Die Verschiebung | ANDERSWOLF

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Die Verschiebung

Von der Front
November 7, 2022

Abgemahnt worden, Angst bekommen, davonlaufen wollen. Grüß Gott, das ist mein neues Muster: Eine wilde Konfrontation poppt auf, ich renne weg. Das meinte ich nicht, als ich von Fortschreitungen schrieb. 

In den letzten Wochen häuft sich das: Situationen des Diskomforts, nicht einfach nur des sich nicht Wohlfühlens, sondern der imminenten Panik, einhergehend mit kompletter Paralyse. Beim geringsten Anzeichen von Feindseligkeit, an- oder wahrgenommen, schaltet mein Körper in einen Fluchtmodus, den ich nur damit begrenzen kann, dass ich mich immer tiefer in mich zurückziehe. Ich weiß einfach nicht, was sonst zu tun. 

Mir ist nun, da diese Abmahnung mich in Versuchung geführt hat, das gesamte Internet zu löschen (siehste selbst: ist nicht passiert), das Musterhafte daran aufgefallen, das Automatische, das komplett und eben doch nicht uncharakteristische für mich. Für jetzt. Für diesen Moment, in dem ich mich befinde. 

Die Abmahnung an sich lehrt mich übrigens zweierlei: Erstens lassen sich Googlefonts auch lokal einbinden, da muss keine Verbindung zu Google aufgebaut werden, durch die sich dann jemand in Persönlichkeitsschutzrechten verletzt fühlen kann. Inwieweit sich daraus (also aus diesem Gefühl) legal Schadensersatzansprüche ableiten lassen (vor allem in der Masse an Abmahnungen, die selbst auf Laien rechtsmissbräuchlich wirken), kann bei cr online nachgelesen werden. 
Die wichtigere Erkenntnis, zweitens also, ist eine weitere Enttäuschung meines Menschenbilds. Ich bin nicht nur konfliktscheu, ich bin auch zu naiv offensichtlich. Obwohl mir jeden Tag erschütternde Nachrichten aus dem Fernseher ins Wohnzimmer fallen (zuletzt besonders horrend: amerikanische Wahlwerbespots, in denen Menschen ihre politische Kompetenz mit dem Tragen und Benutzen von Waffen zu unterstreichen versuchen), bin ich doch jedes Mal wieder aufs Neue enttäuscht oder entsetzt oder einfach nur baff, wie wenig mitmenschlich manche Menschen agieren. 

Und da rede ich noch nicht mal über das richtige Elend in der Welt (da komme ich gleich noch drauf), sondern über die ganz einfache Frage, was denn das Richtige, das Menschliche wäre. Was sollte ich ganz konkret tun, wenn ich feststelle, dass jemand Googlefonts auf einer Webseite einbindet, obwohl es doch viel besser (und vielleicht persönlichkeitsrechtschutzwahrend) wäre, das lokal zu tun? Sollte ich da eine strafbewehrte Abmahnung schicken oder einfach nur eine E-Mail mit einem Hinweis, dass das zu einer Strafe führen könnte, sollte sich eine Verletzung von Persönlichkeitsschutzrechten nachweisen lassen?

Natürlich würde ich eine Mail schreiben. Natürlich würde ich warnen, aber ich hebe ja auch Jacken vom Boden auf, die anderen Leuten vom Stuhl gerutscht sind, und hänge sie wieder über die Rückenlehne. Neulich habe ich trotz eingeklemmtem Rückennerv und der Angst, meinen Anschlusszug zu verpassen, einer Frau mit Kinderwagen beim Ausstieg geholfen. Zuletzt habe ich im Wartezimmer mit weniger Sitzplätzen als Wartenden zweimal meinen Stuhl weitergegeben und mich hingestellt, obwohl ich wegen einer Fußverletzung beim Arzt war; aber die jeweils andere Person schien einfach eines Sitzplatzes bedürftiger. 
Ich verstehe es einfach nicht, wie man anderen Menschen gegenüber missgünstig sein kann, wie man auf Kosten anderer Profit will, wie man die Ängste anderer Menschen schüren kann, um sie zu kontrollieren. Ich verstehe nicht, wie manche Menschen ihre Menschlichkeit aufgeben, um sich über andere Menschen zu erheben. 

Und mit "Ich verstehe es nicht" meine ich tatsächlich: ich verstehe es nicht. Mir fehlt das Verständnis dafür, wie skrupellos, wie misanthrop, wie sozial verwahrlost jemand sein muss, um anderen den eigenen Willen aufzuzwingen. Ich verstehe die Menschenverachtung Trumps nicht, die Machtbesoffenheit Xi Jinpings nicht, den Hass der Ajatollahs nicht und die ganz allgemeine Irrationalität Putins nicht. Ich habe Vermutungen, wieso diese Menschen so agieren, wie sie agieren, und weshalb sie keine Hemmungen haben, das Unglück Hunderter, Tausender, Hunderttausender nutzen, um sich persönlich zu bereichern, sei es nun mit Macht oder Geld. Und zwar nicht einfach in Kauf nehmen, wie Menschen, die sich jedes Jahr ein neues Handy besorgen, das Leid von Minenarbeitern oder Wanderarbeitern stillschweigend übergehen; sondern mit dem Blut ihrer Opfer ihre eigenen Lobeshymnen schreiben. 
Aber diese Vermutungen laufen meist auf einen recht einfachen und naiven Gedanken heraus: Sie wurden nicht geliebt und können nicht lieben. 

Was aber tun mit dieser vermutlich nicht besonders hilfreichen Erkenntnis? Was tun mit der Angst vor der nächsten Abmahnung? Oder wie überhaupt mit Konfrontationen umgehen? Das Blog dichtmachen? Das Muster befolgen? So tun, als wäre ich ein Opfer, als hätte ich nicht eben erst darüber geschrieben, dass ich kein Opfer mehr sein wollte? Erst recht nicht ein Opfer meiner selbst?

Ich könnte aufhören, weggehen statt einfach nur fortschreiten. Passend: meine Domain verlängert sich automatisch diesen Monat, um ein Jahr, wenn ich nicht kündige. Als wäre dies ein Zeichen. Als müsste ich mich nicht einmal selbst für oder gegen etwas entscheiden, die Umstände haben schon meinen Weg vorgezeichnet. 
Aber mein einer Tag auf twitter nach der Musk-Übernahme hat mir gezeigt: Wer den Diskurs verlässt, darf sich nicht darüber aufregen, wie er sich entwickelt. Wer die eigene Stimme nicht erhebt, darf sich nicht darüber wundern, nicht gehört zu werden. Und auch wenn mich kaum jemand liest (erst recht nicht die Menschen, die mich abgemahnt haben), so ist es doch wichtig, dass ich wenigstens um meiner selbst willen nicht aufhöre, meine Stimme zu erheben. 

Auf ein Neues also. 

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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