Kokon | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Kokon

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Januar 1, 2019

dem Horizont entgegen stürzt die Sonne
verblüht ist der Blauregen
ein Riss durchzieht dein Haus
Flieg, Bläuling,
oder stirb.

Mittags schon verkürzen sich die Tage des noch hohen Sommers, und du schläfst hoch oben in deinem Kokon. Raupe bist du nicht mehr, diese Haut ist abgestreift, doch Schmetterling bist du auch noch nicht. Träumst du vom Fliegen unter klarem Himmel? Ich muss dich enttäuschen: Wolken beschatten die Pergola.
Könnten wir Menschen unsere Haut doch auch einfach ablegen. Alle sieben Jahre, heißt es, erneuerten sich alle Zellen des Körpers, alle sieben Jahre stünden wir da als neuer Mensch. Narben aber bleiben, ein Korsett, das wir nicht aufschnüren können.
Als hätte ich nichts Besseres zu tun, liege ich auf der heißen Terracotta, starre durch das Blättermeer hinauf in den Azur. Du, Bläuling, wirst bald wohl schlüpfen. Nektar des Blauregens soll deine Nahrung sein, seine Knospen künden zweite Blüte. Tagsüber wirst du Spielball der Winde sein, nachts schlafen zwischen den Ästen, und am Ende des Sommers bist du tot.
Dann, spätestens, werde ich mich in die steinerne Hülle zurückziehen, in der ich geboren wurde.

ich singe das Lied der Wilden Jagd
Vater stanzt seine Tränen mir ein
bitter die Frucht dieses eisigen Leibes
Nichts trifft härter
als der Verlust einer Hoffnung.

Vater hat dieses Haus gebaut. Die Robinie in der Mitte des Gartens hat Vater gepflanzt. Den Sohn aber glaubte Vater nicht von seinem Samen. In Raunächten sandte später eine Frau, die ich nicht kennengelernt, aber gemordet hatte, ihren Geist über Vater aus, hieß mich mit seiner Stimme Wechselbalg, Bastard, Dämonenbrut. Das crescendo der Raketen hätte mich aus der Welt treiben müssen und nicht hinein in einen menschlichen Leib. Wie ein Parasit hätte das kindgewordene Übel sie ausgezehrt und nach dem Schlupf nur eine wächserne Hülle zurückgelassen. Mit meinem ersten Schrei sei ihr Lebenslicht erloschen.
Woraus, Bläuling, besteht dein Kokon? Schmetterlingsspucke und Raupenhaut? Das Netz um mein Herz ist gewoben aus Tränen und Blut, Brüchen und Schlägen und Schmerz. Manchmal zieht es sich auch heute noch zusammen, raubt mir Atem und Sinne, und lange dauert es dann, bis ich wieder stehen kann. Als hätte ich nichts Besseres zu tun.

ich habe Eisblumen geschnitten
in Scherben liegen alle Vasen
Sonne unter dem Horizont
Der abgebrochene Zweig
treibt wieder aus.

Die ersten Jahre meines Lebens gingen über mich hinweg wie eines dieser Gewitter, die kurz vor dem Frühjahr noch einmal den Winter über das Land legen. Ich finde keine Erinnerung daran. Dann ein Foto von meiner Einschulung: ganz rechts in der hintersten Reihe ein dürres Kind, schwarzhaarig, hohläugig, in abgetragener Kleidung, das einzige ohne Schultüte.
Regst du dich im Kokon, schaukelt deine Hülle in der windlosen Welt. Willst du am Ende doch heute noch schlüpfen? Wirst wie die Seele eines Toten dich deinem Sarkophag entwinden? Lass dir Zeit, ich werde, als hätte ich nichts Besseres zu tun, hier auf dich warten.
Ab der zweiten Klasse neben mir, rotwangig, blauäugig, flachsblond: Mat. Von Jahr zu Jahr wechseln wir die Position im Bild, doch immer wieder: Mat an meiner Seite. In der fünften Klasse legen wir einander die Arme um die Schultern, wie wir es von den Halbstarken aus dem Fernsehen kennen. In der sechsten Klasse wachse ich Mat davon, in der siebten hat er mich wieder eingeholt. In der achten Klasse trennt uns ein Mädchen. Alle drei sehen wir unglücklich aus.

es waren zwei Königskinder
eine Fackel entzündet Hekatē
Irrfeuer über dem Moor
Du bist das Licht,
ich bin dein Schatten.

