11 | Der Fremde | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

11 | Der Fremde

Yelda
November 8, 2010

In den folgenden Tagen verblasste der Schmerz. Remde saß bei mir und beantwortete viele meiner Fragen, erklärte mir viel über das alltägliche Leben der Menschen, über sein Leben, über seine verlorene Schwester, deren Namen er mir gegeben hatte.
Ich genoss seine Gegenwart, wenngleich ich spürte, dass eine Distanz zwischen uns war, die nichts überbrücken würde. Besonders klar wurde mir das in den Momenten, da Mandu ihn fortschickte, um mich zu lehren. Remde war begierig zu erfahren, was ich lernen sollte, doch ich konnte es ihm nicht zufriedenstellend beschreiben.
Aber wie soll man beschreiben, was unbeschreibbar ist? Mandu lehrte mich vor allem, nichts zu tun, meinen Atem fließen zu lassen, die Welt wahrzunehmen, aber nicht versuchen, sie zu erreichen.
„Es würde dir ohnehin von hier aus nicht gelingen.“
„Warum ist deine Insel anders?“
„Die Insel ist ein Anker in der Welt, der sich selbst schützt. Hier fließen alle Kräfte anders, auch Raum und Zeit sind anders als außerhalb. Wenn hier Tage vergehen, dann vergehen an Land Wochen, manchmal nur Momente. Die Insel steht außerhalb der Regeln.“
„Wie ich?“
„Wie du.“
„Gilt dann auch für mich, dass ich von der Welt abgegrenzt bin?“
„Natürlich. Du kannst nicht erreichen, was nicht da ist.“
Und obwohl Mandu sicher geklungen hatte, musste ich es versuchen, griff mit meinen Gedanken nach allem, was da war. Und spürte doch nur mich.

Das beeindruckendste in diesen Tagen war sicherlich der Hunger. Bis ich begriffen hatte, dass dieses neue Gefühl, das unter dem Schmerz lag, keine emotionale Leere war, untersuchte ich das jeden Tag stärker werdende Bedürfnis. Überhaupt hatte ich nie Bedürfnisse gekannt, weder Kälte noch Wärme gespürt. Meine vorige Existenz erschien mir angesichts all ihrer Taubheit für mich selbst immer weniger wie ein Leben, das zu führen sich lohnte. Ich pries Mandu in Gedanken dafür, dass sie mir die Möglichkeit gegeben hatte, sterblich zu werden.
Ich entdeckte, dass Mandus Quellle nicht nur den Durst löschte, sondern auch den Hunger stillte. Ich entdeckte aber auch, dass die roten Früchte an den Bäumen essbar waren, und ich genoss es, die Kugeln aufzubrechen und in ihrem Inneren einen Schatz aus geronnenen roten Wassertropfen zu finden, die, nahm man sie in den Mund, sauer und gleichzeitig süß waren, und kaute man sie, unter den Zähnen aufplatzten und den Mund mit ihrem Saft füllten. Sie stillten den Hunger und den Durst, und weckten gleichzeitig Lust, mehr zu essen, noch mehr, bis meine Hände klebten und rötlich schimmerten.

