Das Arrangement | ANDERSWOLF

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Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Das Arrangement

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November 2, 2014

Wie immer ging ich hin, als sie mich riefen. Ich verteidige das nicht. Ich verteidige mich nicht. Ich hatte keine klare Vorstellung davon, was ich wirklich wollte. Vielleicht war es ein Impuls unbewusster Loyalität oder die Konsequenz eines dieser ironischen Zwänge, die in den Gegebenheiten der menschlichen Existenz lauern. Ich weiß es nicht. Ich kann es nicht sagen. Aber ich ging hin. Ich ging hin, wie immer, wenn sie gerufen hatten. Nur dieses eine, dieses letzte Mal ging ich hin, um zu sterben.

Das erste Mal war ich sechzehn gewesen, mittelmäßiger Schüler, mittelmäßige Ziele, mittelmäßiges Leben. Ich war unauffällig, ein Niemand. Dass genau dieser Zug sie an mir reizte, erkannte ich erst Jahre später in der mittelmäßigen Frau. Auch in diesem Punkt verteidige ich mich nicht. Vielleicht verbot mir ein Impuls unbewusster Loyalität, das Arrangement je zu hinterfragen. Vielleicht verbot die Angst vor den Antworten alle Zweifel. Ich weiß es nicht. Ich kann es nicht sagen.
„Komm mit uns“, sagten sie und natürlich ging ich mit. Sie drohten nicht, baten nicht, sie versprachen nichts. Wie der Herbst dem Sommer folgt, ging ich mit ihnen, weil es mir unmöglich war, nicht mit ihnen zu gehen.

Die Erinnerung an das Danach ist zerfallen in Fragmente: fremde Worte rauer Stimmen, metallene Kälte unter meinem nackten Körper, steife Finger auf meiner Haut, Stechen von Nadeln in meinem Fleisch. Darüber Dunkelheit, so dicht, so allverschlingend, so durchdringend, dass sie bis in mein Gehirn reichte. Ich erinnere mich an das endlose Schwarz und an das dann so plötzlich aufflammende Licht, das rotgoldene Leuchten eines Sonnenaufgangs, das mich und meinen Geist aufbrach und alle Dunkelheit vertrieb. Ich erwachte in meinem Zimmer, in meinem Bett, in meinen Kleidern, doch nicht mehr in meinem Körper. Der Körper, den ich trug, gehörte mir nicht mehr, ich hatte ihn verkauft.

Seit diesem Erwachen habe ich nicht mehr geschlafen. Manchmal nur überfällt für wenige Sekunden eine Dunkelheit meinen Geist, die eine Erinnerung an jenes erste Schwarz ist, und ich höre die Stimmen, spüre die Hände, fühle die Nadeln. Dann aber kehrt die Welt zurück, für Augenblicke noch überzogen mit dem Rotgold des Sonnenaufgangs.
Der weitaus größere Lohn für meinen Leib aber war das Wissen. Der mittelmäßige Schüler, der lieber aus dem Fenster als zur Tafel sah, kannte nun alle Antworten. Da niemand Verdacht schöpfen sollte, gab ich vor, mich langsam und durch Fleiß zu verbessern, bis ich schließlich als Jahrgangsbester die Schule abschloss, mit dem Angebot eines Stipendiums und eines Studienplatzes an einer amerikanischen Eliteuniversität in der Tasche. Natürlich lehnte ich beides ab, weder brauchte ich das Geld, noch sollte sich eine Universität mit mir schmücken. Zudem war kurz zuvor der zweite Teil des Arrangements in Kraft getreten. Sie hatten mich zu sich gerufen und ich war hingegangen.

„Wir haben einen Auftrag für Dich.“
Ich erinnere mich an meine Auftraggeber nicht. Ich könnte weder ihre Körper noch ihre Stimmen beschreiben. Ich kenne nicht einmal ihre Zahl. Ich weiß, dass mir alle Erinnerung an sie genommen wurde. Ich sollte nichts verraten können. Hätte ich aber jemals an meiner Loyalität gezweifelt, hätten sie es nicht zuvor getan? Ich kann es nicht sagen.
„Es geht um diesen Mann.“
Tadeusz Bobrowski. Ich erkannte ihn auf dem Bild, das sie mir zeigten. Der Spion auf der Flucht hatte eine Pressekonferenz angekündigt. Er wollte seine Kenntnisse mit der Welt teilen.
„Du weißt, was Du zu tun hast?“
Hatten sie mir nicht die Augen geöffnet, damit ich das Offensichtliche erkannte?
„Natürlich.“

Die Pressekonferenz fand nicht statt. Bobrowski war auf dem Weg dorthin in eine katatonische Starre gefallen, Hirnschlag vermuteten die Medien. Seine Bewacher, die ihn rund um die Uhr und sogar bis zur Toilette begleitet hatten, bekräftigten diesen Verdacht. Sie hatten versagt und so argumentierten sie mit den Gegebenheiten der menschlichen Existenz: „Tadeusz Bobrowski hat uns dafür bezahlt, ihn vor allen Gefahren zu schützen. Doch wie schützt man einen Menschen vor seinem eigenen Körper?“ Mich hatten sie nicht wahrgenommen, nur Bobrowskis Sturz, seine starren Augen, seinen offenen Mund. Er hatte nicht einmal mehr schreien können, so schnell war sein Geist der noch atmenden Hülle seines Körpers entrissen worden.