Noch bevor ich ihn kannte, habe ich Mat verletzt. Wir wurden dennoch Freunde, vielleicht gerade deswegen. Mat besaß liebende Eltern und Großeltern, Spielzeug, Freiheiten und, nachdem ich einer Nichtigkeit wegen sein Blut vergossen hatte, mich. Wir wuchsen zusammen auf und wie nahstehende Bäume ineinander. Und dann, als späte Strafe für die Affekte eines Siebenjährigen, war ich wieder allein.
Öffnete ich, als hätte ich nichts Besseres zu tun, deinen Kokon vor der Zeit, was geschähe? Allein die Vorstellung lässt dich unruhig werden, ich sehe das. Keine Angst, Bläuling, ich werde dir nichts tun. Vielleicht aber verstehst du, was mir geschah, als ich aus Mats Leben fiel.
Vorsichtig ausgedrückt: Ich verlor die Balance. Wechsel vom Gymnasium auf die Realschule mitten im Schuljahr. Abschluss mit inakzeptablen Noten. Beginn einer Schreinerlehre dank Vaters Beziehungen. Alkohol und andere Drogen, Streit mit dem Chef und dem Vater, Schulden und schlechte Gesellschaft. Schließlich eine kuriose Erkenntnis: Vater mochte sich weigern, mir Geld zu geben, andere Männer in seinem Alter bezahlten mich gern.

Kind eines Kaltschmieds
der Gefallenen Kamerad
höllisch Gefrorener
All diese Orden haben mir
Haut und Seele zerfetzt.

Mit 21 trotz allem Zeitsoldat, Vater stolz: „Habe ich doch einen Sohn gezeugt!“ Kosovo, Mazedonien, Dschibuti, Kongo, Kuwait, Sudan und immer wieder Afghanistan, vor jedem Einsatz ein Hieb auf die Schulter: „Guter Mann!“ Was Vater nicht hat zerschlagen können, hielt er für unzerstörbar.
Der Krieg, Bläuling, der war nix. Nirgendwo. Da magst du noch so kaputt sein vorher, die Mahlsteine der Gewalt kriegen dich noch kleiner. Die Nacht kriecht auch tags in deine Gedanken, klebt rote Farbe an alles, was du anlangst. Wenn du den ersten Kameraden sterben siehst, kotzt du. Beim zweiten zitterst du nur noch. Den dritten hast du vergessen, kaum dass ihm eine Sprengfalle den Oberkörper aufgebrochen hat.
Aufbruch auch bei dir, Bläuling? Aufwerfen, Ausstülpen, Ausziehen, Wiedergeburt in Zeitlupe, schrecklich langsam, unerträglich spannend. Ich könnte aufstehen, hineingehen, ein Glas mit Eiswürfeln und Wasser füllen, einen Spritzer Zitronensaft dazu. Selbst die Neige könnte ich schon geleert und mich wieder in die verblassende Mittagshitze gelegt haben, du wärst immer noch gefangen. Als hätte ich nichts Besseres zu tun, bleibe ich aber, blinzle nicht, starre dir zu. Deine Anstrengung ist genug für uns beide.

Augenweide im Blauregen
himmelfarbener Tagtraumtaumler
zu Kostbarkeit erschliffener Saphir
Kein Gefängnis kann dich halten
und keine Hand.