„Was hast du heute gelernt?“, fragte Remde, als er mich am Abend besuchte. Er hatte es sich angewöhnt, auf der Insel zu schlafen und erst nach Sonnenaufgang aufs Festland zurückzukehren. Mandu schien nichts dagegen zu haben, ganz im Gegenteil hatte sie es sogar vorgeschlagen. Es würde mir gut tun, sagte sie, jemanden zu haben, der mir meine unzähligen Fragen beantworten würde.
„Ich habe gelernt, zu hören.“
„Konntest du denn nicht schon hören?“
„Ich habe Laute wahrgenommen, aber ich habe nicht gehört. Mandu hat es so erklärt, und ich weiß nicht, wie ich es besser sagen könnte.“
„Du hast nicht gelauscht?“
„Wenn das heißt, dass ich nicht versucht habe, zu verstehen, was ich höre, dann habe ich wohl zu lauschen gelernt heute.“
„Und was hast du erlauscht?“
„Ein wehendes Blatt und eine Welle, die sich über den See bewegt.“
Remde sah nicht aus, als sei er beeindruckt. Ich hatte das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen. „Es war nicht leicht“, fügte ich hinzu.
„Gerade, wo Wellen auf dem See so selten sind.“
„Sind sie nicht.“ Ich war verwirrt. „Soll ich dir eine zeigen? Wir könnten ihr gemeinsam lauschen. Lauschen ist ein schönes Wort.“
„Nein, Yelda, ich habe nur einen Scherz gemacht. Und ja, es ist ein schönes Wort.“
Ich dachte, er wollte noch etwas hinzufügen, darum schwieg ich und sah ihn an. Sein Blick ging an mir vorbei zwischen en Bäumen hindurch. Er sah das Dorf vor sich, das wusste ich. Als er eine Weile lang gestarrt hatten, sagte ich: „Was ist geschehen?“
„Was sollte geschehen sein?“ Doch er sagte nicht, was er eigentlich sagen wollte.
„Remde, ich habe heute gelernt, zu lauschen, auf das zu hören, was ist und was nicht ist. Und selbst wenn Mandu meint, dass ich noch viel lernen müsste, so merke ich doch auch, wenn manches, das gesagt werden müsste, nicht gesagt wird. Ich spüre die Pausen, das Denken.“ Ich nahm seine Hand. „Du denkst so laut, dass ich es fast hören kann.“ Ich lächelte ihn an.
„Du hast ja recht. Ich muss mit Mandu sprechen.“
„Warum sprichst du nicht mit mir darüber.“
„Weil du nicht weißt, was zu tun ist.“
„Das kannst du gar nicht wissen.“ Und obwohl ich wusste, dass er recht hatte, hatte mich die Bestimmtheit, mit der er meine Unwissenheit ansprach, doch getroffen.
„Yelda, du weißt immer noch kaum etwas über dich oder die Welt, das ist kein Geheimnis. Mandu dagegen beobachtet diese Welt schon länger als ich überhaupt lebe. Sie hat mehr Antworten als du und ich zusammen.“
„Dann geh doch und frag sie.“
„Ich denke, du solltest mitkommen.“
„Obwohl ich nicht helfen kann?“
„Ach Yelda, ich wollte dich nicht verletzen. Vergib mir. Was ich mit Mandu zu besprechen habe, könnte dich betreffen, womöglich könnte es dich sogar gefährden. Darum solltest du dabei sein, wenn ich Mandu um Rat frage.“
Nicht vollständig überzeugt nickte ich. „Dann sollten wir sie wohl gemeinsam suchen. So groß ist die Insel nicht."

Wir fanden Mandu an ihrer Quelle.
„Ein Fremder war im Dorf.“
„Ein Fremder?“
„Ja. Bukon hat sich ihm gleich zu Füßen geworfen, weil dieser Fremde kunstvoll gefertigte Kleidung trug.“
„War es ein Hoher?“
„Erinnere dich, Yelda: die Götter und ihre Kinder kämen nie zu Bukon.“
„Was wollte er?“
„Er hat jemanden gesucht. Er hat gefragt, ob wir schon einmal Besuch hatten.“
„Aber natürlich hattet ihr. Ich bin zu Euch gekommen.“
„Was hat Bukon gesagt?“
„Nichts. Ich habe statt seiner gesprochen, da er immer noch auf dem Boden lag und vor Ehrfurcht nicht sprechen konnte. Ich habe ihm gesagt, dass niemand im Dorf sei, der nicht dorthin gehöre.“
„Warum hast du ihm nicht gesagt, dass ich hier bin?“
„Weil es ihn nichts angeht.“
„Aber er sucht nach mir!“
„Das können wir nicht wissen.“
„Außerdem bist du hier sicher.“
„Aber wenn er nun weggeht?“
„Was, wenn er es nicht tut?“
„Er ist nicht gegangen. Er hat darum gebeten, außerhalb des Dorfes zu übernachten, damit er morgen weitersuchen kann. Er rechnet damit, dass jemand in der Nacht zu ihm kommt und Yelda verrät.“
„Bukon hat ihn gewähren lassen?“
„Er hat ihn sogar eingeladen, in seiner Hütte zu übernachten. Natürlich wird er von Yelda erzählen.“
„Aber warum auch nicht? Warum soll der Fremde nicht von mir erfahren?“
„Ich denke, dass Remdes Skepsis nicht unangebracht ist.“
„Was soll schon passieren?“
„Er könnte dich mitnehmen.“
„Er könnte dich verletzen.“
„Er könnte die verletzen, die … dir nahestehen.“
„Erinnere dich an deine Vision, Yelda. An das Dunkel, das dir folgte. Wie sicher kannst du sein, dass nicht dieser Mann das Dunkel ist, das du fürchtest?“
„Wie kann ich denn sicher sein, was dieser Mann ist, wenn er nicht bleiben soll, und ich keine Möglichkeit habe, ihn zu befragen?“
„Vertrau mir.“
„Wie kann Vertrauen allein die Antworten ersetzen, die mir dieser Fremde vielleicht geben kann? Bukon mag nicht besonders geeignet dazu sein, Fremde und Götter zu unterscheiden, wenn er aber das Gefühl hat, dass der Fremde und ich irgendwie zusammen gehören, dann sollte ich …“
„Du gehörst nicht zu ihm!“ Remdes Stimme war überraschend laut. „Er gehört nicht hierher und du nicht zu ihm. Er muss verschwinden, er bringt Gefahr, verstehst du das nicht?“ Etwas ruhiger, aber noch mit bebender Stimme, fügte er hinzu: „Für das Dorf natürlich. Er birgt Gefahr für das Dorf.“
„Remde hat recht. Es gibt keinen Grund zu glauben, dass dieser Mann gute Nachrichten mit sich führt. Die Überlieferungen und deine Vision kündigen ein Dunkel an.“
„Ich soll die einzige Möglichkeit verstreichen lassen, mehr über mich herauszufinden?“
„Er wird ohnehin von dir erfahren. Dann wird er zu uns kommen. Hier wird er keine Macht über dich haben.“
„Ich soll warten?“
„Wir werden gemeinsam warten.“
„Wir warten.“