Bobrowski war der Erste von Vielen. Männer und Frauen, Junge und Alte. Selten waren die Menschen, in deren Weg ich gestellt wurde, prominent, die meisten wohl Kollateralschäden, zur falschen Zeit am falschen Ort. Auch das verteidige ich nicht, ich verteidige mich nicht. Ich zweifelte nicht an meinen Auftraggebern. Ich stellte das Arrangement nicht in Frage.
Denn ansonsten führte ich das, was man ein angenehmes Leben nennt. Das Wissen, das ich erhalten hatte, verhalf mir zu Wohlstand, ich war Journalist, Pressesprecher, Berater. Ich handelte mit Autos, Kunst, Immobilien, wahrscheinlich auch mit Menschen. Ich gebe zu, irgendwann entglitt mir die Übersicht, verlor ich die Lust daran. Besitz relativiert sich. Mit jedem Auftrag wurde mir deutlicher, dass nichts, was man besitzen oder lieben kann, davor bewahrt, mir zu begegnen.

„Wir haben einen Auftrag für Dich.“
„Es geht um diese Frau.“
„Du weißt, was Du zu tun hast?“
Nadja. Ein Sommer am See. Wasserperlen auf der Haut. Ihr silbriges Lachen. Unser erster Kuss. Die Nacht unter den Sternen. Wir waren sechzehn gewesen.
„Natürlich.“

Natürlich log ich.

Nadja zu finden, war nicht schwer. Sie hatte das kleine Haus und das enge Leben ihrer Eltern übernommen. Sie arbeitete in der Stadtverwaltung, ging einkaufen, spielte mit ihrer Tochter, liebte ihren Mann, fütterte den Hund. Ich folgte ihr mehrere Tage lang, beobachtete sie aus der Ferne, versuchte zu verstehen. Warum gerade sie?
Bei keinem Auftrag zuvor hatte ich mir diese Frage gestellt. Konnte es wirklich sein, dass meine Auftraggeber nicht von Nadja und mir wussten? Es gab nur eine Erklärung: sie wollten mich und meine Loyalität auf die Probe stellen. Sie wollten das Werkzeug prüfen, das sie erschaffen hatten. Allerdings würden sie feststellen müssen, dass das Werkzeug nicht ohne Fehler war. Dieses Mal würde ich versagen.
Ich saß in meinem Wagen gegenüber von Nadjas Haus, als ein Auto vorfuhr. Ihm entstieg eine mittelgroße Frau in einem schlichten Kostüm. Sie hatte keine auffälligen Gesichtszüge, trug keinen Schmuck, war dezent geschminkt. Bis auf den Koffer in ihrer Hand, der sie als Vertreterin einer Kosmetikfirma auswies, war ihre gesamte Erscheinung so unspektakulär und mittelmäßig, dass mir zweierlei bewusst wurde. Erstens erkannte ich, wie sehr diese Mittelmäßigkeit bei der Ausführung der Aufträge half. Darum also war ich ausgewählt worden. Zweitens erkannte ich, dass ich zu lange gezögert hatte. Nach mir war nun auch diese mittelmäßige Frau beauftragt worden, sich um Nadja zu kümmern.
Als die Frau das Gartentor öffnete, stieg ich aus. Als die Frau zur Haustür ging, rannte ich über die Straße. Als die Frau ihren Finger auf den Klingelknopf legte, griff ich nach ihrem Arm. Ein Glockenton. Die Frau sah mich an, in ihren Augen ein rotgoldener Schimmer und - ganz kurz nur - Neugier. Als Nadja die Tür öffnete, hielt ich noch immer den Arm der mittelmäßigen Frau umklammert, als hinge nicht das Gewicht eines leblosen Körpers daran. Dann ließ ich los und floh.

Ob ich danach eine Wahl gehabt hätte, weiß ich nicht. Ich kenne das Gefühl nicht, wählen zu müssen. Ich habe nie eine klare Vorstellung davon bekommen, was ich wirklich wollte. Seit die rotgoldene Sonne in meinem Geist aufgegangen war, war mein Leben einfach passiert, und alles schien richtig gewesen zu sein. Doch jetzt war die Welt aus den Fugen und ich hatte immer noch keine Vorstellung davon, was sonst ich hätte tun können.
Wie immer also ging ich wieder hin, als sie mich das letzte Mal riefen. Ich ging hin, um zu sterben.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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