war als ich, sondern sogar etwas kleiner. Noch dazu erinnerte es mich an kein Tier, das ich bisher gesehen hatte, die alle auf vier Beinen gelaufen waren und nicht nur auf zweien. So also, ging mir plötzlich auf, sehe also ich aus, denn nicht anders konnte dieses Wesen sein als mir ähnlich: auf zwei Beinen gehend, aufgerichtet und freie Arme habend, den Kopf erhoben. Ich hatte noch nie darüber nachgedacht, wie ich aussah, wie anders ich im Unterschied zu allen anderen Tieren war, und wunderte mich nun, dass ich diesen Gedanken noch nicht gehabt hatte, aber auch darüber, dass alle anderen Tiere diesen Unterschied nicht gespürt hatten oder ob sie nur so freundlich gewesen waren, ihn zu ignorieren.

Das Wesen war stehengeblieben, als es mich gesehen hatte und betrachtete mich ebenso genau wie ich es. Es hatte seinen Körper teilweise verhüllt, was mich nicht verwunderte. So ungeschickt sich dieses Tier durch den Wald bewegte, diente die Verhüllung wahrscheinlich als Schutz vor Verletzungen durch abgebrochene Zweige, schlagende Äste oder Prellungen. Ich überlegte, ob die Hülle auch dazu führte, dass man sich vom Lebensstrom so sehr abschnitt, dass einem die Verletzungen der Pflanzen egal waren, als das Tier sprach.

„Wer bist Du?“
Ich war so sehr überrascht, dass das Wesen Worte benutzte wie ich, dass ich nicht antwortete.
„Verstehst Du mich?“
„Ja. Bist Du einer der vier?“
„Vier? Ich verstehe nicht. Wer bist Du?“
„Hast Du mich gesucht?“
„Ich habe Dich gefunden, nicht gesucht. Bist Du allein?“
„Ich bin nicht, wo ich sein sollte. Ich suche meine Familie?“
„Du hast Dich also verirrt? Wo lebst Du?“
„Hier.“
„Hier?“
„Auch Du, die Bäume, der Farn, alles, was wir sehen, lebt hier.“
„Nein, ich lebe im Dorf auf der Lichtung am See.“
„Aber ich fühle Dich leben, ich sehe dich leben. Du lebst hier, nicht anderswo.“
Das Wesen antwortete nicht, sondern sah mich nur an. Vielleicht hatte es mich nicht verstanden.
„Kennst Du Hüterin und Regentrinker, Sämling und Späher?“
„Nein. Diese Namen kenne ich nicht.“ Die Erleichterung darüber, dass wir über etwas sprachen, das es verstand, war dem Wesen direkt anzusehen.
„Sie sind meine Familie. Ich suche sie.“
„Wieso bist Du nackt?“
„Nackt?“
„Warum trägst Du keine Kleidung?“
Ich sah auf meine Hände, dann auf seine, die wie meine leer waren. „Ich trage nichts. Du aber auch nicht.“
Er zeigte auf die Verhüllung. „Kleidung. Das ist eine Hose.“ Er zeigte auf seine Beine, dann auf seinen Oberkörper. „Das ist ein Hemd.“
„Aber ich brauche das nicht, ich bin nicht so ungeschickt.“
„Wieso ungeschickt?“
„Du bewegst Dich durch den Wald wie ein Tier, das zweimal Deine Größe hat. Du hast diese Kleidung, damit Du Dich nicht dabei verletzt.“
„Genug jetzt.“ Er legte seine Hände an seinem Hals auf seine Hemd und zog es dann über seinen Kopf. Seine Haut war da, wo sie bedeckt gewesen war, heller als an seinen Armen und in seinem Gesicht. „Komm her“, sagte er, das Hemd in der Hand.
Ich ging die vier Schritte zu ihm, während er mich betrachtete. Ich konnte den Ausdruck in seinem Gesicht nicht deuten, darum betrachtete ich weiter seinen Oberkörper. Offensichtlich war sein Körper nicht immer bedeckt gewesen, denn eine Narbe in der Mitte seiner Brust zeugte von einer alten Verletzung. Je näher ich ihm kam, desto deutlicher wurde mir klar, dass er sich unwohl fühlen musste, seine Finger fassten das Hemd fester und sein ganzer Körper spannte sich an. Als ich vor ihm stand, sah ich, dass ich einen ganzen Kopf größer war als er. Und dann war mir die Ursache seiner Anspannung klar und sagte: „Du musst keine Angst haben. Ich werde Dich nicht verletzen.“ Doch dann erinnerte ich mich wieder an die Hummel, und dass ich sie auch nicht hatte verletzen wollen, es aber dann doch getan hatte.
„Ich habe keine Angst“, sagte er, doch sein Atem verriet seine Anspannung.  „Knie dich hin.“
Als ich kniete, streifte er mir das Hemd über den Kopf. „Du musst die Arme hier hindurch stecken.“ Als ich das getan hatte, zog er die Verhüllung nach unten, so dass sie mir gerade bis an die Beine reichte. „Steh auf. Folge mir.“
Er drehte sich um und ging zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Ich folgte ihm, unter diesen fremden Bäumen hielt mich nichts.
„Wohin gehen wir?“ fragte ich nach einer Weile, die wir ohne Worte durch den Wald gegangen waren.
„In mein Dorf. Zu Mandu. Vielleicht kann sie Dir helfen.“
„Wer ist Mandu? Kennt sie Regentrinker?“
„Ich weiß es nicht. Aber wenn jemand in meinem Dorf jemals von Deinem Regentrinker gehört hat, dann Mandu.“
„Ist sie ein Baum?“ fragte ich, doch er antwortete nicht mehr, bis wir sein Dorf erreicht hatten.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
mit Erkenntnisgewinn.
Impressum

Und nein,
ich will Eure Cookies nicht.
Datenschutzerklärung

Anderswann