Die Dämmerung war so rot wie die Früchte von Mandus Baum. Ich sah in den Himmel und gab vor, den fernen Vögeln zu lauschen, die an der untergehenden Sonne vorbeizogen. Während Mandu und Remde sich leise unterhielten, dachte ich nach. Ich wusste, dass der Fremde Antworten auf meine Fragen hatte, die weder Remde noch Mandu mir jemals würden geben können. Selbst wenn die beiden behaupteten, dieser Mann habe nichts mit mir zu tun, wusste ich, dass sie beide nicht daran glaubten. Allein schon der Gedanke, dass er eine Gefahr für mich darstellen könnte, verriet sie. Hätte er nichts mit mir zu tun, wie sollte er mir schaden?
Nein, sagte ich mir, sie wollten mich einfach nur von ihm fernhalten. Sie wollten verhindern, dass ich die Insel verließ. Wie eine Spinne Beute in ihrem Netz hält, sollte mich die Insel aus irgendeinem Grund an Mandu binden. Sie mochte meine Kraft fürchten und den Schatten, den ich angeblich warf, doch warum lehrte sie mich dann nicht, meine Kraft wirklich zu kontrollieren statt sie nur zu vergessen?
In diesem Moment, dachte ich, erzählt Bukon dem Fremden von mir, und wäre ich dort, ich könnte sofort erfahren, wer ich bin. Und zum ersten Mal kamen mir auch Zweifel an Mandus Wissen über mich. Vielleicht war ich nicht die, von der diese Überlieferungen sprachen. Ich hatte nur vergessen, wer ich war, Mandu hatte keinen Beweis für ihre These außer meiner, wie sie es nannte, Vision.
Konnte es nicht doch nur ein Traum gewesen sein? Auch Träume fühlten sich mitunter so wirklich an. Und doch konnte ich mich dahingehend nicht belügen: es war kein Traum gewesen. Das Dunkel war gekommen und hatte Remde verschlungen; und Mandu, die mich sterblich gemacht hatte und sich weigerte, mich zu lehren, hatte mir versichert, ich trage die Verantwortung für den Schatten.
Ich betrachtete sie in der zunehmenden Dämmerung. Bei unserer ersten Begegnung war sie zornig gewesen und auch später hatte immer wieder Zorn in ihren Zügen gestanden, Boshaftigkeit, als sie mich aufforderte, aus ihrer Quelle zu trinken, Bosheit, als sie Remde fortgeschickt hatte, Spott, als sie vorgab, ich müsse erst lernen, zuzuhören. Mandu hielt mich zurück, sie sperrte mich ein, Mandu war die Spinne und die Insel ihr Netz. Ich wusste, was ich zu tun hatte.

