24 | Sobekan | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

24 | Sobekan

Yelda
November 23, 2010

Und dann ging alles ganz schnell. Antejar brachte uns bei einem alten Bekannten, der uns allerdings verriet. Antejar und ich wurden gefangen genommen, Bamae und Baneh allerdings konnten fliehen. Wäre dem nicht so gewesen, sie hätten Antejar unmöglich rechtzeitig befreien können. Ich hatte Glück im Unglück. Als „zauberisches Wesen“, wie es der Befehlshaber der Soldaten nannte, die uns in Gewahrsam nahmen, kam ich in einen Trakt der inneren Burg, wo bereits Menschen waren, die im Verdacht standen, Zauberei auszuüben. Tatsächlich waren dort lauter unbequeme Menschen untergebracht, die unter Folter beweisen sollten, was nicht möglich war: Zauber zu bewirken. Natürlich überlebte niemand diese Behandlung, wenn nur das Präsentieren einer Fähigkeit, die man nicht besaß, das eigene Leben hätte retten können.

Dass mein Gefängnis also ein Todestrakt war, erfuhr ich von Sobekan, der in der Zelle neben mir saß und noch nicht gefoltert worden war, weil er tatsächlich über eine gewisse Form von Zauber verfügte. Er konnte sich übersehen lassen. Diese Fähigkeit ging nicht soweit, dass er dank ihr hätte fliehen können, aber immerhin ersparte sie ihm die Folter lange genug, um mir helfen zu können. Denn Sobekan wusste, wie man seinen Geist hinter Wirklichkeit verankerte, er tat es, wie er sagte, unbewusst, wenn er nicht gesehen werden wollte, und doch konnte er mir sagen, was er fühlte, wie er die Kraftfäden sah, die an ihm hingen und die ihn überströmten, wenn er nicht gesehen werden wollte. So hatte er mich auch wahrgenommen, als ich noch im Hafen war, denn er hatte viel Zeit gehabt, den Kraftströmen zu folgen und sie zu beobachten und dabei hatte er bemerkt, „wie die Kraftströme sich an einem Punkt stauten, wie ein Fluss um einen Felsen fließt“. Später hatte er auch von einem Knoten gesprochen, dieses Bild aber nicht zutreffend genug gefunden, um es zu mögen.

Trotz der Aussicht auf seinen Tod war Sobekan ein erstaunlich wohlgelaunter Zellengenosse. er führte es auf die Verbundenheit aller Dinge zurück, doch tatsächlich glaube ich, dass er ein bisschen verrückt war. Ihn hätte diese Einschätzung wahrscheinlich nicht gestört, da er immer wieder selbst darauf hinwies, wie wenig sich seine Erfahrungen mit den Strömen von Kraft und Leben sich mit dem gesunden Menschenverstand vertrügen.

Als er mir sagte, wie er seine Kraft gefunden hatte und einen Weg, sich mit ihr zu verbinden, erkannte ich meine eigenen Versuche wieder und auch das, was mir Mandu und Ternu bezubringen versucht hatten, vor allem aber erkannte ich, was ich bislang immer als gegeben hingenommen hatte und nicht als meine Verbindung mit der Kraft an sich. Sobekan zeigte mir, dass ich nicht etwa ohne Verbindung zu den Strömen stand, sondern so sehr Kraft aufgestaut hatte, die keinen geordneten Fluss fand, dass ich mich natürlich nicht verankern konnte, da ich surch die Störungen der Kraft viel zu sehr abgelenkt wurde.
Ich fragte mich, warum mir meine bisherigen Lehrer das nicht hatten mitteilen können, bis mir auffiel, dass sie selbst es nicht hätten verstehen oder sehen können, da sie selbst so sehr Teil der Kraft waren, dass sie mich zwar wahrnehmen konnten, aber nicht meine eigene Präsenz in der jenseitigen Welt identifizieren konnten. Sobekan, der von außen auf die Kraft sah, war dies möglich, da er sich auch selbst in der Kraft widergespiegelt fand.
Er beschrieb meine Instanz als eine Masche in einem Netz, die man nur wahrnehmen konnte, fand man sich außerhalb des Netzes stehend war. Jemand, der wie Mandu und Terno Teil des Netzes waren, konnten mich nur finden, wenn ich an den Fäden des Gewebes riss. Ich musste sie rufen oder zu ihnen kommen, wollte ich sie wiedersehen. Im Fall von Terno war ich tatsächlich versucht, genau das zu tun.

