5 | Remdes Dorf | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

5 | Remdes Dorf

Yelda
November 3, 2010

Ich zögerte, als ich das erste Mal freiwillig den Wald verlassen sollte. Bisher hatte ich nur auf dem entlebten Boden keine Bäume um mich gehabt, und das Gefühl der Verlorenheit inmitten einer unbegrenzten Weite erfasste mich nun erneut, da ich im Begriff war, wieder unter freien Himmel zu treten. Und doch hatte ich keine Wahl, wollte ich diese Mandu nach meiner Familie fragen. Das Zweibein, das mich bislang geführt hatte, war ebenfalls stehengeblieben und sah mich an.
„Was ist?“
„Ich habe Angst.“
„Wovor?“
„Davor, dass mit dem freien Himmel auch diese schreckliche Leere darunter zurückkehren.“
So wie das Zweibein mich ansah, verstand es nicht, trotzdem sagte es: „Du musst keine Angst haben. Hier wird Dir nichts geschehen.“
„Kann ich nicht hier warten?“
„Nein. Mandu kommt zu niemandem, sie erlaubt es, besucht zu werden.“ Das Zweibein kehrte zu mir zurück und nahm meine Hand. „Obwohl es sein könnte, dass sie für Dich sogar eine Ausnahme gemacht hätte. Komm jetzt.“ Dann ging er wieder voran und meine Zweifel blieben zurück, als ich den Zug seiner Hand in meiner spürte und mich einfach mitnehmen ließ. Meine Füße traten in seine Spuren, und obwohl mich der Himmel doch sehr beunruhigte, wollte ich nun nicht mehr ohne das Zweibein in dem mir fremden Wald bleiben.

Hinter uns erstreckte sich der Wald wie eine hohe Wand zu beiden Seiten und von Mal zu Mal, das ich zurückblickte, konnte ich weniger erkennen, wo wir zwischen den Bäumen hervorgetreten waren. Mein Plan, beim ersten Anzeichen der Leere wieder umzukehren, zerfiel allerdings, als ich erkannte, wohin das Zweibein mich bringen wollte. Vor uns erstreckte sich eine leicht abschüssige Ebene, die in eine den Himmel spiegelnde Fläche mündete. Ich ahnte, dass es sich dabei um Wasser handeln musste, denn ich hatte schon gesehen, wie sich Wolken in Pfützen spiegeln, doch eine so große Pfütze konnte es nicht geben, sie war so groß, dass es bestimmt ein eigenes Wort dafür gab.
Am Rand des Wassers befanden sich Dinge wie große Felsbrocken, zwischen denen weitere Zweibeine umherliefen.
„Bleib stehen“, sagte ich zu meinem Zweibein.
„Warum?“ Natürlich gingen wir noch, doch als ich stehenblieb, musste das Zweibein das auch tun.
„Da vorne sind noch mehr Zweibeine.“
„Das ist mein Dorf und meine Familie. Sie werden Dir nichts tun.“
„Aber es sind noch mehr Zweibeine.“
„Ja, ich sagte doch…“
„Aber wenn da mehr Zweibeine sind, dann kann ich Dich nicht mehr Zweibein nennen. Woher wüsstest Du, dass ich Dich meine?“
„Du nennst mich Zweibein?“
„Ja. Ich gebe allen Dingen Namen, um sie voneinander zu unterscheiden.“
„Zunächst bin ich kein Ding, habe aber einen Namen.“
„Zweibein?“
„Nein. Mein Name ist Remde.“
„Aber ich habe Dich Zweibein genannt.“
„Meine Familie nennt mich Remde. Das ist mein Name.“
„Haben alle Dinge mehrere Namen?“
„Nein. Und Zweibein ist kein Name. Komm jetzt weiter.“ Remde drehte sich um und zog mich wieder hinter sich her. Nach einer Weile blieb das Zweibein noch einmal stehen und sagte: „Bitte sprich niemanden in meinem Dorf mit Zweibein an. Frag mich nach ihren Namen und ich werde sie Dir nennen.“ Dann atmete er tief durch und fügte hinzu: „Und ich habe das Gefühl, als wolltest Du mich gleich fragen, warum ich das sage. Darum bitte ich Dich auch darum, mich das nicht zu fragen. Ich beantworte Dir gerne alle Fragen, sobald Mandu Dich empfangen hat.“
Ich war überrascht, dass er wusste, was ich fragen wollte, dachte mir aber auch, dass er dann wohl ebenso wusste, dass ich überrascht war, was mich noch mehr überraschte. Statt also meine Frage zu stellen, sagte ich nur: „Gut. Dann ist es umso wichtiger, dass wir Mandu bald treffen.“
„Das ist es. Komm nun.“