„Ich werde gehen“, sagte ich laut, und sofort brachen Remde und Mandu ihr Gespräch ab.
„Das darfst du nicht!“ Remde sah mich an, und plötzlich fíel mir wieder ein, dass uns die Sorge umeinander verbunden hatte in meiner Vision, und ich wusste, dass Remde diese Liebe wirklich spürte, doch auch, wenn ich fähig zur Liebe gewesen wäre, ich hätte nicht bleiben können. Nicht einmal ihm zuliebe.
„Remde, ich muss gehen. Diese Gelegenheit bietet sich mir nicht wieder.“
„Du hast Mandu gehört. Er wird zu uns kommen.“
„Sie wird ihn fernhalten. Ich werde die Antworten, die ich brauche, nicht bekommen, wenn es nach Mandu geht.“
„Yelda! Wie kannst du so von Mandu sprechen? Sie hat dir nichts getan!“
Mandu, die bislang geschwiegen hatte, sagte ruhig: „Du kannst nicht gehen.“
„Ich kann, und du weißt es.“
„Versuche es, doch die Insel wird dich nicht gegen meinen Willen gehen lassen.“
„Also gibst du zu, dass du mich hier gefangen hältst?“
„Ich gebe zu, dich zu deinem eigenen und zum Schutz der Welt daran zu hindern, die Insel zu verlassen.“
„Du wirst mich nicht aufhalten können.“ Bis zu diesem Augenblick war ich dessen nicht sicher gewesen, doch das kurze Aufflackern von Zorn oder Angst in Mandus Gesicht gab mir die Bestätigung, die ich brauchte. „Du kannst mich gehen lassen oder ich werde wirklich Gewalt benutzen.“
„Du weißt nicht, worum du bittest, Kind. Es wird nicht nur dein Untergang sein, wenn du deine Kraft gegen mich richtest.“
„Aber du bist dir doch selbst nicht sicher, ob alles, was du mir über mich erzählt hast, stimmt.“
„Die Überlieferungen …“
„Es gibt keine Überlieferungen, die von mir sprechen. Ich bin – dank dir – ein lebendes Wesen. Wovon auch immer deine Geschichten handeln, sie betreffen mich nicht.“
„Es sind keine Geschichten!“
„Und deine Vision? Du sagtest, das Dunkel würde mich vernichten!“
„Diese Vision ist eine Möglichkeit. Und sie spricht keine wahreren Worte als Mandu. Vielleicht steht das Dunkel für die Zukunft, in die wir nicht sehen können. Vielleicht ist es das, was die Vision mir zeigen sollte: dass ich die Insel verlassen muss, um in eine Zukunft zu gelangen.“
„Vielleicht aber vernichtest du mich. Ist Dir das egal?“
„Nein, das ist es nicht, Remde. Ich verdanke dir viel, doch vielleicht wäre es besser gewesen, du hättest mich im Wald zurückgelassen.“
Ohne Mandu oder Remde die Möglichkeit zur Erwiderung zu geben, fügte ich hinzu: „Ich werde gehen. Haltet mich nicht auf.“
Dann drehte ich mich um und ging.
„Yelda!“
„Lass sie. Sie wird nicht weit kommen.“
Ich hörte Remdes Schritte hinter mir, dann spürte ich seine Hand an meinem Arm. Ich blieb stehen und wandte mich ihm zu.
„Remde, lass mich gehen.“
„Ich kann nicht.“
„Du musst.“
„Ich kann dich nicht gehen lassen.“
„Du willst mich nicht gehen lassen. Du musst es aber tun. Du kannst mich begleiten, wenn du willst, ich werde es dir nicht verbieten.“
„Sie wird es nicht zulassen.“
„Dann musst du bleiben. Ich kann nur mich gegen ihren Willen befreien.“
„Du musst das nicht tun.“
„Lass mich gehen.“ Ich schloss die Augen. „Ich will dich nicht verletzen.“
Remde sah überrascht aus, ließ aber tatsächlich meinen Arm los. „Bleib hier.“ Tränen füllten seine Augen. „Bitte.“
„Leb wohl.“ Ich drehte mich um und ließ ihn hinter mir, als ich weiterging. Ich kam nur wenige Schritte weit, als sich die Luft zu verdichten schien, an mir klebte wie Schweiß in heißen Nächten.
„Mandu“, rief ich, „lass auch du mich gehen.“
„Niemals!“ Ihre Stimme kam nicht mehr von der Quelle, sondern schien aus dem Boden selbst zu stammen.
„Du kannst mich nicht aufhalten!“
„Wie sicher bist du dir?“
Doch statt zu antworten, schloss ich die Augen. Ich suchte nach dem Strom aller Kraft, und fand nur mich. Nun würde sich zeigen, ob meine Vermutung richtig war. Ich konzentrierte meinen Geist auf mich selbst, versuchte zu erkennen, wie die Kraft, die von mir ausging, floss. Ich folgte den schimmernden Linien der Kraft, die mich umgaben wie ein Kokon, mich einschlossen, mir eine Form gaben, die nicht meine war. Denn das wurde mir plötzlich klar: was ich bislang für meine eigene Kraft gehalten hatte, gehörte nicht zu mir. Wie Mandu mich gelehrt hatte zu hören, sah ich nun, dass meine Kraft nicht rötlich und träge an mir herab und in den Boden floss, sondern dass unter dieser Schicht ein helleres Feld lag, dessen Streben nicht der Erde, sondern dem Himmel galt und das von Mandus Kokon gefesselt wurde. Ich fühlte der Kraft nach, wanderte mit dem Strom nach unten, unter meinen Füßen hinweg in den Boden, im Boden, der nur aus Ästen bestand in Richtung von Mandus Quelle und von dort in den eigentlichen Stamm des übergroßen Baumes, der die Insel tatsächlich war.
Ich hörte Mandus Stimme, und ich spürte, wie sich der Strom im Baum sich gegen mich wehrte, doch Mandu hatte mich zu lange unterschätzt, sie würde mich jetzt nicht mehr aufhalten können. Ich erinnerte mich an die erste Begegnung mit Mandus Schleier auf dem See, und daran, wie sie den Nebel gelichtet hatte. Damals hatte es mich davon abgelenkt, tiefer zu gehen, doch diesmal wusste ich, dass ich Mandu besiegen musste, um von ihr fortzukommen. Selbst wenn sie mir jetzt gestatten würde, zu gehen, würde ich doch nie von ihr frei sein.
Ich glaube, sie wusste, dass ich sie nicht schonen würde, hätte sie aufgegeben. Darum wehrte sie sich bis zuletzt mit aller ihr zur Verfügung stehenden Kraft. Doch ich ging weiter. Während ich in meinem Geist den Wurzeln des Baumes immer näher kam, löste sich die Klebrigkeit der Luft von mir, und ich konnte weitergehen. Ich musste nicht sehen, wohin ich ging, denn selbst mit geschlossenen Augen würde ich nun an mein Ziel kommen, wenn ich Mandu besiegte.
Und dann befand sich mein Geist an der rotglühenden Wurzel des Baumes und ich ließ meine Kraft fließen. Wie silberne Fäden umspannen sie das rote Wurzelwerk, das sich zunächst noch wehrte, doch je mehr Fäden ich auslegte, umso schwieriger wurde es für Mandu, sich gegen mich zu wehren. Und dann hatte meine Kraft sämtliches Rot überlagert. Wie in meiner Vision hatte sich ein silbernes Gleißen über die Wurzel gelegt und über den gesamten Stamm des Baumes bis hoch an die Krone. Und ich flüsterte: „Gib mich frei.“ Und ich war frei.