Gleich nach meiner Ankunft im Todestrakt nahm Sobekan Kontakt zu mir auf.
„Du bist es!“ Die Stimme war sehr aufgeregt, gleichzeitig nah und weit weg. Sie war nicht gesprochen worden, und ich fühlte, dass es in der Gegenwart der Soldaten nicht ratsam schien, selbst zu sprechen. „Ich habe Dich beobachtet! Ich kann es nicht fassen, dass Du hier bist.“ Ich sah mich unauffällig um, doch außer den Soldaten, die mich begleitet hatten, sah ich niemanden, der mir noch Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Ich überlegte, ob derjenige, der sprach, meine Gedanken würde erkennen können.
„Ich kann Dich hören, wenn Du an mich gerichtet denkst, so wie Du mich hören kannst. Ich bin Sobekan. Bis Du kamst, dachte ich, ich würde hier sterben.“
Ich war irritiert, dachte aber: „Sobekan, ich bin Yelda. Musst Du jetzt nicht mehr sterben?“
Die Stimme lachte. „Natürlich muss ich immer noch sterben, vielleicht aber nicht hier. Erst durch Deine Ankunft hier habe ich Anlass zu glauben, dass ich das hier überlebe.“
„Ich bin gefangen genommen worden.“
„Aber sie wissen nicht, wen sie gefangen haben. Und sie werden es bereuen.“
„Was ist das hier?“
„Es ist die Strafe für Anderssein. Die Menschen draußen haben Angst vor dem, was sie nicht kennen oder verstehen. Sie können nicht mit den Menschen umgehen, die nicht sind wie sie. So wie sie auch nicht mit Dir umgehen können.“
„Weil ich anders bin.“
„Weil Du machtvoll bist.“
„Ich habe keine Macht.“
„Du hast mehr Macht als Du Dir zugestehen willst. Du hast Angst vor Deiner Macht.“
„Du hättest auch Angst vor Deiner Macht, wenn sie Zerstörung nach sich zöge. Terno sagte, ich sei nicht richtig mit der Wirklichkeit verbunden und zerstöre sie daher.“
„Wer immer Terno ist, ich denke er hat recht, denn es erklärt viel. Und doch hat er nicht wirklich recht, denn Du bist mit nichts wirklich verbunden. Ich spüre Dich als Masche in einem Netz, als Lücke zwischen zwei Bäumen, als den Himmel zwischen Wolken. Du bist da, aber man nimmt Dich nicht wahr als das, was Du bist, sondern nur als das, was sich Deinetwegen begrenzt.“
„Ich verstehe nicht, was Du sagst.“
„Du wirst es verstehen.“
„Das glaube ich nicht. Ich weiß kaum etwas über mich und über meine Kraft. Alles, was ich weiß, habe ich von anderen erfahren, und ich bin mir nie sicher, wie viel von dem, was jene mir sagten, tatsächlich stimmt.“
„Wer kann das schon wissen? Ich bin seit langem unsichtbar und doch sichtbar. Ich bin der Schatten meines Schattens. Ich weiß kaum noch, wie ich war, bevor ich Zugang zu meiner Kraft fand, und doch fühle ich, dass ich irgendwann einmal auch anders gewesen bin. Die Wirklichkeit ist das, was wir sehen wollen, was wir formen, was wir wünschen.“
„Warum bist Du dann noch hier?“
„Weil meine Wünsche nicht stark genug sind. Weil meine Wünsche keine Mauern versetzen, keine Tore öffnen können. Aber Du kannst das!“
„Nicht, ohne alles zu zerstören, was um mich ist. Terno wollte mich lehren, meine Kraft gefahrlos einzusetzen, doch er konnte mir nicht wirklich helfen. Vielleicht wollte er es auch nicht wirklich.“
„Was ist mit ihm geschehen?“
„Er ist verschwunden.“
„Warum bist Du ihm nicht gefolgt?“
„Er ist nicht gegangen, er ist einfach verschwunden. Seine Art kann das. Sie verlassen die Wirklichkeit und kehren in die Ströme von Kraft und Leben zurück.“
„Terno ist ein Jenseitiger?“
„Ich kenne das Wort nicht, doch nach dem, was er von seiner Art erzählt hat, dass sie der jenseitigen Welt entstammen und von dort nach hier wandern können, nehme ich an, dass man sie so nennen könnte.“
„Es gibt einige Legenden über sie. Viele sagen, dass sie von den Göttern selbst abstammen, aber …“
„Es gibt keine Götter, sagt Terno.“
„Genau! Er muss ein Jenseitiger sein!“
„Dann konnte ich ihm darum nicht folgen, denn ich bin nicht von seiner Art.“
„Du könntest es aber sein.“
„Wenn ich die Welt zerstöre?“
„So weit wollen wir mal nicht gleich gehen. Fürs Erste reicht es vielleicht, wenn Du Deine Kraft beherrschst, ohne Dinge mit ihr anzurichten, die Du nicht geplant hast.“
„Das wäre gut. Ich kann nicht ewig davonlaufen. Mal von Hunger und Durst abgesehen.“
„Ich habe länger nichts mehr gegessen, als ich mich erinnern kann.“
„Du beziehst Deine Stärke aus der Kraft.“
„Ja. Warum machst Du das nicht?“
„Weil sie mich dadurch finden können. Wenn ich mich von der Kraft nähre, bin ich auffindbar.“
„Wer verfolgt Dich? Außer den Soldaten der Stadt offensichtlich.“
„Andere von Ternos Art. Sie wollen mich vernichten. Ich weiß nicht warum.“
„Umso wichtiger ist es also, dass Du Deine Kraft anzuwenden lernst. Ich kann es Dir beibringen.“
„Wie willst Du etwas schaffen, woran schon zwei andere gescheitert sind, deren Kraft für mehr ausreichend war als Unsichtbarkeit?“
„Weil ich Dich benutzen will, um mich zu befreien. Wir teilen das Interesse, Deine Kraft zu entwickeln aus zunächst gleichen Gründen. Wir wollen beide nicht hierbleiben, und um zu fliehen, muss ich Dich lehren, was Du noch nicht lernen konntest.“
„Dann lass uns beginnen. Folge meiner Stimme.“

