Jahre her | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Jahre her

Usus operi
Oktober 25, 2011

Wir hatten diese Jahre, sie und ich. Die Jahre, in denen wir uns besser als blind verstanden, die Jahre, in denen wir uns selbst mit offenen Augen nicht erkennen konnten, die Jahre, in denen wir nicht ohne den anderen leben wollten. Diese Jahre sind fort wie sie.

Lange habe ich sie vermisst und nach etwas gesucht, das diese Wunde verschließen könnte, aus der noch Jahre später meine Kraft herausfloss. Gefunden habe ich nichts, auch keine andere Freundschaft, die mit ihrer Liebe, mit der Liebe, die sie mit sich genommen hatte, mithalten hätte können. Ich steckte fest in einer Vergangenheit, die es nicht mehr geben konnte, die es auch nicht mehr geben durfte, sollten wir beide vorankommen. Diese Vergangenheit vergehen zu lassen, hieß nicht, keine Freundschaft, keine Liebe füreinander mehr zu spüren. Aber es hieß, Abstand zu nehmen, einzuhalten, Freiheit zu geben, anzuerkennen.

Nach ihrem Abschied habe ich mich in die Beziehung zum Freund gestürzt, habe ihn zu meinem Fluchtort gemacht, habe Freude und Schmerz, Liebe und Enttäuschung allein auf ihn gerichtet. Kurzsichtig, blauäugig, naiv, ungerecht, denn was anders konnte ich sein als enttäuscht davon wie anders unsere Gespräche waren, unser Umgang, unser Alltag.
Ich habe versucht, den Freund zu einer männlichen Version der Freundin umzuformen, die ich mehr als mich selbst liebte und die ich nach ihrem Abschied mit Gewalt aus meiner Seele schneiden musste, um die Ferne zu ertragen, die zwischen uns gewachsen war. Natürlich – das weiß ich aus dem Rückblick, aus dem wir alle immer schlau und erhaben sein können angesichts unserer Fehler – konnte das nicht gut gehen und ich habe ihn und mich und sie im Verlauf der Jahre verletzt durch Worte, Taten, Schweigen.

Langsam erst komme ich dahinter, dass die Warnung meines ersten Freundes, ich könne keine zwei Beziehungen parallel und glücklich führen, sich auch auf Beziehungen beziehen könnte, die ich Jahre nach unserer Trennung erst aufbauen würde. Ich hatte mich mittels meines Coming-Outs gerade aus einer gegenseitig emotional missbrauchenden Freundschaft gelöst, als ich ihn kennenlernte. Als uns beiden allerdings klar wurde, dass die beendete Freundschaft mich immer noch mehr fesselte als die beginnende Beziehung, trennten wir uns wieder. Er wusste damals schon, was ich heute erst verstehe: dass Ja zu jemandem zu sagen heißt, dass man Nein zu einem anderen sagen muss. Ich wollte immer zu allen Ja sagen, wollte niemanden loslassen aus Angst vor der Einsamkeit, die ich wie ein lauerndes Tier in mir spürte. Auch heute noch spüre, weil ich mich selbst immer noch zerteile und nichts Ganzes zurückbleibt, das in mir ruhen könnte. Die Entscheidungslosigkeit in allen Bereichen höhlt mich aus und lässt nur die Angst zurück.

Wozu sage ich heute Ja und wozu Nein? Zu wem will ich halten und zu wem kann ich es? Ich will niemanden verlieren und kann doch niemanden halten, kann nicht die Schluchten, die Weiten wieder schließen, die sich zwischen unseren Leben aufgetan haben. Die beste Freundin hat unser gemeinsames Leben verlassen, und ich ging wenige Monate später. Ich vermisse sie auch heute noch, jeden Tag, an dem ich nicht anrufe, keine Nachricht schicke. An jedem Tag, an dem ich Nein zu ihr sage.