Ich stand am Ufer des Sees und sah auf die Hütten des Dorfs, die vom Mond beleuchtet waren. Dann drehte ich mich um und sah, dass es kein Mond war, sondern dass das Gleißen des Baums über den See strahlte, das Dorf, die Ebene und den Wald fahl leuchten ließ. Dann erlosch das Bild des Baumes, und nur einen Augenblick rollte ein Donnerschlag über das Wasser, dem ein machtvoller Windstoß folgte, der mich zwang, einen Schritt zurückzugehen.
Ich starrte noch auf den jetzt dunklen See, als sich Schritte und leise Stimmen näherten. Ich beachtete sie aber nicht, denn etwas auf dem See hatte meine Aufmerksamkeit erregt. Es war ein Körper, den die Wellen des aufgewühlten Wassers rasch näher trugen, bis er schließlich fast am Ufer lag. Ich ging zu ihm hin und beachtete das Wasser nicht, das kalt an meinen Beinen zog, sondern griff nach Remdes Körper, und versuchte ihn aus dem Wasser zu ziehen. Er war ohne Bewusstsein, doch er atmete.
„Hilfe!“ rief ich. „Helft mir, ihn herauszuziehen!“ Und tatsächlich näherte sich jemand und griff mit starken Händen nach Remdes Körper. Gemeinsam zogen wir ihn ans Ufer, wo wir ihn auf den Rücken legten. Teile seines Gesichts waren verbrannt, seine Kleidung hing nur noch in nassen Fetzen an seinem Körper. Ich fiel auf die Knie. Ich wusste, ich konnte ihn heilen, ich hatte die Hummel geheilt, ich würde auch Remde wieder unversehrt sein lassen.
Eine Stimme sagte: „Dafür ist keine Zeit.“
„Ich werde ihm helfen.“
„Wir haben keine Zeit. Er wird leben, doch wir müssen fort.“
Zum ersten Mal sah ich den Mann an, der neben mir stand und Remdes Körper mit mir getragen hatte. Er trug aufwendig gearbeitete, frühlingsgrüne Kleidung, und seine Augen leuchteten im selben Grün. „Yelda“, sagte er, „wir müssen fort. Wenn du diese Menschen retten willst, dann müssen wir fliehen, bevor das Dunkel uns alle vernichtet.“

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