Je näher wir Remdes Dorf kamen, desto mehr Einzelheiten konnte ich erkennen. Was ich von weitem für Felsen gehalten hatte, waren in Wahrheit Höhlen, deren Wände aus Holz bestanden. Ein schrecklicher Sturm musste vor Zeiten hier gewütet haben. Hüterin hatte von Stürmen erzählt, die Bäume aus der Erde rissen und zu Boden warfen. Sie hatte schon einige dieser Stürme am eigenen Stamm gespürt und sprach daher mit großer Ehrfurcht von ihnen. Ich hätte mir trotzdem nie vorstellen können, dass ein einzelner Sturm dazu in der Lage war, so viele Bäume umzuwerfen, dass man daraus Höhlen errichten konnte. Ich begriff nun, wie berechtigt Hüterins Ehrfurcht gewesen war, und beschloss gleichzeitig, Remde zu fragen, ob er jenen Sturm erlebt hatte. Doch das würde warten müssen. Bei der Erinnerung an Hüterin war mir wieder klar geworden, wie sehr ich sie vermisste. Ich ging schneller, so dass ich bald mit Remde auf gleicher Höhe ging und aufpassen musste, das nicht ich ihn zog, als ich ein Zweibein auf uns zukommen sah. Es sah älter aus als Remde und hatte ähnliche Kleidung. Es drehte den Kopf, als wollte es hinter sich sehen, und rief etwas, dann kam es näher.
Wir waren nur noch zehn Schritte von ihm entfernt, als es stehenblieb. Hinter ihm konnte ich das Dorf sehen und noch mehr Zweibeine, die sich näherten. Sie alle hatten ähnliche Kleidung, wenngleich bei einigen die Hosen zusammengewachsen aussahen. Bei einigen der Zweibeine lagen die Kopfhaare glatt und kurz am Kopf an, bei einigen waren sie länger gewachsen und fielen lang bis auf den Rücken. Ich hatte vorher nicht darüber nachgedacht, wie andere Zweibeine aussehen würden, doch dies erschien mir in sich stimmig. Sie konnten natürlich nicht alle gleich aussehen, und natürlich konnte man sie deswegen nicht alle Zweibein nennen. Die Vorstellung aber, dass sie alle Namen tragen sollten, die nicht ich ihnen gegeben hatte, erschien mir seltsam.
Zwei Schritte vor dem Zweibein blieben wir stehen. Remde knickte seinen Körper in der Mitte ein, dass Brust und Kopf zu Boden zeigten und richtete sich dann wieder auf.
„Remde“, sagte ich, „hat das alte Zweibein einen eigenen Namen?“
Remde sah mich mit großen Augen an, dann blickte er zum dem alten Zweibein, dann wieder zu mir.
„Worum hatte ich Dich gebeten?“
„Ich soll niemanden mit Zweibein ansprechen, darum frage ich ja, wie das Zweibein heißt.“
„Bukon, das Zweibein heißt Bukon.“ Ich hätte nicht gedacht, dass seine Augen noch größer hätten werden können.
„Alles in Ordnung?“, fragte ich darum, doch Remde hatte mich offensichtlich nicht gehört, sondern starrte Bukon an.
Als ich Remdes Blick folgte, sah ich, dass Bukon mich anstarrte.
„Remde hat mich im Wald gefunden und will mich zu Mandu bringen. Er sagt, sie kennt Regentrinker. Außerdem hat er mir sein Hemd gegeben.“
Ich war ziemlich überrascht, als Bukon auf seine Knie sank und sagte: „Seid willkommen in unserem Dorf, Hohe.“
Und noch überraschter war ich, als auch alle Zweibeine hinter Bukon sich hinknieten und das Gesicht auf den Boden legten.
Als ich Remde ansah, war klar, dass er damit auch nicht gerechnet hatte.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
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