Sobekan hielt Wort. Zuerst war es ein irritierendes Gefühl, meinen Körper bewusst hinter mir zu lassen, doch Sobekans Stimme und damit wahrscheinlich auch sein Wille zogen an mir und halfen mir damit über die ersten Schwellen hinweg, bis tatsächlich mein Körper nur ein Gedanke, eine Erinnerung, ein Kleidungsstück war, das in der Zelle zurückblieb. Ich erinnerte mich an Mandus Baum und den Eintritt in meinen Körper damals und fragte mich, ob es wieder so schmerzhaft werden würde, wie damals, doch gleichzeitig mit Sobekans beruhigenden Worten, dass es nicht so sein würde, erinnerte ich mich an Ternos und Mandus Worte, dass es nie wieder so sein würde. Gleichzeitig aber war die Verlockung groß, nie wieder in meinen Körper zurückzukehren, denn wozu, fragte ich mich, brauchte ich denn einen sterblichen Körper, wenn ich meinen Geist auch einfach von ihm lösen konnte.
„Versuche es nicht“, warnte mich Sobekan. „Dein Geist ist nur so stark wie Dein Körper. Verlass nicht Deinen Körper mit dem Wunsch, nicht zurückzukehren, oder er wird Dich erwarten wie ein verschlossenes Haus.“
Ich dachte zurück an meinen Körper und spürte mich ihm gleich näher und auch den Sog, den der Körper auf meinen Geist ausübte, der ihn lockte, sich in ihn fallen zu lassen, statt die Anstrengung aufzubringen, sich von ihm fern zu halten. „Vertraue Deinem Gefühl“, sagte Sobekan, „und kehre zurück, wenn Dein Körper nach Deinem Geist ruft. Je besser er versteht, dass Du ihn nicht auf immer verlässt, sondern immer wieder zurückkehrst, desto eher wird er auch Deine Abwesenheit ertragen. Geh zurück.“
Und ich ging. Tatsächlich glitt mein Geist in meinen Körper wie Remde mich vor so scheinbar langer Zeit in sein Hemd gekleidet hatte. Und wie damals fühlte es sich an, als säße nicht alles richtig. Sobekan wusste das, denn er sagte: „Du musst Dich richtig strecken, damit Du alle Bereiche Deines Körpers erreichst. Mit mehr Übung wird Dir das besser gelingen, am Anfang aber ist es eine wichtige zu wiederholende Übung.“