Die Jahre dazwischen haben nichts leichter gemacht. Diese Jahre, in denen wir wie blind waren füreinander und die Liebe, die uns verband, die aber dem vergangenen Anderen galt, mit dem wir nicht mehr lebten. Ihre Beziehung scheiterte daran, dass sie wie ich wollte, was sie nicht mehr haben konnte. Nehme ich an, denn auch meine Ansprüche an den Freund waren oft jenseits der Realität unserer Beziehung.

Nehme ich an, denn hier trennen sich die Wege. Über das Ende ihrer Beziehung muss ich viel mutmaßen, denn ich war nicht mehr da. Ich habe ihre Entscheidungen nicht miterlebt, nicht ihre Zweifel und ihre Angst vor einer Zukunft mit diesem Mann. Und nicht die Einsamkeit, in der sie diese Entscheidungen mit sich selbst ausmachen musste. Diese Einsamkeit, die ich auch in mir spüre, jeden Tag wieder und aufs Neue, die aber langsam der Erkenntnis weicht, dass nicht die Angst der Einsamkeit folgt, sondern die Einsamkeit der Angst, zu jemandem Ja zu sagen und zu einem anderen Nein.

Und dann hatten wir diesen Sommer, der uns beides zeigte: die Liebe und Freundschaft, die wir immer noch füreinander empfinden, aber eben auch die Distanz zwischen uns und unseren Lebensentwürfen. Der uns erschrecken ließ über die Vertrautheiten, die der Andere mit Dritten hat, der Erinnerungen sich in uns öffnen ließ wie Jasminblüten, der uns an einen Ort unserer gemeinsamen Vergangenheit führte, den wir aber beide nicht mehr wiedererkannten.
Wir saßen an diesem See und starrten über das Wasser hinüber zum anderen Ufer und suchten nach den Tagen, die wir zehn Jahre zuvor an exakt der selben Stelle verbracht hatten. Sie schlief in der Sonne auf der Wiese und ich sprang vom Steg in das kalte Wasser und tauchte so tief ich konnte, bis mich der Schmerz in meinen Lungen wieder nach oben trieb. Wir tranken Kaffee und aßen Eis wie in einem Früher, das es so nie gegeben hatte.

Seit meiner Rückkehr vom See kämpfe ich mich durch ein Meer aus Zweifeln, aus denen wie ein Eisberg die Beziehung zum Freund ragt. Ich habe beschlossen, zu kämpfen. Ich will nicht untergehen, nicht aufgeben, nicht ertrinken. Doch ich werde mich nicht weiter an den Freund klammern, der weder Rettungsring noch Anker ist, sondern Fixpunkt. Wir haben viele Gespräche geführt in den letzten Wochen: traurige, lustige, ernsthafte, besorgte, vor allem aber uns einander näherbringende, gute Gespräche. Ich habe beschlossen, Ja und Nein zu ihm zu sagen. Mir ist unsere Beziehung wichtig, er vor allem ist mir wichtig. Ich habe Grenzen gesetzt und Positionen bezogen, habe mir Freiheiten genommen und Regeln aufgestellt, doch eben auch Nähe zugelassen und Ehrlichkeit. Langsam lerne ich wieder, wie das geht, eine vollständige Beziehung zu führen, in der man immer noch eigenständig ist. Ich ordne mein Leben nicht mehr um den Freund herum, sondern flechte ihn ein in ein größeres Bild, in dem alles, was mir wichtig ist, einen Platz hat. Das vor allem mehr als nur ihn oder sie oder mich zeigt.

Diese Jahre allerdings, die wir hatten, sind vergangen. Wenn wir uns heute sehen, sehen wir nicht mehr unsere gemeinsame Vergangenheit, sondern die Menschen, die wir ohne einander geworden sind. Wir sind nicht mehr blind für die Unterschiede, sehen dafür umso deutlicher aber das, was uns immer noch verbindet.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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