Nun sitzt du da, Bläuling, pumpst Blut in Leib und Flügeladern. Erschöpft bist Du, stilles Entknittern nur, gemächliches Auffalten. Hielte ich mein Ohr an deinen Leib, was hörte ich? Ein Knistern wie von Flammen in sternkalter Wüste? Das dunkle Dröhnen explodierender Bomben am Stadtrand? Oder ein zufriedenes Summen, weil du deine harmlose Zukunft ahnst: Augenblicksblinken von Glück im Vorüberwehn.
Ich kehrte heim in Vaters Haus. Beendete die Schreinerlehre. Baute die Pergola. Vater war dagegen, wagte aber nicht die Konfrontation mit dem Fremden, das mich in meinen Blutjahren durchwuchert hatte. Gemeinsam setzten wir den Blauregen. Während die Pflanzen wuchsen, zerwelkte der Vater. Drei Jahre pflegte ich seinen Körper aus Spinnweb und Asche, als hätte ich nichts Besseres zu tun, dann legte ich ihn ins Grab neben die mir unbekannte Frau. Mir kondolierten Weggefährten des Vaters und am Ende ein Mann meines Alters, blauäugig, flachshaarig, blass, nervös. Ich wusste selbst nicht, was sagen. So schwiegen wir eine Weile vor dem Loch in der Erde. Als Mat seine Hand in meine legte, weinte ich das erste Mal seit Jahren.

gesellig wachsen die Maiglöckchen
wir verlassen die Umlaufbahn
das Herz eine heilende Wunde
Die Götter kannten einen,
Ikarus nannten sie ihn.

Man kann nicht 20 Jahre ungeschehen machen. Wie also findet man zurück? Tastend. Mat war vor allem: fad. Ungebrochener Lebenslauf, Jurist einer Mittelstandsbank, kein Privatleben. Der strahlende Halbgott entpuppte sich als Gipsfigur mit Rauschgoldbesatz. Mat war aber auch: neugierig. Wie ein Forscher kartografierte er meine Abgründe. Er unterschätzte den Preis einer Finsternis, meine Schattengeschichten erregten ihn. Mat war: hungrig. Gemeinsam feierten und tanzten wir, flogen mit Gleitschirmen, ritten durch Island, wanderten im Atlas, umsegelten Feuerland. Schließlich zog Mat zu mir, erst in ein eigenes Zimmer, bald in mein Bett. Mat war vieles, aber nicht: prüde.
Die Sonne hat die Wolken überwunden, und im Gegenlicht habe ich dich aus den Augen verloren. Als hätte ich nichts Besseres zu tun, suche ich dich. Das Gefängnis deiner Jugend hängt sturznah am Ast, doch du? Sitzt du noch im Blauregen, trocknest deine Flügel, freust dich auf den Jungfernflug? Wohin bist du gewandert? Da, eine blauschillernde Bewegung, aufwärts kletterst du, dem Locken des Lichtes folgend.

Sonne unter dem Horizont
verblassen die Sterne
du bist das Licht
Ich bin der Schatten,
den in die Welt du wirfst.

Die Triebe des Blauregens blockieren Wasserrohre, zerbrechen Dachziegel, verbiegen Gerüste. Hegt man ihn nicht, vernichtet der Blauregen, was ihn hält.
Nun ist Mat nicht mehr. Alle Abenteuer dieser Welt konnten seine Lebensgier nicht befrieden und – so sehr mich das schmerzt – auch ich nicht. Habe ich dieses Verlangen in ihn hingeschlagen damals, als wir Kinder waren? Oder wurzelte seine Adrenalinsucht tiefer? Feigling hieß er mich für meine Angst vor dem Absturz, Narr nannte ich ihn, diese Angst nicht zu kennen. Er lief ins Dunkel, zog nicht einmal die Tür hinter sich ins Schloss. Keine drei Stunden später erstickte er in einem schmierigen Club an seinem Erbrochenen.
Bläuling, ich neide dir die selbstvergessene Schwerelosigkeit. Den Tod, dem du entgegenflatterst, ahnst du nicht, nur die Freiheit einer sich dir öffnenden Welt. Flieg, Bläuling, fürchte nicht das Leben.
Wir werden gezeugt und geboren, wir wachsen auf und heran, wir lernen sprechen, wir krabbeln und gehen, wir springen und rennen und tanzen, wir fallen hin und stehen wieder auf, bis wir, als hätten wir nichts Besseres zu tun, für immer liegen bleiben und verstummen.

ich stürze aus dem Zenit
Bläuling reitet den Wind
Risse durchziehen mein Haus
In der Dämmerung
brechen die Knospen auf.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
mit Erkenntnisgewinn.
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