In den nächsten Stunden übte ich das Verlassen un Betreten meines Körpers bis zur Erschöpfung. Ich hätte nicht gedacht, dass das rein geistige Reisen so anstrengend sein würde. Als ich das Sobekan gegenüber erwähnte, stimmte er mir zu. „Es ist wirklich anstrengend, doch unerlässlich, um Dich selbst auch dann wiederzufinden, wenn Du Dich verlierst. Wenn Du Teil dieser und der jenseitigen Wirklichkeit werden willst, musst Du Dich vertraut machen mit den Gegebenheiten in und außerhalb Deines Körpers.“
„Ist es gefährlich?“
„Ja. Es ist sogar sehr gefährlich. Du kannst, wenn Du unachtsam bist, vertrieben werden oder einfach nur den Kontakt zu Deinem Körper verlieren. Auch darum musst Du üben, denn je sicherer Dein Körper Deinen Geist erkennt, umso stärker ist Eure Verbindung, und irgendwann kannst Du vielleicht umkehren, was ich sagte: dann wird nicht Dein Körper die Stärke Deines Geistes bestimmen, sondern Dein Geist Deinen Körper tragen können, auch wenn er selbst keine Kraft zu haben glaubt.“

In dieser Nacht schlief ich nicht gut. Ich schreckte oft hoch, weil ich Stimmen gehört hatte, weil ein Geräusch neben mir war oder ich einfach nur Hunger hatte. Doch jedesmal, wenn ich aufwachte, war Sobekans Stimme da, die mich beruhigend wieder in den Schlaf wiegte.
Der Morgen brachte Schreie. In der Nacht hatten die Soldaten einen jungen Mann gebracht, der um sein Leben bat, bettelte, der schrie und weinte, doch die Soldaten hatten ihn einfach in eine Zelle geworfen und ihn dort liegengelassen. Sobekan berichtete mir das, woher er es wusste, fragte ich nicht nach, immerhin war er die ganze Nacht über wach gewesen, ich hatte nicht mitbekommen, wie Türen geöffnet oder geschlossen worden waren. Ich hörte nur am Morgen die Schreie, die zu diesem Zeitpunkt schon lange angedauert hatten, wie Sobekan sagte.
„Können wir ihm nicht helfen?“
„Was willst Du tun?“
„Kannst Du ihn nicht beruhigen? Ihm Mut machen?“
„Was soll ich ihm sagen? Dass alles gut wird? Dass er überlebt? Der Junge hat keine starke Verbindung zur Kraft, ich könnte ihn nicht einmal etwas lehren, wenn er es wollte. Er wird hier sterben.“
„Das darf er nicht!“
„Das wird er aber, wenn er nicht gerettet werden kann.“
„Dann werde ich auch ihn retten.“
„Zuerst musst Du Dich selbst retten. Alle anderen müssen warten. So wie auch ich gewartet habe und warten werde, bis Du genug gelernt hast.“
Als die Schreie des Jungen in Schluchzen und dann leises Weinen überging, waren wir in unserem Unterricht schon weiter gekommen. Sobekan musste mich mitunter sogar bremsen, wenn er das Gefühl hatte, dass ich mich zu rasch von mir fortbewegte. Einmal hörte ich nicht auf ihn, sondern testete, wie weit ich meinen Körper hinter mir lassen konnte, ohne ihn nicht mehr zu spüren. Ich glitt fort von mir, fühlte die wachsende Distanz, und eine seltsame Aufregung erfasste mich, gemischt mit Neugier und Angst. Denn ich wusste, dass das, was ich tat, gefährlich war, denn ich hatte keinen anderen Halt als die seltsam blasse Erinnerung an meinen Körper, der im Dunkel einer Zelle lag. Und dann hörte ich fern Sobekans warnende Stimme wieder, die mich rief, die bat und bettelte, die mir befehlen wollte, doch ich konnte ihm nicht Folge leisten, ich wollte frei sein, wollte mich nicht wieder in diesen Körper begeben, wollte nicht weiterleiden. Ich wollte fort von diesem Ort und das Jenseitige erreichen, ich wollte alles tun, was ich nicht konnte und doch: ich brachte es nicht über mich, wirklich zu gehen.
Und so fasste ich den Entschluss, zu bleiben, so lange zu bleiben, bis ich mich befreit hatte, Sobekan und den Jungen befreit hatte, und ich würde herausfinden, was ich musste, um nicht mehr Gejagte zu sein, sondern Jägerin zu werden. Ich würde, sobald ich genug gelernt hätte, die Drei herausfordern und gegen sie kämpfen, gegen das, was sie mein Schicksal nannten, ankämpfen. Ich würde ihnen das Schlachtfeld nicht alleine überlassen. Ich musste zurück. Und langsam und zäh tastete ich mich zurück, zwang mir das Bild meines im Dunkeln liegenden Körpers vor Augen, streckte mich aus und weiter und tastete mich langsam voran, langsamer, und je langsamer ich wurde, umso furchtsamer, denn ich fand keinen Weg, ich fühlte keinen Körper, ich sah kein Zurück. Ich war zu weit gegangen.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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